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In A Gadda Da Vida

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Alexander hatte seine Ankündigung wahrgemacht. Das hörte Meta sofort. Von fern schon klang Musik herüber, Iron Butterfly. In A Gadda Da Vida. Fast fünfzig Jahre her. Kurz ertappte sich Meta bei dem Gedanken, dass das eigentlich ihre Platte war, die sie Alexander damals bei ihrem Auszug zurückgelassen hatte. Ihr gefiel der Gedanke von Großzügigkeit, doch je länger sie sich zu erinnern versuchte, umso unwahrscheinlicher kam ihr das vor. Es waren keine großzügigen Zeiten gewesen, damals. Ganz sicher nicht bei Platten.

Der Friedhof erinnerte sie an die Weiden in Mallorca im Spätsommer – verdorrtes Gras, braune, geknickte Halme, staubtrockene Erde. Ihr Gefühl sagte ihr, dass die Musik bald zu Ende sein würde. Sie lief zwischen den Gräbern hindurch in Richtung Kapelle. Mit den letzten Gitarrenriffs erreichte sie das kleine Gebäude, als Letzte, wie es aussah. In dem Raum war kein Stuhl unbesetzt, gut vierzig Menschen, schätzte sie. Vorn, neben Vasen voll weißer Callas, der Sarg, schwarzes Holz. Sie lehnte sich an die Rückwand der Kapelle, nicht weit entfernt von einem Mann unbestimmbaren Alters, leicht gebeugt, große Tränensäcke unter den Augen, der Kopf rasiert, grau schimmernd, fast ein bisschen räudig. Was es nur war, dass sie glauben ließ, sie kenne ihn?

Der Geistliche hatte mit seiner Andacht begonnen. Als er zum zweiten Mal ein »Liebe Freunde von Alexander« einschob, hörte Meta nicht mehr hin. Es war so schwül in der Kapelle, dass sie fürchtete, das Ende der Andacht nicht zu überstehen. Der Mann mit den Tränensäcken kam ein paar Schritte näher, griff hinter einen Vorhang und holte einen kleinen Hocker hervor, den er neben sie stellte. Die Blöße würde sie sich nicht geben.

»Danke, es geht.« Sie schüttelte den Kopf.

Jetzt zwinkerte er ihr zu, »vielleicht später«.

Metas Blick wanderte durch die Kapelle, graue Köpfe in den vorderen Reihen, nur die Frauen mit eingefärbtem Blond, Rot, vermutlich Romy, oder Schwarz, wer immer das sein mochte. Den meisten Männern war kaum mehr geblieben als ein schmaler Kranz von Haaren. Einige hatten auch den noch abrasiert. Aus einem unerfindlichen Grund musste sie an Beete denken, als sie die Köpfe vor sich sah, Beete im Winter. Die meisten Männer hatten ihr Jackett ausgezogen, ihre Hemden klebten an den gebeugten Rücken. In der ersten Reihe erkannte sie Thomas und Romy, die Oberkörper voneinander weggebogen. Wenn es mit den beiden so lange gut gegangen war, der Gedanke kam ihr, hätte es eigentlich auch noch bis zum Ende gut gehen können.

Vorn am Gang, der von der offenstehenden Pforte der Kapelle geradewegs zum Sarg führte, sah Meta eine junge Frau sitzen. Die Einzige, die deutlich unter fünfzig war in den vorderen Reihen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern, über den nackten Schultern ein kurzes, transparentes Cape aus Gaze, das wohl weniger ihre nackten Schultern in der Kapelle verdecken als vielmehr ihre auffällig weiße Haut vor der Sonne schützen sollte. Die Haare waren kurz und weißblond. Chloe, vermutete sie, Alexanders Tochter.

Plötzlich spürte sie den Blick des Mannes neben ihr, so als belauere er sie. Er zeigte auf den Hocker, wieder das Zwinkern, aber sie schüttelte den Kopf.

Sie suchte ihre Brille und setzte sie auf. In der vordersten Reihe erkannte sie Frank. Und unversehens war sie froh, hier zu sein, mit all den anderen. Sie, die immer einen Bogen um Beerdigungen machte.

Sie spürte, wie die Hand des Mannes ihren Arm hielt, als sie langsam auf den Hocker sank. »Die Hitze«, murmelte sie, »das geht gleich vorbei.« Und wieder dieses Gefühl, dass er in ihrem Leben schon einmal eine Rolle gespielt hatte. Als sie aufblickte, war er nicht mehr da. Als wollte er verschwunden sein, bevor sie sich erinnerte.

Viel Zeit, um sich zu erholen, blieb Meta nicht, genau fünf vor zwölf war die Andacht zu Ende, die Trauergäste erhoben sich. Sechs Männer gingen nach vorn, schulterten den Sarg, koordinierten mit ein paar Tripplern ihre Schritte und verließen die Kapelle leicht schwankend durch den Mittelgang.

Frank war einer der Träger. Die anderen waren wesentlich jünger – Schüler von Alexander, vermutete sie. Franks kahler Kopf glänzte, sein Gesicht war schweißüberströmt. Oder waren es Tränen? Er nickte, als er auf ihrer Höhe war. Sie lächelte zurück.

Als Erste folgte das Mädchen mit dem Gaze-Cape dem Sarg. Kaum war sie aus der Kapelle getreten, spannte sie einen kleinen Schirm gegen die Sonne auf. Meta wartete, während die Trauernden blinzelnd ins Freie strömten. Als Romy und Thomas an ihr vorbeikamen, gesellte sie sich zu ihnen, drückte beiden die Hand, woraufhin Romy sie zwischen sich und Thomas zog.

Kurz bevor sie die Kapelle verließ, drehte sich Meta nach dem Mann um, der ihr den Hocker angeboten hatte, doch er blieb verschwunden. Nur der Hocker stand verlassen an der Wand, wie zum Beweis, dass Meta nicht geträumt hatte.


Den Anzug, das war mir klar, als wir mit dem Sarg aus dem schützenden Dunkel der Kapelle in die Sonne traten, den Anzug konnte ich vergessen. Meine rechte Schulter, auf der das gesamte Gewicht des Sargs zu ruhen schien, schmerzte höllisch, der Schmerz zog schon ins Rückgrat. Schweißgebadet war ich, der Verzweiflung nahe. Sicher war ich der Älteste unter den Sargträgern. Aber ich wollte ihn mittragen. Um etwas gut zu machen, eine Schuld abzutragen. Abtragen, das passte. Ich kam mir bestraft vor. Mein Fahrrad gestohlen, jetzt würde auch noch mein Lieblingsanzug dran glauben, schlank geschnitten, ein Ansatz von Keitel in Reservoir Dogs. Eine Reinigung würde auch nicht mehr viel retten.

Hinter uns ging Chloe mit ihrem Sonnenschirmchen. Gesehen hatte ich sie heute zum ersten Mal. Ich musste mich zwingen, mich nicht umzudrehen, was ohnehin unmöglich war mit dem Sarg auf der Schulter. Stolpern wäre das Letzte. Chrissie hatte erzählt, wie sie bei ihr aufgetaucht war. Alexander hatte nur selten von ihr gesprochen, manchmal sogar den Eindruck erweckt, er sei enttäuscht von ihr. Wenn ich zur Seite sah, konnte ich immerhin ihren Schatten mit dem bei jedem Schritt wippenden Schirmchen sehen.

Über dem ausgehobenen Grab stand ein schmales Gerüst, auf dem wir, mit Hilfe mehrerer besorgt blickender, wohl zum Friedhofspersonal zählender Sargträger, den Sarg absetzten. Mein Atem ging schwer, die Sonne stach mir in den Schädel. Das Fahrrad war so gut wie neu gewesen, custom made. Wahrscheinlich war die Haustür nicht ins Schloss gefallen. Nur nicht umkippen, das käme schlecht, jetzt zu Alexander in die Grube fallen. Ich straffte mich, stützte mich kurz am Sarg ab, trat dann mit den anderen zurück und reihte mich in der vordersten Reihe der Trauernden ein. Das Friedhofspersonal zog dicke Taue unter dem Sarg hindurch und seilte ihn hinab in die Grube.

Ich war wirklich nicht mehr ganz bei mir. Die Sonne zerkochte mir den Kopf. Aber mag sein, dass es weniger die Sonne war als eher die plötzliche Entlastung, dass nun all das mit Alexander ein Ende hatte, die Besuche, die letzten Tage, sein Sterben, die Ungewissheit, bis die Leiche endlich freigegeben wurde. All das war jetzt mit ihm in die Grube gefahren.

Langsam ging es mir besser, deutlich besser. Crêpe de Chine, dachte ich, als ich Chloe auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes stehen sah, vielleicht noch Crêpe de Georgette, unglaublich, ich spürte diesen Teufelstanz des Blutes zwischen den Beinen, dass mir ein bisschen angst wurde, dass jemand etwas merken könnte. Aber sicher ging es den anderen Männern genauso. Ich blickte zur Seite, sah in die glasigen Augen eines vielleicht Vierzigjährigen, vermutlich ein ehemaliger Schüler von Alexander, und wusste, dass ich mit meiner Vermutung so falsch nicht lag.

Chloe war an das offene Grab getreten, hatte sich leicht nach vorn gebeugt, um die Schaufel zu greifen. Der Stoff des Kleides, Crêpe de Chine oder eben Crêpe de Georgette, floss wie Öl um ihren Körper, jede Bewegung, jedes Muskelzucken bildete er ab, gab ihm zusätzlich Kontur. Als sie das rechte Bein leicht beugte, um an die Schaufel zu gelangen, bemerkte ich, wie ihre rechte Pobacke unter der Muskelanspannung leicht zitterte. Gebannt starrte ich auf ihren Hintern, die Trauernden waren in eine andächtige Stille verfallen. Ich suchte nach den Konturen ihres Slips, fand keine, bemerkte schließlich die kaum sich abzeichnende Kerbe. Es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht die Hand auszustrecken.

Crêpe de Chine, dachte ich, um mich zu beruhigen, Crêpe de Georgette, vielleicht.

Auf eine alberne Art macht mich das stolz, dass mir der Name des Stoffs einfiel, wenngleich nicht zweifelsfrei, aber immerhin. Im Büro vergaß ich bisweilen sogar den Namen meiner Assistentinnen. Diejenigen, die mich besser kannten, vertraten in dieser Sache übereinstimmend die Ansicht, dass das weniger Signal einer sich anschleichenden Demenz war, sondern eher Zeichen meines vollständigen Desinteresses an der Person. Manch einer im Verlag war, so hörte ich, auch dankbar, wenn ich mich nicht an seinen Namen erinnerte.

Ich spürte, wie der durchgeschwitzte Stoff an meinem Körper klebte, als Chloe die Erde auf den Sarg warf, sich aufrichtete, zur Seite trat und sich neben das offene Grab stellte, wo einer der Friedhofsmitarbeiter ihr Sonnenschirmchen in die Erde gesteckt hatte. Vielleicht, um ihr zu signalisieren, wo sie zu stehen habe, war der Sarg erst einmal in der Erde.

»Mach du den Anfang«, wisperte mir jemand ins Ohr. Ich kniff kurz die Augen zusammen, trat vor und nahm die Schaufel. Mit auffallend hohlem Ton landete die Erde auf dem Sarg, ich hatte wohl einen festen Klumpen erwischt. Ich ging zu Chloe, die mich mit aufgespanntem Schirm und kühlen Augen musterte, gab ihr die Hand und kondolierte.

Doris hatte gezögert, sich in die Schlange der Kondolierenden einzureihen, bis sie Romy entdeckte und sich zu ihr gesellte.

»Entsetzlich«, sagte Romy unvermittelt, »dieses Ausfransen am Ende eines Lebens.«

Doris schwieg, unsicher, ob sie Alexanders Wochen dauerndes Ende meinte oder ihre Trennung von Thomas.

»Wenigstens liegen wir im Trend, die Scheidungen älterer Ehepaare nehmen sprunghaft zu. Habe ich vorgestern noch in der Zeitung gelesen.« Romy lachte trocken. »Was nicht drin stand, war, was man dabei durchmacht. Oft bin ich völlig glücklich, ebenso oft habe ich vor allem eins – Angst. Ich wäre froh, wenn es anders gekommen wäre. Aber es gibt keinen Weg zurück.« Sie starrte auf das trockene Gras unter ihren Füßen, während sich die Menschenschlange langsam in Richtung Grab bewegte und sie dem Schirmchen näher kamen. »Aber was beklage ich mich.«

Sie sah Doris an. »Wie geht es dir?«

»Es geht.« Doris betete, dass Romy nicht auf Jens zu sprechen käme.

Was nicht geschah. Dafür legte Romy ihr den Arm um die Schultern und sagte: »Wir halten durch.« Was Doris mit einem Nicken quittierte.

Sie kondolierten Chloe. Doris bemerkte, wie Romy ihre Hand ein wenig länger als nötig hielt und ihr mit dem Handrücken über die Wange fuhr, was Chloe, ohne Überraschung zu zeigen, geschehen ließ.

Als sie sich umschauten, sah Doris Chrissie winken. Sie stand mit Frank und einigen anderen im Schatten einer riesigen Rosskastanie, deren Blätter in der Hitze und Trockenheit begannen, sich rotbraun zu färben. Träge fielen einzelne Blätter aus dem Laubdach.

Als sie mit Romy näher trat, schob Thomas sich unauffällig in den Hintergrund. Einige andere hatten sich auch zu der Gruppe gesellt, Freunde von früher, Gesichter, die Doris erst erkannte, als die dazugehörigen Namen fielen. Dann ging es reihum mit den Umarmungen. Meta hielt Frank lange im Arm. Beide, fand Doris, wirkten erleichtert, mehr noch als alle anderen.

Ganz anders, als Frank Chrissie umarmte. Er schaukelte sie glücklich in seinen Armen, der Schmerz von damals war fraglos vergessen. Als Doris sie so sah, fiel ihr auch wieder ein, dass beide damals miteinander verheiratet gewesen waren, bevor irgendein Liebhaber, den niemand je zu sehen bekommen hatte, dessen Existenz Chrissie aber auch nie geleugnet hatte, die Ehe beendete.

Auch wenn sie Alexander im letzten halben Jahr regelmäßig besucht hatten, waren sie sich doch nur selten über den Weg gelaufen. Keiner, und das überraschte Doris jetzt, wie sie so vor ihr standen, hatte je den Vorschlag gemacht, etwas gemeinsam zu unternehmen. Dazu hatten die Besuche bei Alexander offenbar zu schwer auf ihnen gelastet.

Immer mehr Trauernde suchten den Schatten und bildeten kleine Gruppen unter den Kastanien. Ein Forschen in alten Gesichtern setzte ein, die Suche nach dem, was geblieben war, irgendetwas, was die Erinnerung hätte wecken können, bisweilen tatsächlich ein lautstarkes Wiedererkennen.

Einige, die sie nicht kannten, sammelten sich ebenfalls unter den Bäumen. Freunde, wie Doris hörte, vor allem aber Alexanders Schüler. Sie hatte sich aus dem Reigen der Umarmungen gelöst und beobachtete die Trauernden, von denen die ersten den Friedhof verließen. Noch immer bewegte sich das Schirmchen über Chloes Kopf, während sie die letzten Hände schüttelte. Dann sah Doris, wie ein älterer Mann mit haarlosem Schädel in gebeugter Haltung auf Chloe zuging. Hatte Chloe auf ihn gewartet? Er hielt ihre Hand, sprach eindringlich auf sie ein, es schien, als ärgere sie sich über ihn, ihr Kinn vorgereckt. Sie entfernten sich ein paar Schritte vom Grab. Von der Kapelle her kam ein heller, tragender Gesang, von dem sie nicht wusste, ob er noch zu Alexanders oder schon zur nächsten Beerdigung gehörte.

Neben ihr waren Frank und Meta aufgetaucht, und Doris hörte gerade noch, wie Frank leise zu Meta sagte: »Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung«, und Meta wischte sich einen Träne von der Wange.

»Als ob ich das je vergessen könnte …«

»Von wem ist das?«, fragte Doris.

»Klopstock, Messias, die erste Zeile. Wie oft hat Alexander mir daraus vorgelesen. Deshalb Meta. Weil Klopstock seine Frau so nannte.«

»Und du«, wandte sich Doris an Frank, »… hast dir den Spruch heute Morgen noch schnell angelesen und auf einen passenden Moment gewartet, ihn loszuwerden. Habe ich Recht?« Sie sah Chrissie an, die neben Frank aufgetaucht war.

»Ein gutes Gedächtnis hatte er schon immer. Er hat eigentlich nie etwas vergessen.«

»Heißt: Ich bin nachtragend«, gab Frank zurück.

»Und wie geht es dir sonst so?«, wollte Doris wissen.

»Ich tue mich noch etwas schwer mit dem Älterwerden, bin da wohl nicht so lernfähig. Jedenfalls beschäftigt es mich Tag und Nacht. Es ist zum Kotzen.«

»Aber was man so hört, bist du auf deine alten Tage nochmal auf dem Sprung nach oben.«

Frank gab sich lässig, zu lässig, um überzeugend zu wirken.

»Das bedeutet nur Stress, und irgendein Hampelmann nimmt sich dann vermutlich meine Diss vor und schaut, wo ich abgeschrieben habe.« Er grinste.

Das hatte Thomas gehört. »Den Mut, abzuschreiben, hatten wir doch nicht. Wir hätten viel zu viel Angst gehabt, entdeckt zu werden.«

»Nee«, entrüstete sich Doris, »das war doch eher eine Frage der Ehre.«

Sie hatte das Grab nicht aus den Augen gelassen. Noch immer schien Chloe sich mit dem Mann zu streiten, hielt ihn am Arm fest, als wolle sie ihn nicht gehen lassen. Als er sich schließlich losmachte, rief sie ihm etwas nach, er machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste, die ihr zugleich verschwörerisch vorkam, sogar bedrohlich. Dabei entging ihr nicht, dass Frank und Chrissie die beiden ebenfalls beobachteten, angespannt dem Mann mit Blicken folgten, als dieser den Friedhof verließ. Chrissie ging sogar ein paar Schritte in seine Richtung und schien darauf zu warten, dass der Mann sie zur Kenntnis nahm. Was nicht geschah.

»Kennst du ihn?«, fragte sie Frank, aber der schien sie nicht gehört zu haben. Es dauerte einen Augenblick, dann fiel die Spannung von ihm ab.

»Chloe«, antwortete er, »ich habe Chloe angeschaut. Eine kleine Augenweide.«

Doris war klar, dass er log. Frank kannte den Mann. Chrissie hielt, als wolle sie mögliche Fragen im Keim ersticken, ihre Trauerkarte in die Höhe. »Sollen wir nicht mal gehen«, sagte sie in die Runde, »wir wollen uns doch noch in der Tanne treffen. Der obligate Leichenschmaus. Ich brauche zwingend was zu trinken.«

Doch keiner wollte der Erste sein, sie unterhielten sich leise, jeder hörte bei jedem zu. So blieben sie im Schutz der Bäume, obwohl die Hitze auch unter den Kastanien immer unerträglicher wurde, hörten den allmählich versiegenden Gesprächen zu und harrten aus, erwartungsvoll.

Bis Chloe plötzlich auftauchte. Doris spürte, dass es genau dieser Moment war, auf den sie gewartet hatten. Chloe kam ihnen durch die blendende Mittagssonne entgegen, unter ihrem Schirmchen lag ihr Gesicht im Schatten. Kleine Staubwolken stiegen bei jedem Schritt von ihren Schuhen auf, es war, als wüchsen ihr Flügel aus den schmalen Fesseln. Doris beschlich ein ungutes Gefühl, während sie Chloe mit Blicken verfolgte. Es sah so aus, als zöge sie – die Stellvertreterin Alexanders auf Erden – in die Schlacht. Vielleicht war es auch nur die Kraft der Jugend, die so faszinierte.

»Armer Alexander«, hörte Doris Meta sagen. Sie hatten einen Halbkreis gebildet, in dessen Zentrum Chloe jetzt ihren Schirm zuklappte. »Er wollte es so.«

Alle redeten durcheinander. »Erinnert euch mal an sein Gerede von der Selbstbestimmtheit des Individuums.« Nacheinander reichten sie Chloe noch einmal die Hand. Chrissie, die sie als Einzige etwas besser kannte, machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie, wobei Chloes Kopf fast vollständig in Chrissies grauer Mähne verschwand.

»Er konnte mit dem Alkohol nicht aufhören, wurde depressiv«, sagte Frank.. »Als die Ärzte ihm diese Diagnose stellten, war es vorbei mit ihm. Das war, was er gesucht hatte.« Doris bemerkte, wie Thomas Frank die Hand auf den Arm legte, um ihn am Weiterreden zu hindern.

Chloe, ihren Schirm über dem Arm, hörte zu, die blauen Augen und das weißblonde Haar leuchteten, als hätte die Sonne sie aufgeladen.

»Das hätte ihm gefallen«, sagte Doris, »vor allem, dass fünf vor zwölf alles vorbei war.«

Chloe nickte und sagte leise: »Ich danke euch«, was wohl, sagte sich Doris, hieße, dass sie auf den Kosten der Beerdigung sitzen bleiben würden. Frank hatte vorgeschlagen, dass Alexanders Freunde die Kosten der Beerdigung übernehmen sollten, jeder wie er konnte.

Schließlich machten sie sich auf den Weg zur Tanne. Chrissie hatte sich bei Frank und Doris untergehakt. »Ihr wisst ja, auf den Plateausohlen brauche ich immer Halt.«

»Sind das die Schuhe von damals?«

Chrissie nickte, und für einen Moment war Doris, als sähe sie die beiden in den Gassen einer italienischen Küstenstadt mit ihrem buckeligen Kopfsteinpflaster, angetrunken, Chrissie auf ihren Plateausohlen schwankend an Franks Seite.

Der Mitläufer

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