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Kapitel 3: Das Jahr 1552

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Wokou

倭寇

Einige Tage später bestieg Zhuowu im Hafen von Fuzhou am frühen Morgen das Schiff, das ihn in eineinhalb Tagen die Küste entlang nach Quanzhou bringen sollte. Es war eine große Dschunke mit stumpfem Heck, stumpfem Bug und vier Masten. Sie diente dem Transport von Waren zwischen Fuzhou und Quanzhou, nahm aber auch Passagiere auf. Von den wenigen Mitreisenden fiel Zhuowu ein gut gekleideter Mann auf, der etwas älter als er selbst sein mochte. Dieser beobachtete von Deck aus das Beladen des Schiffes und sprach zwischendurch mit dem Kapitän. Zhuowu vermutete, dass es sich um einen Kaufmann handelte. Nachdem alle Waren im Schiffsbauch verstaut worden waren, wurden die mächtigen Segel aus gelblichen Bambusmatten gesetzt. Das Boot verließ langsam den Hafen und fuhr dann, schnell Fahrt aufnehmend, in Richtung Süden immer in Sichtweite der zerklüfteten Küste. Das Wetter war angenehm, die Sonne schien von einem fast wolkenlosen blauen Himmel, und es blies ein nicht zu kräftiger Wind. Zhuowu beobachtete, auf die Reling gestützt, eine Zeitlang den nicht weit entfernten Küstenstreifen, die leuchtenden weißen Sandstrände und schmalen dunklen Felsbuchten, die sich im Hintergrund vom hellen Horizont abhebenden dunkelblauen Bergketten und die Wälder aus tiefgrünen Zypressen oder aus Banyanbäumen mit ihren unregelmäßig geformten Stämmen und weit ausladenden Ästen. Plötzlich wurde er von der Seite angesprochen.

„Ihr seid ein Akademiker. Habt Ihr am Provinzexamen teilgenommen?“

Zhuowu wandte sich überrascht dem Sprecher zu. Es war der gut gekleidete Herr, der ihm schon im Hafen aufgefallen war.

„Richtig“, erwiderte er knapp.

Eigentlich war er nicht abgeneigt, etwas Unterhaltung zu haben. Das würde die Reise verkürzen. Der Fremde war ausgesprochen gepflegt und hatte ein schönes Gesicht. Er wirkte selbstbewusst und entschlossen.

„Ich hoffe, Ihr seid erfolgreich gewesen ... Aber Ihr macht keinen deprimierten Eindruck. Dann darf ich wohl gratulieren.“

Zhuowu musste über diese Feststellung lachen.

„Und Ihr seid ein Kaufmann, nicht wahr?“

„Das ist richtig und war auch nicht schwer zu erraten. Schließlich habt Ihr im Hafen beobachtet, wie ich das Einladen der Waren überwacht habe. Ich gehöre zu einer Kaufmannsfamilie in Fuzhou. Mein Name ist Lang Hufeng.“

„Ich bin Li Zhuowu aus Jinjiang. Meine Vorfahren waren auch Kaufleute. Sie waren vor allem im Überseehandel aktiv.“

„Eine Kaufmannsfamilie Li aus Jinjiang ist mir nicht bekannt. Meine Familie ist schon seit vielen Generationen im Geschäft. Eigentlich kennen wir alle wichtigen Händlerfamilien der Küstenstädte von Fujian.“

„Wir hießen ursprünglich Lin.“

„Lin aus Jinjiang … Gehört Ihr etwa zu den Nachfahren des berühmten Lin Lü?“

„Genau.“

„Das ist ja wirklich interessant. Dann haben unsere Vorfahren miteinander Handel getrieben … Lin Lü war zu seiner Zeit einer der erfolgreichsten Kaufleute im ganzen Reich und einer der reichsten.“

Von dem Reichtum der Vorfahren profitierte Zhuowus Familie auch heute noch. Zwar war das große Vermögen im Laufe der Zeit beträchtlich zusammengeschmolzen. Aber es gab einige Ländereien und kleinere Werkstätten, die der Familie gehörten und die den Mitgliedern zwar keine Reichtümer einbrachten, aber dafür sorgten, dass sie ein auskömmliches, wenn auch bescheidenes Leben führen konnten. Auf dieser Grundlage war es Zhuowu möglich gewesen, sein Studium zu finanzieren.

„Wir sind keine Kaufleute mehr. Mein Vater ist Lehrer und mein Großvater hat als untergeordneter Kreisbeamter in Jinjiang gearbeitet“, erklärte Zhuowu.

„Und Ihr wollt jetzt auch Karriere im Staatsdienst machen.“

„Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Für die muss ich sorgen ...“

„Das hört sich nicht gerade überzeugt an.“

„Ich trage Verantwortung für sie.“

„Das klingt ehrenhaft, aber nicht unbedingt danach, als würdet Ihr im Staatsdienst Eure Bestimmung sehen.“

Zhuowu war irritiert. Er dachte, dass der Fremde sich ein bisschen zu sehr in seine Angelegenheiten einmischen würde. Tatsache war aber auch, dass er nun, da er eine eigene Familie hatte, Geld verdienen musste. Und darum hatte er an dem Examen in der Provinzhauptstadt teilgenommen.

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht“, antwortete Zhuowu etwas ungehalten.

„Oh, ich wollte Euch nicht verärgern“, beschwichtigte Herr Lang mit einem freundlichen Lächeln, „es ist eine dumme Angewohnheit von mir, andere Menschen vorschnell zu beurteilen. Natürlich weiß ich nichts über Euch und Ihr werdet schon wissen, was richtig und gut für Euch ist. So schätze ich Euch jedenfalls ein …“

Danach redeten sie über andere Dinge. Der Kaufmann war ein angenehmer Gesprächspartner. Er konnte lebendig Geschichten über seine Arbeit erzählen, denen Zhuowu interessiert zuhörte. In seinem Beruf kam Herr Lang viel herum und traf auf die merkwürdigsten Menschen. Außerdem verriet er Zhuowu, dass er einige konfuzianische Bücher gelesen hatte, und während des Gesprächs stellte er ihm Fragen dazu, die dieser gerne beantwortete. Zhuowu gefiel, dass der Kaufmann vielseitig interessiert war. Meist hatten die Mitglieder seines Standes kein Interesse an höherer Bildung. Die konfuzianischen Gelehrten blickten meist mit Verachtung auf sie herab, auch wenn sie noch so reich waren. Für die Konfuzianer gehörten Kaufleute zur untersten Stufe der Gesellschaft, so wie Schauspieler oder Prostituierte. Zhuowu hatte damit keine Probleme, nicht nur, weil seine Vorfahren selbst Kaufleute gewesen waren. Es widerstrebte ihm, Menschen nach ihrem gesellschaftlichen Stand oder ihrer angelesenen Bildung zu beurteilen. Und das Gespräch mit Herrn Lang fand er anregend und unterhaltsam. So verging die Zeit bis zum Abend wie im Flug. Als die kurze Dämmerung einsetzte, nahm das Boot Kurs auf die Küste und steuerte eine kleine geschützte Bucht an, in der es über Nacht vor Anker ging.

Alle mitreisenden Passagiere mussten die Nacht an Deck verbringen. Das war ungewohnt für Zhuowu. Er lag lange Zeit wach, betrachtete den tiefschwarzen von Sternen übersäten Himmel und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der an den Strand rollenden Wellen. Der tragische Tod von Anning ging ihm durch den Kopf und die wütende Reaktion des Wirts darauf. Das harte Examenssystem hatte schon immer viel Leid hervorgerufen. Die Vorbereitungen auf die Prüfungen waren mit einem großen Aufwand an Lernen verbunden. Und die Chancen zu bestehen, waren gering. Doch das war der einzige Weg, um im Staat Karriere zu machen und in der Gesellschaft zu Ansehen zu kommen. Darum strebte jeder junge Mann, der aus einer Familie kam, die es sich leisten konnte, danach, an ihnen teilzunehmen. Aber was bringt es einem wirklich, wenn man so viel nutzlosen Lernstoff in sich hineinstopfen und auswendig lernen muss? fragte sich Zhuowu. Man reproduziert ohne nachzudenken nur das, was einem andere, deren Gebeine seit Jahrhunderten verblichen sind, vorgekaut haben. Wo bleibt dabei das eigene Denken? Doch das war in den Amtstuben nicht gefragt. Er erinnerte sich an Erzählungen seines Großvaters, der nach dem Ausscheiden aus dem Dienst in Nan’an, östlich von Quanzhou lebte, und den er manchmal besuchte. Oft hatte dieser sich über engstirnige und anmaßende Vorgesetzte sowie die Dummheit und Gehässigkeit mancher Kollegen im Kreisamt beklagt. Die Bemerkung von Herrn Lang gab Zhuowu zu denken. Will ich wirklich den Rest meines Lebens in Amtsstuben zwischen verstaubten Akten verbringen und mich über arrogante und phantasielose Vorgesetzte und duckmäuserische Kollegen ärgern? fragte er sich. Soll das mein Leben sein? Aber dann dachte er an seine Frau und seine Kinder und sagte sich, dass er eigentlich keine andere Wahl hatte …

Bei Sonnenaufgang wurde die Fahrt am nächsten Morgen wieder fortgesetzt. Zhuowu hatte nur wenig Schlaf gefunden. Sein Gesprächspartner vom vorangehenden Tag, der Kaufmann Lang, hatte hingegen tief und fest geschlafen. Er machte einen ausgeruhten und frischen Eindruck.

„Herr Li, Ihr scheint nicht häufig auf einem Boot zu übernachten“, stellte Herr Lang lachend fest, als er den zerknitterten und übernächtigten Zhuowu sah.

Zhuowu streckte und schüttelte sich.

„Ich freue mich auf mein Bett zuhause“, seufzte er.

„Kommt, leistet mir Gesellschaft bei meinem Frühstück. Ich habe kalte Baozi mit Gemüsefüllung, die für uns beide reichen.“

Zhuowu sagte nicht nein, und Herr Lang teilte die aus Weizenmehl geformten und in Bambuskörben gedämpften Baozi unter ihnen auf. Während des Essens unterhielten sie sich angeregt. Auf einmal machte sich auf dem Boot Unruhe breit. Einige Matrosen zeigten nervös zum Horizont, an dem in der Ferne die Umrisse zweier Schiffe mit dunklen Segeln aufgetaucht waren. Sie näherten sich schnell.

„Wokou, japanische Piraten“, rief einer entsetzt.

Herr Lang machte ein ernstes Gesicht.

„Das hat uns noch gefehlt ... Piraten. Die treiben schon seit einiger Zeit verstärkt ihr Unwesen an der Küste. Aber in dieser Gegend sind sie bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Das kann unangenehm werden. Ich muss mit dem Kapitän sprechen.“

Er ließ Zhuowu zurück, der beunruhigt in Richtung Horizont blickte. Die zwei Schiffe kamen immer näher. Sie waren kleiner und wendiger als das Schiff, auf dem er sich befand, und darum schneller. Von den Wokou hatte Zhuowu gehört. Sie galten als grausam, überfielen Handelsschiffe und plünderten manchmal sogar Dörfer entlang der Küste. Die kaiserliche Regierung hatte darum die Küstenwache verstärken lassen. Der Kapitän gab den Befehl, Leuchtsignale in die Luft zu schießen, um die Küstenwache auf die gefährliche Situation aufmerksam zu machen. Von deren Schiffen war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Dann gab der Kapitän den Befehl die Küste anzusteuern.

Inzwischen war Herr Lang zu Zhuowu zurückgekehrt.

„Was sagt der Kapitän?“ erkundigte sich Zhuowu.

„Auf dem Meer können wir den Piraten nicht entkommen. Wir müssen an die Küste. Das ist unsere einzige Chance. Vielleicht können wir uns dort verstecken. Und hoffentlich hat die Küstenwache, die bei Putian stationiert ist, das Signal gesehen und kommt uns zu Hilfe.“

Das schwere Handelsschiff bewegte sich nur langsam auf die Küste zu und steuerte eine dunkle Felsenbucht an. Die Piratenschiffe schossen wie übermütige Delphine über die Wellen und kamen immer dichter heran. Bald konnte Zhuowu ihre Mannschaften erkennen. Es waren abenteuerliche Gestalten, die auf Deck standen und darauf warteten, entern zu können. Ihre von Wind und Wetter gegerbten dunklen Gesichter sahen verwegen aus. Sie waren mit Schwertern, die in der Sonne aufblitzten, und langen Lanzen bewaffnet. Einige trugen Rüstungen aus Leder und Helme mit hörnerförmigen Aufsätzen, die wie liegende Mondsicheln aussahen. Andere waren in einfache Stoffgewänder gekleidet. Manche von ihnen trugen nur Beinkleidung und zeigten ihren entblößten muskulösen Oberkörper. Je näher sie kamen, umso deutlicher konnte man die Gier in ihren Augen erkennen. Sie witterten reiche Beute. Bevor das Handelsschiff die Küste erreichen und in die kleine Bucht einfahren konnte, legte eines der Piratenschiffe längs an der Steuerbordseite an. Das andere schnitt ihm von der Backbordseite den Weg ab.

„Passagiere an das hintere Ende zum Heck“, rief der Kapitän.

Er und seine Matrosen hatten sich inzwischen bewaffnet. Zhuowu und Herr Lang folgten mit den anderen Passagieren dem Befehl des Kapitäns. Als die ersten Piraten mit lautem Geheul auf das Deck sprangen, entstand ein wildes Kampfgetümmel. Zhuowu hielt den Atem an. Er hatte Angst. Voller Sorge sah er Herrn Lang an.

„Verhalten wir uns ruhig“, versuchte der Kaufmann zu beschwichtigen, „vielleicht können die Matrosen die Angreifer vertreiben.“

Aber danach sah es nicht aus. Die kampferprobten Piraten, die in der Überzahl waren, streckten einen Matrosen nach dem anderen nieder. Schließlich blieben nur noch der Kapitän und vier seiner Männer übrig, die sich, weil der Kampf aussichtslos war, den Angreifern ergaben. Die Piraten aber hatten kein Erbarmen und töteten auch sie. Unter der kleinen Gruppe von Passagieren machte sich Panik breit. Einer der Piraten, ein hochgewachsener Mann in Lederrüstung mit einem Gesicht voller Narben und zwei wildfunkelnden Augen, offensichtlich der Anführer, gab Anweisungen, die Leichen der Schiffsmannschaft über Bord zu werfen. Zhuowu nahm verwundert zur Kenntnis, dass er kein Japanisch, sondern Chinesisch sprach, so dass er ihn verstehen konnte. Die Piraten waren also keine Japaner, sondern Chinesen. Einige von ihnen kletterten in den Laderaum, um die geladenen Waren zu überprüfen.

Der Anführer wandte sich den Passagieren zu, die verängstigt im Heck des Schiffes hockten. Zhuowu wollte sich seine Furcht nicht anmerken lassen. Auch Kaufmann Lang blieb äußerlich ruhig und blickte immer wieder zur nicht weit entfernten Küste. Neben ihm und Zhuowu gab es als weitere Passagiere noch fünf Männer unterschiedlichen Alters und drei jüngere Frauen, einfache Leute, die aber auch nicht mit Schonung rechnen durften. Die Piraten zerrten die vor Angst schreienden Frauen aus der Gruppe heraus, und unter dem lauten Gejohle der ganzen Bande wurden sie auf eines ihrer Schiffe unter Deck gebracht. Als die zwei Männer, zu denen die Frauen gehörten, ein lautes Klagegeschrei erhoben, wurden sie von Lanzen durchbohrt.

„Tötet auch die anderen und werft sie über Bord“, befahl der Anführer mit einer kurzen Handbewegung, „das wird heute ein Festessen für die Haie.“

In diesem Moment, den Tod deutlich Augen, ergriff Zhuowu eine panische Furcht. Sein Körper zitterte. Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht, dass sein Leben hier endete und sein Leichnam den Haien zum Fraß vorgeworfen wurde. Doch er war diesen brutalen und grausamen Verbrechern und ihrer Willkür ausgeliefert, für die ein Menschenleben nicht zählte. Zhuowu fühlte seine Ohnmacht und Hilflosigkeit. Er wollte schreien, schreien vor Todesangst und Verzweiflung. Aber dann, als sich zwei der Piraten, nachdem sie die drei anderen übriggebliebenen Passagiere getötet hatten, langsam mit gezogenen Schwertern auf ihn und Herrn Lang zubewegten, waren die Angst und die Verzweiflung mit einem Mal verschwunden. Es war die Gewissheit des Unabänderlichen, des Unvermeidbaren dieser Situation, die ihn in einen Zustand innerer Gleichgültigkeit versetzte. Was geschieht, das geschieht, sagte er sich, ich kann nichts dagegen tun, kann es nicht ändern und muss es akzeptieren. Sie werden mich töten. Zhuowu hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Er hatte sein Schicksal akzeptiert, und das gab ihm die innere Ruhe und Kraft, die ihn seinen Mördern mit ausdruckslosem Gesicht gegenübertreten ließ.

Da, auf einmal, hörte er die Stimme des Kaufmanns.

„Du machst einen Fehler, wenn du uns tötest“, rief Herr Lang an den Anführer gerichtet aus, „denn wir beide sind Söhne des reichen Kaufmanns Lang aus Fuzhou. Du kannst, wenn du uns verschonst, von ihm ein ordentliches Lösegeld verlangen. Unser Vater würde alles geben, um uns wieder frei zu bekommen. Er wird aber auch nicht zögern, uns zu rächen, wenn du uns umbringen lässt. Er hat an der ganzen Küste Verbindungen und Beziehungen. Er würde nicht ruhen, bis er dich erledigt hat ...“

Das war mutig. Zhuowu sah Herrn Lang überrascht an. Die zwei Piraten mit den gezückten Schwertern blieben einige Schritte vor ihm und dem Kaufmann stehen und warfen ihrem Anführer einen fragenden Blick zu.

„Woher weiß ich, dass du mich nicht anlügst“, knurrte der Anführer an den Kaufmann gerichtet.

„Nun, die Waren auf diesem Schiff gehören meiner Familie. Hier in meinem Gewand habe ich die Papiere dafür.“

Er zog mehrere Dokumente hervor und reichte sie seinem Gegenüber. Der nahm sie etwas unbeholfen in die Hand und wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Er kann nicht lesen, dachte Zhuowu.

„Alter Zhang, du kannst doch lesen. Komm her und schau dir das an“, rief der Anführer an einen der hinter ihm stehenden Männer gewandt.

Der alte Zhang, der mit seinem struppigen Bart und den zotteligen Haaren wie ein Bär aussah, trat hervor und studierte umständlich die Papiere. Es dauerte einige Zeit, bis er deren Inhalt verstanden hatte.

„Also hier steht … Es sind Waren vom Kaufmann Lang aus Fuzhou an Bord. Und sein Sohn, sein Name ist Hufeng, begleitet sie. Er soll sie nach Quanzhou bringen. Dort sollen sie verkauft werden“, erklärte der alte Zhang langsam.

„Nur ein Sohn?“

„Mehr steht hier nicht.“

Jetzt mischte sich Herr Lang ein.

„Mein jüngerer Bruder Zhuowu ist zum ersten Mal dabei. Er hat noch keine Erfahrung und begleitet mich, um das Handwerk des Kaufmanns zu erlernen. Er ist nicht autorisiert. Darum taucht sein Name in den Dokumenten nicht auf.“

Der Piratenanführer musterte Zhuowu prüfend. Wie gut, dass er für die Heimfahrt nicht das Gelehrtengewand angelegt hatte. Dann richtete der Anführer sich an seine Männer.

„Weiß jemand von euch etwas über eine Kaufmannsfamilie Lang aus Fuzhou? Ist sie wirklich so reich und mächtig?“

Ein drahtiger junger Mann mit entblößtem von Blut und Schmutz verschmierten Oberkörper trat selbstbewusst hervor. Er sah brutal aus und war ausgesprochen hässlich. Als er den Mund öffnete, konnte Zhuowu seine verfaulten schwärzlichen Zähne erkennen.

„Ich habe früher in Fuzhou gelebt und im Hafen gearbeitet. Ich kann nur sagen, die Familie ist reich und mächtig. Sie hat großen Einfluss an der Küste von Fujian. Wir sollten uns mit denen besser nicht anlegen.“

Der Anführer überlegte kurz und richtete den Blick auf die beiden Gefangenen.

„Gut, dann werden wir das so machen. Wir fahren nach Fuzhou und wollen sehen, was uns die beiden hier einbringen werden.“

Zhuowu und Herr Lang wurden auf eines der Piratenschiffe gebracht und in einen kleinen Raum unter Deck gesperrt. Der Raum war stickig und dunkel. Ein wenig Licht fiel durch zwei schmale Öffnungen herein.

„Das war knapp. Ich habe schon gedacht, es ist alles vorbei. Danke, dass Ihr mich gedeckt habt“, sagte Zhuowu aufatmend zu Herrn Lang, „sonst wäre ich jetzt auch tot wie die anderen.“

„Ich habe schon früher mit solchen Brüdern zu tun gehabt. Sie sind nur auf Beute aus. Man muss ihre Habgier ausnutzen. Und man darf sich von ihnen nicht einschüchtern lassen, auch wenn sie noch so grausam und gewalttätig sind.“

„Aber wie soll es weitergehen? Wird Euer Vater auch für mich ein Lösegeld zahlen? Und werden die Piraten uns wirklich freilassen?“

„Ich hoffe, dass es nicht so weit kommen muss. Vorhin ist mir ein schwaches Lichtsignal in den Bergen hinter der Felsenbucht aufgefallen. Von den Piraten hat es wohl keiner bemerkt. Es muss von einem Posten der Küstenwache stammen. Ich gehe davon aus, dass sie uns befreien wird.“

Zhuowu blickte Herrn Lang erstaunt an und bewunderte seinen Mut und seine Zuversicht. Etwas Hoffnung keimte nun auch in ihm auf. Von draußen war zu hören, wie die Piraten die Waren von dem Handelsschiff in die Laderäume ihrer Schiffe verluden. Dabei herrschte großer Lärm. Irgendwann fingen sie an zu grölen und laut zu lachen.

„Was ist da los?“ fragte Zhuowu.

„Sie trinken. Damit feiern sie den erfolgreichen Beutegang.“

„Sie betrinken sich, während sie verladen und noch hier vor der Küste ankern?“

„Das ist erst der Anfang. Wenn sie mit dem Verladen fertig sind, wird es erst richtig losgehen.“

„Das heißt, wir fahren heute nicht mehr nach Fuzhou?“

„Davon gehe ich aus. Heute werden sie feiern. Alkohol ist genug da. Ein Teil meiner Waren für Quanzhou besteht aus Wein und Schnaps. Leider sehr teuren, was diese Barbaren sicherlich nicht zu würdigen wissen. Aber sie sollen nur ordentlich zulangen und sich betrinken. Das wird ihre Aufmerksamkeit und Kampfkraft einschränken. Die Piraten scheinen sich sicher zu fühlen und keinen Angriff der Küstenwache zu befürchten. Ich glaube, dass sie neu in der Gegend sind und vielleicht nicht wissen, dass in Putian eine Abteilung der Küstenwache stationiert ist.“

„Ich hoffe, Ihr habt recht Herr Lang, und die Küstenwache kommt wirklich.“

Zhuowu war sich nicht so sicher. Aber Herr Lang sah überzeugt aus, so dass auch Zhuowu sich schließlich beruhigte.

Am späten Nachmittag waren alle Waren in den Piratenschiffen verstaut. Und wie Herr Lang vorausgesagt hatte, ging es jetzt mit dem Feiern erst richtig los. Zwischen dem Gegröle und Gelächter der Piraten waren immer wieder die verzweifelten Schreie von Frauen zu hören. Zhuowu sah den Kaufmann beunruhigt an.

„Ja, das gehört leider auch dazu. Sie fallen jetzt über die drei Frauen her.“

„Alle Piraten?“ fragte Zhuowu entsetzt.

„Sofern sie keine anderen Neigungen haben“, erwiderte Herr Lang mit bitterer Stimme.

Plötzlich jedoch fand das Grölen und Lachen ein abruptes Ende. Unverständliche aufgeregte Schreie und Rufe der Piraten waren zu hören. Über den Köpfen der beiden Gefangenen setzte ein wildes Getrappel ein. Hektisch wurde auf dem Deck hin und her gelaufen. Dann war für einige Zeit nur noch Kampflärm zu vernehmen. Man hörte den hellen Klang von sich kreuzenden Schwertern, das Stöhnen von Menschen, die getötet oder verwundet wurden, und den dumpfen Ton, wenn ihre getroffenen Körper auf den Holzboden schlugen.

„Die Küstenwache“, erklärte Herr Lang aufamtend, „ich habe gewusst, dass sie kommen.“

„Hoffentlich können sie die Piraten besiegen.“

Der Kaufmann antwortete nicht und nickte nur mit dem Kopf.

Irgendwann wurde es ruhiger auf Deck. Befehle wurden erteilt. Als schließlich die Klappe zu dem Verschlag geöffnet wurde, in dem Zhuowu und Herr Lang eingesperrt waren, und jemand mit einer Fackel in den dunklen Raum hineinleuchtete, stellten sie erleichtert fest, dass es ein Offizier der Küstenwache war.

Die Familie

Mit zwei Tagen Verspätung fuhr das von Soldaten der Küstenwache gesteuerte Handelsschiff mit Zhuowu und Herrn Lang als einzige Überlebende des Piratenangriffs in den Hafen von Quanzhou ein. Nachdem er sich von Herrn Lang verabschiedet und noch einmal bedankt hatte, machte Zhuowu sich auf den Weg in seine Heimatstadt Jinjiang, die südlich von Quanzhou an der Mündung des Jin-Flusses lag, und traf dort am frühen Nachmittag ein. Der Wohnsitz seiner Familie lag nicht weit vom nördlichen Stadttor entfernt in einer von der Hauptstraße abgehenden ruhigen Nebengasse. Die von einer hohen weißen Mauer umgebene und von Süden nach Norden ausgerichtete Wohnanlage bestand aus mehreren einstöckigen weißen Gebäuden, deren Dächer mit dunklen Dachziegeln bedeckt waren, und teilte sich in drei hintereinanderliegende, durch Mauern voneinander abgetrennte Höfe auf. Im vorderen Hof gleich hinter dem Eingangstor lagen die Küche mit dem Schlafraum der Köchin sowie die Schlafräume für den Diener und die Dienerin der Familie. Außerdem gab es Schuppen für Vorräte und Gerätschaften und einen Brunnen vor dem Küchengebäude. Wenn man den vorderen Hof in der Mitte durchschritt, gelangte man durch ein Tor in den mittleren Hof, in dem sich an beiden Seiten die Wohn- und Schlafräume von Zhuowu und seiner Ehefrau sowie die Zimmer seiner beiden Kinder befanden. Im hinteren Hof wohnten Zhuowus Vater und seine Stiefmutter. Abgeschlossen wurde der letzte Hof an der Nordseite durch das Hauptgebäude, das auch zum Empfang von Gästen genutzt wurde. Nur dieses hatte ein ausladendes Walmdach. Alle anderen Gebäude besaßen einfache Satteldächer. An den hinteren Hof schloss sich ein kleiner Garten an mit Banyanbäumen und Zypressen, Magnolien und Kamelien und einem Bambushain. Ein viereckiger Pavillon mit Zeltdach, zu dem ein schmaler gewundener Pfad aus Steinplatten führte, erhob sich an der rechten Seite im hinteren Winkel des Gartens, neben einer Gruppe bizarr geformter, ein Gebirge nachbildender grauweißer Kalksteine. Zhuowu und sein Vater hielten sich dort gerne auf, um Tee zu trinken und miteinander zu reden. Der Garten konnte durch eine kleine Tür in der Mauer neben dem Hauptgebäude betreten werden. Die Wohnanlage war nicht luxuriös und einige der Gebäude hatten eine Renovierung nötig. Putz blätterte von ihren weiß gekälkten, inzwischen mit zahlreichen dunklen Flecken überzogenen Fassaden. Und die ehemals leuchtenden Farben der Holzbalken der Dachkonsolen des Hauptgebäudes waren an vielen Stellen blass geworden.

Kaum hatte Zhuowu das Eingangstor passiert und den vorderen Hof betreten, kam der alte Diener Longting auf ihn zu. Er war über sechzig Jahre alt und schon seit mehr als drei Jahrzehnten im Dienst der Familie Li. Sein Haar war weiß wie Schnee und sein Gesicht von Falten zerfurcht.

„Herr Li, da seid Ihr endlich. Alle haben sich Sorgen gemacht. Wir haben Euch schon vorgestern erwartet ...“

Dann drehte er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in Richtung des mittleren Hofes um und rief mit lauter Stimme: „Ehrwürdiger Herr Li. Euer Sohn ist angekommen.“

Zhuowus Vater eilte herbei. Erleichterung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Li Baizhai hatte gerade die fünfzig überschritten. Sein Aussehen wies viel Ähnlichkeit mit dem seines Sohnes auf. Auch er war groß gewachsen und besaß die gleichen feinen Gesichtszüge wie Zhuowu. Sein volles Haar war schwarz und zeigte noch keine graue Strähne.

„Zhuowu, endlich. Warum kommst du erst heute?“

„Es gab einen kleinen Zwischenfall“, untertrieb sein Sohn.

„Einen Zwischenfall?“

„Unser Schiff wurde von Piraten überfallen.“

„Piraten?“

Li Baizhai machte ein bestürztes Gesicht. Auch der alte Longting starrte Zhuowu erschrocken an.

„Zum Glück wurde ich von der Küstenwache aus Putian befreit. Aber dass ich noch lebe, habe ich vor allem einem Kaufmann aus Fuzhou zu verdanken. Der hat wirklich Mut und Geistesgegenwart in dieser brenzligen Situation bewiesen. Aber davon kann ich später noch erzählen.“

Er umarmte seinen Vater und beide gingen in den mittleren Hof. Dort wartete schon der Rest der Familie, seine Ehefrau Meihua, eine geborene Huang, mit den beiden Kindern, dem Sohn Ganghao, der jetzt fast sechs Jahre alt war, und der einjährigen Gongyi sowie seine Stiefmutter Frau Dong, eine schlanke Frau von vierzig Jahren, die sich durch große Gutmütigkeit auszeichnete und ihren Enkelkindern in besonderer Weise zugetan war. Nachdem Zhuowu alle herzlich begrüßt und seine Kinder auf den Arm genommen und liebevoll gekost hatte, schlug sein Vater vor, in den Garten zu gehen, um im Pavillon Tee zu trinken und ihm etwas zu essen zu servieren.

„Du musst hungrig sein“, sagte er zu seinem Sohn.

Herr Li erteilte Longting den Auftrag, in die Küche zu gehen, um Tee zu kochen und der Köchin Frau Lang zu sagen, dass sie etwas Gutes zum Essen zubereiten sollte. Außerdem trug er ihm auf, mit den Speisen auch einen Krug Huangjiu, Gelben Wein, zu bringen. Dann lenkten alle ihre Schritte in Richtung Garten. Zhuowu ging neben seinem Vater, die beiden Frauen folgten mit den Kindern. Ganghao, ein blasser und schmächtiger Junge, der etwas schwächlich wirkte, ging still an der Hand seiner Großmutter, die kleine Gongyi wurde von ihrer Mutter getragen. Nachdem sie sich im Pavillon niedergelassen hatten, erschien kurze Zeit später die Dienerin Lanxing, ein hübsches Mädchen von sechzehn Jahren, das erst kurze Zeit bei der Familie Li angestellt war, sich aber zur Zufriedenheit aller sehr geschickt anstellte, und brachte das Teetablett und das Essgeschirr. Sie stellte alles auf den großen runden Steintisch in der Mitte des Pavillons. Als Zhuowu ihr freundlich zulächelte, senkte sie die Augen, errötete und entfernte sich hastig.

Nach allem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, war Zhuowu froh, wieder bei seiner Familie zu sein. Er betrachtete seine Kinder, den blassen, ruhig und brav neben seiner Großmutter hockenden Ganghao und die kleine Gongyi, die auf einer Decke saß und ununterbrochen brabbelte, und seine still am Tisch sitzende Ehefrau, die ihn von Zeit zu Zeit mit scheuen Augen ansah. Sie war vier Jahre jünger als er, und seit fast sieben Jahren waren sie miteinander verheiratet. Die Ehe war, so wollte es der Brauch, von seinem Vater und ihrem Vater arrangiert worden. Die beiden Eheleute waren sich zum ersten Mal an ihrem Hochzeitstag begegnet. Meihua war schlank mit tiefschwarzem Haar, das lang herunterfiel, und einem feinen hellen Gesicht, in dem der kleine rote Mund und die dunklen, wie Mandeln geformten Augen besonders auffielen. Zhuowu hatte sie von Anfang an gemocht, aber sie war still und zurückhaltend. Es gab nur wenig, über das sie miteinander reden konnten, meist waren es Angelegenheiten, die mit der Familie zu tun hatten, vor allem mit den Kindern. Manchmal hatte Zhuowu das Gefühl, dass zwischen ihnen eine Kluft war, etwas Trennendes, das sie nicht wirklich zueinanderkommen ließ, und dann erschien sie ihm wie ein Fremde.

Etwas später trugen Longting und Lanxing die von der Köchin für Zhuowu zubereiteten Speisen und den Krug Wein herbei. Es gab Spezialitäten aus Fujian, die Zhuowus Lieblingsgerichte waren. Rougucha, Fleischknochentee, eine Suppe aus Schweinerippchen und verschiedenen Kräutern und Gewürzen, Hongzaoji, geschmortes Hühnerfleisch in rotfermentiertem Reis mit Nudeln, und Baoxin Yuwan, mit gehacktem Schweinefleisch gefüllte Fischbällchen. Es roch gut und es schmeckte gut. Frau Lang, die schon lange bei der Familie Li angestellt war, war eine ausgezeichnete Köchin. Während Zhuowu aß, berichtete er von seiner Begegnung mit den Piraten. Alle zeigten sich erschrocken und entsetzt, aber zugleich auch froh und erleichtert, dass er den Angriff lebend überstanden hatte.

„Du hast wirklich Glück gehabt“, sagte sein Vater nachdenklich, „mit diesen Verbrechern ist nicht zu spaßen. Sei froh, dass du den Kaufmann an deiner Seite hattest. Wir müssen seiner Familie in Fuzhou ein Dankesschreiben zukommen lassen.“

Zhuowu nickte zustimmend. Dann erhob Li Baizhai feierlich seinen Becher mit Wein und prostete seinem Sohn zu.

„Aber nun wollen wir endlich auf deinen Erfolg bei der Prüfung trinken. Wir haben schon vorgestern davon erfahren. Jemand vom Kreisamt hat es uns mitgeteilt. Ich bin stolz, dass du so gut abgeschnitten hast.“

Zhuowu und sein Vater leerten ihre Becher. Es war ein halbsüßer Huangjiu von goldgelber Farbe aus Shaoxing, den sein Vater besonders gerne trank. Er wurde aus Reis und Körnern anderer Getreidesorten mit einem geringen Zuckeranteil hergestellt. Darum besaß er einen angenehm milden, leicht süßlichen Geschmack.

Zhuowu musste von der Prüfung und seinem Aufenthalt in Fuzhou berichten. Er erzählte auch von seinem Besuch des Trommelberges und der Begegnung mit dem Mönch Rukong. Über Anning, den er in Fuzhou kennengelernt hatte, und dessen traurigem Ende sagte er aber nichts. Auf einmal kam Longting in den Garten gelaufen.

„Herr Li, der Leiter des Kreisamtes, der Ehrwürdige Herr Wang, ist gekommen. Er möchte Eurem Sohn gratulieren.“

„Na, das hat sich ja schnell herumgesprochen, dass du hier bist“, sagte Li Baizhai an seinen Sohn gewandt.

„Ich habe den Kreisvorsteher in den Empfangsraum geführt. Er wartet dort“, fügte Longting noch hinzu.

Zhuowu und sein Vater folgten dem Diener zum Empfangsraum, der mit schönen Möbeln aus dunklem Mahagoniholz und verschiedenen Vasen, Tierskulpturen und Rollbildern mit Landschaftsmotiven und Kalligraphien ausgestattet war. Herr Wang saß auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, der neben einem Tisch an der Wand stand, und nippte an einer Teetasse. Er trug ein kostbares grünes Seidengewand und hatte seine schwarze Amtskappe neben sich auf die Tischplatte gelegt. Mit seinem an einen bleichen Vollmond erinnernden Gesicht, dem kahlen Schädel und dem runden Bauch sah er aus wie der dickbäuchige Buddha. Als er die beiden Herren Li eintreten sah, stand er auf und ging freudestrahlend auf sie zu.

„Junger Herr Li, großartig, welch ein Erfolg für unseren Kreis, der Viertbeste beim Provinzexamen. Das hatten wir hier noch nie … Herr Li, Ihr könnt stolz auf Euren Sohn sein.“

Herr Wang überschlug sich fast vor Begeisterung. Longting brachte einen Krug mit Huangjiu und drei Becher.

„Darauf müssen wir anstoßen“, rief Herr Wang.

Die drei prosteten einander zu und tranken die Becher leer.

„Heute Abend gibt es Ihnen zu Ehren im Kreisamt ein Festessen“, verkündete Herr Wang feierlich und zu Zhuowus Vater gewandt fügte er hinzu, „natürlich seid auch Ihr, Herr Li, eingeladen daran teilzunehmen. Der Ruhm Eures Sohnes wirft Glanz auf unsere bescheidene Kreisstadt.“

Zhuowus Vater war sein Stolz anzumerken. Er selbst hatte nur das Präfekturexamen erfolgreich absolviert und den ersten akademischen Grad eines Shengyuan erlangt, aber dann nicht mehr weitergemacht. Darum hatte er auch nie einen Beamtenposten ausgeübt, sondern verdiente sein Geld als privater Lehrer für Kinder wohlhabender Familien in Jinjiang. Zhuowu war von der Einladung wenig begeistert. Aber er wusste, dass es üblich war, besonders erfolgreiche Examenskandidaten mit einem Bankett im Kreisamt zu ehren.

„Nun, ich muss mich noch um die Vorbereitungen für heute Abend kümmern“, entschuldigte sich Herr Wang kurze Zeit später und kehrte in sein Amt zurück.

Nachdem Zhuowu und sein Vater am frühen Abend von dem Ehrenbankett wieder zu Hause eingetroffen waren, begaben sie sich in den Garten und ließen sich für eine Weile im Pavillon nieder, um dort gemeinsam Huangjiu zu trinken. Erst jetzt fühlte sich Zhuowu entspannt. Es war ein schöner Abend. Die Luft war lau und mild. Die silberne Mondsichel hing über dem Pavillon und der schwarze Himmel war voller funkelnder Sterne. Es war still. Die Zikaden, die den ganzen Tag bis in die Abenddämmerung ihren an- und abschwellenden zirpenden Gesang hatten ertönen lassen, waren verstummt.

Zhuowu kam noch einmal auf das Erlebnis mit den Piraten zu sprechen.

„Als ich von den Piraten bedroht wurde und dem Tod direkt in die Augen gesehen habe, ist etwas Merkwürdiges in mir geschehen“, erklärte er.

Sein Vater sah ihn fragend an.

„Zuerst hatte ich Todesangst und war voller Verzweiflung. Ich wollte meine Angst herausschreien. Aber dann überkam mich plötzlich ein Gefühl innerer Gelassenheit und Gleichgültigkeit. Ich hatte mich, angesichts der Ausweglosigkeit meiner Lage mit meinem Schicksal, mit meinem, wie ich überzeugt war, sicheren Tod abgefunden. In dem Moment waren Angst und Verzweiflung verschwunden. Ich war bereit zu sterben, weil mir das als unabänderlich erschien.“

Li Baizhai nickte nachdenklich.

„Ich verstehe, was du meinst. Bei dir hat eine Art Schutzmechanismus eingesetzt. Er hat dich davor bewahrt, in dieser von dir als hoffnungslos empfundenen Situation emotional zusammenzubrechen. In meiner Jugend habe ich während einer Gebirgswanderung einmal einen daoistischen Einsiedler getroffen, der mir erklärt hat, man müsse jegliche Gefühle, seien sie mit Angst, Schmerzen oder Kummer, mit Freude oder Glück verbunden, überwinden und in einen Zustand völliger Affektlosigkeit kommen. Wenn man diesen in seinem Leben erreicht hat, kann einem nichts mehr etwas anhaben. Dann ist man vollkommen frei.“

„Es ist sicherlich schwer, ein entsprechendes Leben zu führen“, bemerkte Zhuowu, „aber in der Situation auf dem Schiff war ich wahrscheinlich für einen Moment in einem solchen Zustand.“

„Es war ein existentieller Ausnahmezustand. Du warst überzeugt, getötet zu werden …“

Li Baizhai machte ein ernstes Gesicht. Er blickte seinen Sohn an und seufzte.

„Zum Glück ist das nicht geschehen …“, fuhr er dann erleichtert fort, „aber wie dem auch sei, du kannst daran auch sehen, wie flüchtig das Leben ist und wie schnell uns der Tod ereilen kann ...“

„Das ist richtig“, erwiderte Zhuowu, „und dieses Erlebnis hat mir deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass ich mein Leben sinnvoll nutze. Die Frage ist nur, welchen Weg ich einschlagen soll …“

„Das ist eine gute Frage, Zhuowu. Was hast du also vor, möchtest du auch noch die Hauptstadtprüfung und Palastprüfung in Beijing absolvieren?“

„Ich weiß es nicht. Das würde wieder Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte endlich selbst für Meihua und die Kinder sorgen können.“

„Wir können euch weiter unterstützen. Unsere Mittel sind zwar bescheiden, aber sie würden reichen. Wir sind doch alle nicht sehr anspruchsvoll.“

Zhuowu schüttelte den Kopf.

„Ich denke, dass ich erst einmal in einem Amt arbeiten werde. Bestimmt wird mir bald ein Posten zugeteilt.“

„Aber eine hohe Stellung bekommst du nur, wenn du bei den Prüfungen in der Hauptstadt erfolgreich bist und den Grad eines Jinshi erlangst.“

„Ich weiß, aber ich frage mich, ob ich das wirklich will.“

„Nun, du musst das wissen. Ich will dir da nicht reinreden. Aber denk noch einmal darüber nach. Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen. Und vielleicht ist es wirklich nicht schlecht, als Beamter erst einmal auf Kreis- oder Präfekturebene Erfahrungen zu sammeln. Die Hauptstadtexamina kannst du immer noch machen.“

Dann erzählte Zhuowu seinem Vater die tragische Geschichte von Anning. Er musste einfach mit jemandem darüber reden.

„Das ist wirklich schrecklich“, rief Li Baizhai erschüttert aus, als sein Sohn geendet hatte, „aber du musst dir keine Vorwürfe machen. Du wolltest ihm helfen. Dass sein Vater so hart zu ihm war, ist wirklich traurig. Aber dieser Mann ist jetzt gestraft genug. Er hat seinen Sohn verloren. Gibt es etwas Schlimmeres, als dass ein Vater um sein Kind trauern muss?“

Beide schwiegen und machten ernste Gesichter. Zhuowu musste an seine Kinder denken. Er liebte sie über alles. Er wollte sich nicht vorstellen, was wäre, wenn er eines davon verlieren würde. Sein Sohn Ganghao machte der Familie Sorgen. Er war schwächlich und oft krank. Manchmal musste er tagelang das Bett hüten. Der Arzt sagte, es sei das Herz, er habe ein schwaches Herz, aber das könne sich ändern, wenn er größer werde. Alle in der Familie Li klammerten sich an diese Hoffnung.

„Du hast mir nie einen solchen Druck gemacht“, nahm Zhuowu das Gespräch wieder auf.

„Ich bin der Meinung, dass ein junger Mensch Anleitung braucht, aber nicht, dass er in seiner Entwicklung nur in eine bestimmte Richtung gepresst werden darf“, erwiderte sein Vater, „der Mensch braucht Freiheiten für seine eigene Entfaltung.“

„Ich bin dir dankbar dafür, dass du mich so erzogen hast … Aber manchmal fühle ich mich auch etwas orientierungslos. Für die Prüfungen musste ich lernen, dass bei der Interpretation der Bücher der Weisen des Altertums vor allem die Meinung des Zhu Xi ausschlaggebend ist. Er ist die Autorität. Aber es gibt bei ihm Gedanken, die ich nicht so akzeptieren kann.“

„Was meinst du konkret?“

„Also wenn er zum Beispiel sagt, dass wir wahre Erkenntnis vor allem erlangen können, wenn wir die von den Weisen hinterlassenen Bücher studieren. Ich habe das getan, habe sie auswendig gelernt und so die Prüfungen bestanden. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich in meinem Wissen wirklich weitergebracht haben. Es muss andere Wege geben.“

Li Baizhai nickte nachdenklich.

„Als ich auf dem Trommelberg war“, fuhr Zhuowu fort, „habe ich doch diesen Mönch getroffen, Rukong hieß er, und der hat mir gesagt, dass wir die Wahrheit, er nannte sie das Buddha-Wesen, in uns tragen und darum auch nur in uns finden können, nicht in Büchern oder indem wir einem Meister folgen. Er hat mir auch erklärt, dass uns für unseren Weg zur Wahrheit Anregungen von außen zwar nützlich sein können, es aber im Grunde zuletzt von uns selbst abhängt, ob wir dabei erfolgreich sind. Wenn wir uns zu sehr auf Autoritäten stützen und uns nur an ihnen orientieren, lenkt uns das von der inneren Wahrheit ab.“

„Das sind interessante Gedanken.“

„Das finde ich auch. Ich will auf jeden Fall noch weiter darüber nachdenken“, sagte Zhuowu entschlossen.

Dann zog sich sein Vater zurück und Zhuowu blieb noch eine Weile allein im Pavillon sitzen, um den Abend und die Ruhe zu genießen. Nach einiger Zeit hörte er, dass sich leise Schritte näherten. Er sah eine Gestalt aus der Dunkelheit langsam auf den Pavillon zukommen und erkannte, dass es Lanxing war, die junge Dienerin, die ein Tablett in der Hand hielt.

„Herr Li, darf ich den Tisch abräumen?“ fragte sie mit leiser Stimme und wagte nicht, ihn dabei anzuschauen.

Zhuowu konnte in dem schwachen Licht der Lampe, die auf dem Tisch stand, sehen, dass sie wieder errötete. Er antwortete nicht, sondern betrachte gedankenversunken ihr feines Gesicht.

„Herr Li, …“

„Ja, natürlich Lanxing, räume nur alles ab.“

Während sie ihre Arbeit verrichtete und sich dabei über den Tisch beugte, kam sie ihm nahe. Er ließ seine Augen nicht von ihr. Auch sie warf ihm einen schüchternen Blick zu. Die Nähe des jungen Mädchens verwirrte ihn. Sie roch gut. Ihre helle Haut verströmte einen zarten Pfirsichduft. Er hatte das Gefühl, dass sie die Becher und den Weinkrug extra langsam auf das Tablett stellte. Als sie schließlich damit fertig war, zögerte sie zu gehen. Er starrte sie an und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Als sie sich gegenüberstanden erwiderte sie seinen Blick und senkte dann die Augen. Ihr schlanker Körper war direkt vor ihm, nur eine Armlänge entfernt. Ihm stockte der Atem. Erregung kam in ihm hoch. Er hätte sie an sich ziehen können. Aber dann gab er sich einen Ruck und verließ mit schnellen Schritten den Pavillon.

Als er sein Wohnzimmer im mittleren Hof betrat, fand er dort Meihua, die mit einer Stickarbeit beschäftigt war, und die in einem Bettchen schlafende Gongyi. Er beugte sich über die Kleine, die friedlich unter einer weißen Decke lag, und betrachtete ihr zartes rosiges Gesicht. Anders als ihr Bruder sah sie gesund und kräftig aus. Meihua legte das Stickzeug zur Seite und sah zu ihm auf.

„Schläft Ganghao schon?“ erkundigte sich Zhuowu.

Es waren die ersten Worte, die er seit seiner Rückkehr aus Fuzhou direkt an sie richtete. Sie nickte stumm.

„Wie geht es ihm?“

„Die letzten Tage ganz gut. Vorgestern war der Arzt hier. Er klang zuversichtlich.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Zhuowu beruhigt, „und dir geht es auch gut?“

Sie nickte erneut und sah ihn mit ihren mandelförmigen Augen an. Ihr Gesicht blieb ernst. Zhuowu stand direkt vor ihr.

„Und wie ist es dir ergangen, während ich fort war?“ fragte er weiter.

„Es ist alles in Ordnung.“

„Freust du dich, dass ich wieder zurück bin?“ wollte er wissen.

„Ja“, antwortete sie kurz und stand von ihrem Stuhl auf.

Er fasste sie an den Armen und zog sie sanft an sich. Sie widersetzte sich ihm nicht und drückte sich an ihn. Er spürte ihren Körper, der sich warm an den seinen presste, und streichelte mit einer Hand ihr errötendes Gesicht.

„Komm“, flüsterte er mit heiserer Stimme und führte Meihua in das nebenan liegende Schlafzimmer.

Ganghao

剛好

Einige Tage später ging es Ganghao schlecht. Er atmete kurz und schnell, schwitzte stark und klagte über Schmerzen in den Beinen. Hin und wieder kam Blut aus seiner Nase. So schlimm war es noch nie gewesen. Alle machten sich große Sorgen. Der Junge lag apathisch in seinem Bett. Essen wollte er nicht und auch nichts trinken. Zhuowu betrachtete besorgt den schmächtigen kleinen Körper und das bleiche eingefallene Gesicht seines Sohnes.

„Wir müssen den Arzt holen“, rief er.

Er beauftragte Longting, den Arzt, Herrn Zhang, zu holen, der nicht weit entfernt wohnte. Als dieser kurze Zeit später vor dem Krankenbett stand, betrachtete er nachdenklich den kleinen Patienten.

„Es ist das Herz. Sein Qi-Fluss ist gestört. Er zirkuliert nicht richtig. Der Junge braucht jetzt viel Ruhe. Zur Stärkung seines Herzens werde ich ihm eine Medizin aus Ginseng, Safran und Sternanis zubereiten … Herr Li könntet Ihr Euren Diener in die Apotheke schicken, damit er diese Zutaten besorgt?“

„Die haben wir selbst hier. Ich werde mich darum kümmern“, mischte sich Zhuowus Stiefmutter, Frau Dong, ein, die mit sorgenvoller Miene neben dem Bett stand.

„Außerdem brauche ich einen Ofen, um Wasser abzukochen, damit ich die Medizin zubereiten kann.“

Frau Dong machte sich sofort auf, um alles Nötige herbeizuschaffen.

„Und das Nasenbluten?“ fragte Meihua.

„Kalte Umschläge für den Nacken und Saft der Winterzwiebel, der vorsichtig in die Nasenlöcher geträufelt wird, werden helfen, sollte es wieder auftreten“, erklärte der Arzt.

Dann entnahm er seiner Tasche mehrere Schalen, einen Mörser und eine kleine Waage, die er auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes stellte. Nachdem alle Zutaten und ein kleiner tragbarer Ofen von Frau Dong und Lanxing gebracht worden waren, bereitete er sorgfältig die Medizin vor. Zuerst wurden die einzelnen Bestandteile abgewogen, in unterschiedliche Schalen gefüllt und mit dem Mörser bearbeitet. Dann mischte er alles mit Wasser und kochte es einige Zeit auf dem Ofen ab. Nachdem der so hergestellte Sud abgekühlt war, füllte er etwas davon in einen Becher und den Rest in eine Flasche. Er versuchte Ganghao die Medizin zu verabreichen. Der weigerte sich zuerst, aber der Arzt redete mit freundlicher Stimme auf ihn ein, lenkte ihn durch kleine Scherze ab und konnte ihm schließlich das Mittel schluckweise einflößen.

„Ich werde zusätzlich akkupunktieren. Das wird den Qi-Fluss beleben“, erklärte Herr Zhang.

Er holte aus seiner Tasche ein Kästchen mit Akkupunkturnadeln und setzte diese vorsichtig an den Armen des Jungen an, drei am Oberarm, vier direkt hintereinander am Unterarm, eine an der Handfläche und eine am kleinen Finger.

„Das sind die neun Meridianpunkte des Herzens“, erklärte er, während er auf die eingesetzten Nadeln zeigte, „diese wirken sich besonders effektiv auf ein schwaches Herz aus. Sie werden die Zirkulation des Qi beleben.“

Nachdem die Akkupunkturbehandlung beendet war, wandte sich Herr Zhang an die Eltern des Jungen. Als er ihre besorgten Gesichter bemerkte, versuchte er sie zu beruhigen.

„Macht Euch keine Sorgen, das wird schon wieder. Er muss sich jetzt einige Zeit ausruhen und regelmäßig die von mir zubereitete Medizin einnehmen. Über den Tag verteilt drei Becher. Er soll auch trinken, nach Möglichkeit stärkenden Wulong-Tee, und regelmäßig essen. Am besten wäre es, wenn er erst einmal kräftigende Suppen und nach und nach auch feste Nahrung zu sich nimmt. Ich komme morgen und an den nächsten Tagen wieder, um die Akkupunkturbehandlung zu wiederholen. Das wird bestimmt helfen.“

In den folgenden Tagen verbesserte sich Ganghaos Zustand tatsächlich. Das Nasenbluten hatte aufgehört und er konnte wieder frei atmen. Außerdem war er in der Lage, zu essen und Tee zu trinken. Er sah besser aus, wenn er auch noch das Bett hüten musste, weil er weiterhin geschwächt war. Die ganze Familie war erleichtert und schöpfte neue Hoffnung. Zhuowu besuchte seinen Sohn an jedem Tag und las ihm abends immer eine Geschichte vor. Ganghao sprach für sein Alter nur wenig. Meistens waren es kurze Antworten, die er gab, wenn er gefragt wurde. Von selbst kamen ihm selten Worte über die Lippen. Er war ein sehr stilles und zurückhaltendes Kind und wirkte oft traurig und in sich gekehrt. Ganz anders als sein Vater in dem Alter, der wild und lebhaft gewesen war, wie Li Baizhai gerne erzählte. Zhuowu schob das Verhalten seines Sohnes auf dessen schwächliche Gesundheit. Mit der Zeit wird er schon mehr reden, dachte er, und hoffentlich fröhlicher und lebhafter werden. Aber wenn Ganghao Geschichten vorgelesen bekam, änderte sich sein Aussehen. Dann kam etwas Farbe in sein blasses Gesicht. Er lauschte den Worten gespannt und mit wachen Augen. Zhuowu war überzeugt, dass sein Sohn einen aufmerksamen Geist hatte und alles verstand, was er ihm vorlas.

Eines Abends hatte Zhuowu für seinen Sohn eine Geschichte über die Göttin Xiwangmu, die Königinmutter des Westens, ausgewählt. Nachdem er Ganghaos Zimmer betreten hatte, setzte er sich auf die Bettkante und strich ihm zärtlich durch das Haar und über die Wangen. Der Kleine saß aufrecht im Bett und freute sich, dass sein Vater gekommen war. Sein kleines Gesicht erhellte sich und seine Augen leuchteten in Erwartung einer neuen Geschichte.

„So, Ganghao, heute bekommst du die Geschichte von der Göttin Xiwangmu und König Mu zu hören. Sie wird dir bestimmt gefallen. Ich kenne sie auswendig, darum brauche ich auch kein Buch.“

Zhuowu erzählte in lebhaften Worten und Gesten von Xiwangmu, die weit entfernt im Westen in einem prächtigen Palast auf dem höchsten Gipfel des mächtigen Kunlun-Gebirges wohnte, umgeben von Feen und seltsamen Fabeltieren. Er beschrieb in bildhafter Sprache das Gebirge, den Palast mit den dort lebenden Wesen und die Schönheit der Göttin in ihren kostbaren Gewändern und prächtigem Kopfschmuck aus kostbaren Edelsteinen. Dann erzählte er, dass sie eines Tages von einem König mit Namen Mu besucht wurde.

„Er war ein stattlicher Krieger, mutig, stolz und schön.“

Zhuowu berichtete nun von den kühnen Taten des Königs, wie er zum Beispiel einen schrecklichen Dämon, der die Menschen in einer Gegend seines Reichs quälte, vertrieb, oder wie er den grausamen Herrscher eines Nachbarstaates besiegte und so dessen Volk von ihm befreite. Sein Sohn hörte aufmerksam und gespannt zu. Dann kam Zhuowu zum Ende der Geschichte.

„Die Göttin Xiwangmu verliebte sich in den König Mu und wollte, dass er für immer bei ihr in ihrem Palast im Kunlun-Gebirge bleibt. Aber er musste zu seinem Volk zurück, denn er war pflichtbewusst und konnte seine Untertanen nicht im Stich lassen. Daraufhin bat sie ihn, dass er sie im nächsten Jahr zur Pfirsichernte wieder besucht. In ihrem großen Palastgarten am Ufer des tiefgrünen Jadeteichs wachsen nämlich in einem Hain die Pfirsiche der Götter, die Unsterblichkeit verleihen ... Das heißt, Ganghao, wenn man einen dieser Pfirsiche isst, wird man für immer am Leben und gesund bleiben und niemals krank werden und sterben. Verstehst du das?“

Der Junge sah seinen Vater an und überlegte kurz. Dann nickte er heftig mit dem Kopf. Zhuowu fuhr mit seiner Geschichte fort.

„Auch König Mu würde also, wenn er einen dieser Pfirsiche isst, Unsterblichkeit erlangen. Und die Göttin hoffte, dass er dann eines Tages für immer bei ihr bleiben könnte. Am Abend, bevor der König die Göttin verließ, veranstaltete sie ihm zu Ehren ein prächtiges Gastmahl am Jadeteich. Dort sang sie für ihn mit ihrer schönen Stimme ein Lied, das den König tief in seinem Herzen berührte:

‚Weiße Wolken am Himmel, durch die der Berge Gipfel dringen

Weit war dein Weg, du musstest Berge und Flüsse bezwingen

Niemals sollst du sterben und Unsterblichkeit erlangen

Mein Herz will zu dir voller Sehnsucht und Verlangen.‘

Als der König die Göttin Xiwangmu im nächsten Jahr erneut besuchte, gab sie ihm einen der Pfirsiche, und nachdem er diesen gegessen hatte, wurde er selbst ein Unsterblicher. In jedem Jahr kehrte er danach einmal zu seiner schönen Göttin zurück, bis er schließlich, nachdem er einen seiner Söhne zum Nachfolger ernannt hatte, für immer bei ihr blieb. Und so leben die beiden bis heute und für alle Zeiten gesund und glücklich in dem schönen Palast am Jadeteich auf dem Kunlun-Gebirge zusammen.“

Ganghao blickte seinen Vater mit großen Augen an.

„Würdest du auch gerne einen solchen leckeren Pfirsich vom Jadeteich essen?“ fragte Zhuowu.

Der Kleine nickte eifrig. Plötzlich zauberte Zhuowu mit einem geheimnisvollen Lächeln aus seiner Tasche einen Pfirsich hervor. Ganghao strahlte und griff nach dem saftigen Obst.

„Warte“, sagte sein Vater, „ich werde ihn erst aufschneiden und den Stein entfernen.“

Nachdem er den Pfirsich zerteilt hatte, reichte er die einzelnen Stücke seinem Sohn, der sie nacheinander in den Mund schob.

„Und, schmeckt dir der Pfirsich der Göttin Xiwangmu?“

„Gut“, sagte der Junge und strahlte immer noch, während ihm der Saft an den Mundwinkeln herunterlief.

Zhuowu nahm ein Tuch und wischte ihm liebevoll den Mund ab. Dann zog er den Jungen sanft an sich und küsste ihn auf die Stirn.

„So, Ganghao, jetzt gehörst du wie König Mu auch zu den Unsterblichen.“

„Bin ich nicht mehr krank?“

Ganghao schaute seinen Vater mit leuchtenden Augen an. Zhuowu verspürte einen Stich in seinem Herzen als er den erwartungsvollen Blick seines Sohnes bemerkte. Er drückte den kleinen schmächtigen Körper noch fester an sich.

„Du wirst gesund werden, Ganghao, ganz bestimmt … Aber nun musst du schlafen. Es ist schon spät. Morgen gibt es eine neue Geschichte.“

Mit diesen Worten deckte er seinen Sohn mit der Bettdecke zu, löschte die Lampe und verließ das Zimmer.

In der folgenden Woche erlitt Ganghao einen Rückfall. Es traten die gleichen Symptome auf, wie beim letzten Mal. Der Arzt kam und wiederholte die Behandlung. Zwei Tage später trat eine leichte Besserung ein. Im Haus der Familie Li machte sich wieder Hoffnung breit. Doch es sollte anders kommen.

In den frühen Morgenstunden des dritten Tages nach Ganghaos Rückfall erwachte Zhuowu aus einem unruhigen Schlaf. Er war schweißgebadet und eine innere Unruhe erfasste ihn. Er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Meihua schlief noch. Langsam erhob er sich und stand auf. Draußen dämmerte es bereits. Vorsichtig schlich er sich tastend aus dem dunklen Schlafzimmer, ging nach draußen und stellte sich auf die dem Wohngebäude vorgelagerte Terrasse. Es war frisch. Er lehnte sich an eine Säule, atmete tief durch und blickte auf die schwarzen Umrisse des gegenüberliegenden Gebäudes, in dem Ganghao schlief. Plötzlich wurde er von einem Gefühl der Angst gepackt. Eine böse Ahnung bemächtigte sich seiner. Er lief über den Hof und stolperte in das Zimmer seines Sohnes. Nachdem er mit zitternder Hand die Lampe neben dem Bett angezündet hatte, blickte er wie versteinert auf den sich unter der Decke leicht abhebenden Körper Ganghaos. Der Junge lag ausgestreckt da, regungslos, das kleine Gesicht war bleich, die offenen Augen starrten gebrochen zur Decke. Zhuowu taumelte und musste sich auf einem in der Nähe stehenden niedrigen Schrank abstützen. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Er rang nach Luft und konnte nicht fassen, was er vor sich sah. Aber vor ihm, angeleuchtet von dem schwachen Schein der Lampe, lag der Körper seines toten Sohnes.

Dunkles Wasser - Heller Mond

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