Читать книгу Der Mitläufer - Wolfgang Mock - Страница 7

Achtundsechziger und so

Оглавление

Das unnatürlich schwüle Hoch hing seit Tagen wie eine Glocke über der Republik, und ein Ende der Hitze war, glaubte man den Wetterpropheten, nicht abzusehen. Mal milchiger Himmel, mal ein, zwei Wolken, morgens vor allem Kondensstreifen. Am Tag über dreißig Grad, nachts kaum kühler.

Mit geschlossenen Augen blieb Meta im Bett liegen, der Vorhang hielt die Mittagssonne aus dem Zimmer. Nur am Rand fiel etwas Licht in das Halbdunkel. Benommen schob sie den Arm des Jungen von ihrem Bauch.

Die Menschen waren nicht zu halten bei diesem Wetter, holten alles aus den Tagen und Nächten raus. Sie sah ihnen dabei zu, es waren gute Nächte für sie, es wurde viel getrunken. Wer keinen Platz an einem Tisch fand, saß auf dem Bordstein oder einer Bierkiste. Wen der Alkohol lauter werden ließ, der wurde von den Gästen flüsternd zurechtgewiesen, um die Nachbarn, die hinter weit geöffneten Fenstern Schlaf suchten, nicht zu stören.

Abend für Abend besuchte Meta mit dem Fahrrad ihre drei Lokale. Sie liebte es, wenn die Hitze des Tages aus dem Asphalt aufstieg; ihr war dann, als könne sie fliegen. Vielleicht nicht bis zu den Sternen, aber doch bis zu den Warnleuchten oben auf den Pfeilern der Rheinbrücken.

Sie beobachtete ihre Kellnerinnen, die sich wie nachtaktive Echsen durch die Menschen schlängelten. Nur selten machte sie eine Bemerkung; es lief von selbst, nicht ohne Grund hatte sie in diesem Geschäft so lange überlebt. Und das besser als die meisten. Sie trank keinen Alkohol mehr, nur ab und zu rauchte sie mit Freunden ein wenig Gras. Espresso war die einzige Droge, die ihr geblieben war. Dafür machte sie jetzt regelmäßig Urlaub in der eigenen Sechs-Zimmer-Finca am Hang bei Selva. Vor Jahrzehnten hatte sie schon einmal am Fuß dieses Hangs gestanden und sich gedacht, es müsse schön sein, dort oben zu wohnen. Das war das Einzige, woran sie sich nach Wochen Alkohol und Sex auf Mallorca noch erinnern konnte. Daran und an Alexander, mit dem sie zusammen auf die Insel geflogen war und mit dem sie sich dauernd gestritten hatte.

Sie hörte das leise Atmen des Jungen neben sich. Bisweilen verlangte die Hitze der Nacht ihren Tribut. Daran hatte das Alter nichts geändert. Jetzt kam noch dazu, dass sie die vergangenen Tage vergessen wollte, die Stunden an Alexanders Totenbett, die Angst auf Franks Gesicht.

Sie hatte ihrem neuen DJ einen Gin Tonic hingestellt, dann noch einen und sich selbst Eiswürfel und Zitronenscheiben in ihren Sprudel getan, damit er aussah wie Gin Tonic. Aber er war nicht mehr so grün, wie sie vermutet hatte. In letzter Zeit vertat sie sich häufiger mal.

»Willst du mich betrunken manchen?«, fragte er.

»Nicht völlig.«

»Kannst du auch preiswerter haben.«

»Kostet mich ohnehin nichts hier.«

Er verstand, die Verhältnisse waren klar.

Er klappte seinen Laptop zu, im Osten wurde der Himmel bereits heller, sie schlossen ihre Fahrräder auf. Mitten auf der Brücke, über dem dunklen Fluss, hielt sie an und starrte nach unten. »Seltsam, nicht wahr?« Ein pulsierender Schimmer schien vom Fluss aufzusteigen.

Es war wirklich seltsam. Alexander hatte sie oft nachts abgeholt, wenn sie in einer der Kneipen auf der anderen Rheinseite gearbeitet hatte. Und immer verlangsamten sich ihre Schritte zur Mitte der Brücke hin. »Das ist der Fluss unserer Erinnerungen«, hatte Alexander gesagt, und seitdem musste sie an diesen Satz denken, wenn sie über die Brücke kam.

»Irgendwelche Spielregeln?«, wollte er wissen, als sie in ihrer Wohnung waren und er sich das durchgeschwitzte T-Shirt auszog.

»Warum fragst du?«

»Ich bin Grieche.«

Sie lachte. »Und ich über sechzig.«

»Unglaublich«, sagte er, als sie unter der Dusche standen.

Noch vor wenigen Jahren hatte sie die jungen Männer vor Anbruch des Morgens fortgeschickt, jetzt war es ihr egal, wenn sie ihren Körper und ihr Gesicht im Morgenlicht sahen. Sie brauchte ihre Gesellschaft.

Meta sah auf die Uhr: kurz nach zehn, es wurde Zeit. Mit Schwung zog sie die Vorhänge zur Seite. Geblendet von der Sonne, richtete sich der Junge auf und hielt sich die Hände vor die Augen.

»Ich muss los«, sagte Meta.

»So früh?«

»Eine Beerdigung.« Sie ging ins Bad.

Als sie zurückkam, war er so gut wie angezogen, lächelte sie an.

»Sehr schlimm?«

»Mein Mann«, sagte sie gedankenverloren. »Ist ewig her.«

Fast vierzig Jahre. Sie hatte sich von Alexander scheiden lassen, kurz nachdem sie aus der Wohngemeinschaft ausgezogen war und die Stadt verlassen hatte. Sie spürte noch heute, wie Doris und Frank sie zum Abschied umarmten. Gelitten hatte sie, gelitten wie ein Hund. Dabei war sie nur sechs Jahre mit Alexander verheiratet gewesen.

In den vergangenen Wochen war das alles wieder nah gewesen, diese gemeinsame Zeit mit Alexander und die Jahre in der Wohngemeinschaft. Sie hatten sich in seinen letzten Monaten um ihn gekümmert, weniger aus Sentimentalität, eher aus einer Selbstverständlichkeit heraus. Sie hatten alle mit ihm zusammengelebt.

»Tut mir leid, dass ich gefragt habe«, sagte der Junge, »ich verschwinde besser.«

»Für einen Saft ist Zeit.« Was sie nicht gesagt hätte, wenn sie nicht einen Stich, eine plötzliche Angst vor der Einsamkeit gespürt hätte. Die sie aber schnell unterdrückte. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und stellte sich vor die verspiegelte Tür. Die Sonne fiel auf ihren Körper, kein einziges Körperhaar, sie hatte diese dicken, dunklen Haare immer gehasst, ausgezupft und weggewachst, sobald eins auftauchte. Zweimal hatte sie sich ihre Brüste machen lassen, die Haut schien dort etwas glänzender und straffer als am Körper, aber das war auch alles, keine Narben.

Super, sagte sie sich, sah die kleine weiße Ecke hinter dem Spiegel hervorlugen und zog mit den Fingernägeln ein altes Bild hervor, mehr als postkartengroß. Jahre mussten vergangen sein, seit sie dies Bild zum letzten Mal in der Hand gehalten hatte. Es war eine Nachstellung des Frühstücks im Grünen von Manet. Frank und Alexander angezogen im Vordergrund, vor ihnen, im Zentrum und völlig nackt, Chrissie, die Augen fest auf den Betrachter gerichtet; im Hintergrund, in einem kleinen See, ebenfalls so gut wie nackt, sie selbst und Doris. Es stammte aus den ersten Monaten ihrer Zeit in der Wohngemeinschaft.

Vor Jahren noch hatte sie sich das Bild häufiger angesehen, eine eigenartige Kraft ging von ihm aus. Es zeigte einen Aufbruch und ein Ende zugleich. Frühling vielleicht. Doch wie sie jetzt so dastand in der Morgensonne und ihren gebräunten Körper im Spiegel betrachtete, überfiel sie das peinigende Gefühl von Herbst, von Vergänglichkeit. Aus und vorbei. Herbst eben. Sie wusste es nicht anders zu beschreiben. Alexander war tot. Der Erste von ihnen.

Als sie in die Küche kam, presste der Junge gerade den zweiten Saft. Sie sah sofort, dass er sich Alexanders Todesanzeige angesehen hatte, die auf dem Küchentisch lag. Sie setzte sich in ihrem Kostüm an den Tisch, spielte nachdenklich mit der schwarz geränderten Karte.

»Wir waren Studenten«, sagte sie und ärgerte sich, dass sie dem Jungen das erzählte.

»Achtundsechziger und so?«

»Ein bisschen später.«

»1977? Deutscher Herbst?«

Das hat er sich angelesen, dachte Meta und nickte zögernd.

Neugierig blickte er sie an. »Muss spannend gewesen sein, die Zeit damals. Was man so hört.«

»Wo hört man das denn?«

»Grundkurs Zeitgeschichte an der Uni. Ich will nicht als DJ enden.«

So begegnet man seiner eigenen Vergangenheit. Ihre Hand mit der Karte zitterte leicht. Plötzlich wollte sie ihn loswerden.

Bevor sie in ihren Mini stieg, klappte sie das Verdeck hoch. Ihre Haare würden völlig ruiniert sein, wenn sie am Friedhof ankam, dachte sie, aber sie brauchte Luft, ihr war eng um die Brust geworden. Wer wohl da sein würde, auf der Beerdigung? Alle, die zählten. Da war sie sich sicher. Eine plötzliche Aufregung ließ sie im warmen Fahrtwind frösteln.

Der Mitläufer

Подняться наверх