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Kapitel 1: Prolog

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Die Verhaftung

逮捕

Zeit des Frühlingsfests im 30. Jahr der Regierung des Kaisers Wanli (Anfang Februar 1602).

Die beiden Männer betraten vom dunklen Hof kommend das einstöckige Gebäude, gingen in einen gedämpft beleuchteten Raum und ließen sich einander gegenüber an einem flachen Tisch nieder. Ein Krug mit warmem Reiswein und zwei Becher standen bereit. Der Raum bestand vor allem aus Regalen, die mit dicht aneinandergereihten oder übereinandergestapelten Büchern und Dokumenten vollgestopft waren. Die Regale, ebenso wie die anderen Möbel, zwei Tische, Stühle und ein mit kunstvollen Schnitzereien verzierter offener Schrank, in dem eine Sammlung kostbarer Jadefiguren den Blick auf sich zog, waren aus rötlich-dunklem Rosenholz. An den Wänden hingen Rollbilder mit Kalligraphien und Landschaftsmalereien. Letztere zeigten steil emporragende und wolkenverhangene Berge, Wasserfälle, die von Bergwänden in einen See hinabstürzten, bizarr und knorrig geformte Bäume, wilde Felsformationen, winzige Menschen, die in den gewaltigen Naturszenen verloren wirkten, und Vögel, die am weiten Himmel davonflogen. Vor einem der holzvergitterten Fenster standen zwei große Keramikvasen mit blauen Drachen- und Wolkenmustern auf weißem Hintergrund. Die Männer nippten an ihren Trinkschalen. Der warme Wein tat ihnen gut, denn als sie den breiten Hof durchquert hatten, war ihnen ein eisig schneidender Wind entgegengeschlagen. Und der Ofen, der in einer Ecke stand, war erst kurz vorher von einem Diener angezündet worden. Es war darum noch kühl in dem Raum.

Der eine der beiden Männer hieß Li Zhuowu. Er wurde in diesem Jahr fünfundsiebzig Jahre alt und machte einen erschöpften und gebrechlichen Eindruck. Obwohl von großer Gestalt, wirkte er klein, so gebeugt und zusammengekauert hockte er vor seinem Becher. Sein ernstes, von einem bewegten Leben gezeichnetes Gesicht war aschfahl, der Kopf kahlgeschoren. Er sah hager aus, wie ein asketischer buddhistischer Mönch. Aber in seinen Augen konnte man noch das Feuer ahnen, das ihn einmal erfüllt und angetrieben haben musste. Der andere war etwas mehr als zehn Jahre jünger. Er hieß Jiao Ruohou, war von untersetzter Gestalt, mit einem glatten runden Gesicht, und hatte lange als Beamter im Personalministerium in der kaiserlichen Zentralregierung gearbeitet, bis er vor einem Jahr auf eigenen Wunsch in den Ruhestand getreten war. Das Haus, in dem sich die beiden Männer aufhielten, gehörte ihm. Es lag in Tongzhou, einer Stadt östlich der Hauptstadt, die das nördliche Ende des Kaiserkanals markierte.

„Geht es dir jetzt wirklich besser, Zhuowu?“ fragte Ruohou seinen Freund.

„Wie ich dir schon gesagt habe, ich fühle mich noch immer müde. Aber ich spüre, dass es besser wird. In der letzten Nacht habe ich zum ersten Mal seit langem gut schlafen können.“

Gestern war er am späten Nachmittag in Tongzhou angekommen, nachdem er mehrere Monate unterwegs gewesen war. Die Reise in den Norden im Winter erwies sich als äußerst strapaziös und schwierig. Doch er hatte keine andere Wahl gehabt.

„Du hast es hierher geschafft“, bemerkte Jiao Ruohou, „wir können davon ausgehen, dass du bei mir in Sicherheit bist. Die Behörden werden nicht erfahren, dass du dich hier versteckst.“

„Hoffen wir es“, erwiderte Li Zhuowu, „du weißt, in Macheng konnte ich nicht mehr bleiben, nachdem die Kreisbehörde dort herausgefunden hatte, wo ich mich die letzten Jahre verborgen gehalten habe. Sie standen kurz davor, mich zu verhaften. Es war wirklich knapp.“

„Darum ist es auch gut, dass du jetzt hier bist, auch wenn die Reise für dich sehr anstrengend war.“

„Manchmal habe ich geglaubt, dass ich es nicht schaffen würde.“

„Aber das hast du. Und den ganzen Weg über bist du nicht entdeckt worden.“

Li Zhuowu nickte.

„Bestimmt“, fuhr Jiao Ruohou fort, „vermutet dich keiner in der Nähe der Hauptstadt. Dass du dich direkt neben der Tigerhöhle eingenistet hast, darauf wird keiner der Zensoren kommen.“

„Da magst du Recht haben“, stimmte Li Zhuowu mit schwachem Lächeln zu.

Er war in seinem Leben immer wieder in Konflikt mit den Behörden geraten, doch er war noch nie im Gefängnis gewesen. Und das wollte er auch jetzt nicht. Der Gedanke, in einem schmutzigen dunklen Loch zu enden, gedemütigt und gequält von den Schergen des Zensorats, war für ihn unerträglich.

„Weißt du, Rouhou, wenn es mir unterwegs besonders schlecht ging und ich dachte, dass ich es nicht mehr nach Tongzhou schaffen würde, habe ich mir, um meine Angst und Verzweiflung zu überwinden, gesagt, dass es immer noch besser sein würde, in der Fremde zu sterben und irgendwo in der Wildnis zu verrotten und von Krähen gefressen zu werden, als in einem der Gefängnisse der kaiserlichen Behörden eingesperrt zu sein und dort zugrunde zu gehen.“

Jiao Ruohou betrachtete seinen Freund nachdenklich. Er spürte, wie deprimiert und wie müde vom Leben Li Zhouwu war. Er hat so viel verloren, dachte er, so viele Schicksalsschläge ertragen müssen, aber immer wieder gekämpft, ist immer wieder aufgestanden, hat sich nicht angepasst und ist sich selbst, trotz aller Anfeindungen und Schwierigkeiten, treu geblieben und hat sich nicht beugen lassen. Und jetzt ist nur noch wenig Lebenskraft in ihm. Das machte Jiao Ruohou traurig. Aber er nahm sich vor, seinem Freund so gut es ging dabei zu helfen, wieder Lebensmut zu gewinnen. Wenn er erst einmal einige Zeit hier bei mir gewesen ist, so hoffte er, wird es ihm besser gehen.

Vier Tage später wurde am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, heftig an das Tor von Jiao Ruohous Haus geklopft. Als ein Diener das Tor öffnete, wurde er von einem Soldaten unsanft zur Seite geschoben. In dem langen mit Stickereien versehenen roten Gewand, dem schwarzen Gürtel, der schwarzen Kappe und dem Krummschwert war dieser als Offizier der Garde in Brokatkleidern zu erkennen, die zur Geheimpolizei des Hofes gehörte. Er und seine mit Lanzen bewaffneten Männer drangen in das Anwesen ein.

„Wo ist Li Zhuowu?“ rief der Offizier in barschem Ton, als sie in einem größeren Hof angekommen waren.

Inzwischen waren mehrere Diener herbeigeeilt, auch Jiao Ruohou kam aus einem der angrenzenden Gebäude heraus, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte.

„Was ist los?“ fragte er den Offizier.

„Seid Ihr der Besitzer dieses Anwesens?“

„Der bin ich.“

„Wir haben gehört, dass Ihr einen gewissen Li Zhuowu beherbergt. Wir haben den Auftrag, ihn zu verhaften.“

In diesem Moment trat Li Zhuowu in den Hof, um zu sehen, was vor sich ging. Als Ruohou den Freund bemerkte, wurde er bleich vor Schreck und versuchte, diesem ein Zeichen zu geben, dass er sich entfernen sollte. Dem Offizier, der den Ankömmling ebenfalls erblickt hatte, blieb Ruohous Reaktion nicht verborgen.

„Das muss er sein“, rief er seinen Männern zu, während er auf Li Zhuowu zeigte, „ergreift ihn.“

Jiao Ruohou lief zu seinem Freund und stellte sich schützend vor ihn.

„Geht zur Seite“, befahl der Offizier, „von Euch wollen wir nichts. Unser Auftrag heißt, den Ketzer Li Zhuowu zu verhaften.“

Zwei der Gardisten schoben Jiao Ruohou zur Seite, die anderen packten Li Zhuowu, der sich widerstandslos festnehmen ließ. Dann wurde er abgeführt.

„Ich will mitkommen“, rief Jiao Ruohou dem Offizier hinterher.

„Das geht nicht“, erwidert dieser.

„Wo wird er hingebracht?“

Der Offizier antwortete nicht und verließ mit seinen Männern das Anwesen.

Jiao Ruohou stand, umgeben von den aufgeregten Dienern und Dienerinnen, ratlos im Hof. Er wollte nicht glauben, was gerade geschehen war. Woher wussten die Behörden, dass Zhuowu sich bei mir versteckt hält? fragte er sich. Er sah seine Angestellten mit strengem und prüfendem Blick an.

„Hat einer von euch meinen Freund Li Zhuowu verraten?“ fragte er mit grimmiger Stimme.

Alle schüttelten verängstigt den Kopf.

„Nein, Herr, das haben wir bestimmt nicht. Ihr habt uns doch befohlen, nichts darüber nach außen dringen zu lassen. Daran haben wir uns gehalten“, antwortete der Älteste unter ihnen, der schon seit drei Jahrzehnten im Haus der Familie Jiao beschäftigt war und dessen Loyalität außer Zweifel stand.

„Kannst du dich für alle, die hier arbeiten, verbürgen?“ wollte Jiao Ruohou wissen.

Der alte Diener sah seinen Herrn unsicher an.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen das getan haben soll .... Ich kenne sie doch alle …“, erwiderte er stotternd.

Doch am nächsten Tag erfuhr Jiao Ruohou, nachdem er von einer Besorgung in der Stadt nach Hause zurückgekehrt war, von einer Dienerin, dass ein jüngerer Diener für eine hohe Belohnung den Behörden den Aufenthaltsort von Li Zhuowu verraten hatte.

„Er hat es mir selbst heute Morgen erzählt, Herr, um damit vor mir zu prahlen und Eindruck zu machen“, sagte sie empört, „ich wollte Euch das gleich melden, aber Ihr wart nicht im Haus.“

Jiao Ruohou war außer sich und wollte den Verräter zur Rede stellen und bestrafen. Nachdem dem Diener aber klar geworden war, dass die Dienerin zu ihrem Herrn laufen würde, um diesen von seinem Verrat in Kenntnis zu setzen, hatte er umgehend das Anwesen verlassen und war verschwunden. Vergeblich versuchte Jiao Ruohou in den nächsten Tagen seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.

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