Читать книгу Weihnachtsfieber - Wolfgang Schierlitz - Страница 6
ОглавлениеErneut ist die hehre Zeit gekommen
Es ist eisig kalt und stürmisch geworden. Auf dem steilen Weg liegen chaotisch abgebrochene Äste. Immer wieder kracht und splittert es in den Zweigen über dem zügig aufwärts Strebenden. Der Sturm heult nun ungehindert über die kahle Bergseite. Und schon kommt die Dunkelheit auf. Es beginnt immer stärker zu schneien. Undeutliche, verwehte, eintönige, dumpfe Glockenschläge wirbeln als adventliche Grüße vom Tal herauf. Immer schneller bricht die Nacht herein. Nun flappt die Halogen-Taschenlampe im Ansturm der jetzt waagrecht anfliegenden Schneeflocken auf, und hinter den weißen, peitschenden Schwaden ist es rabenschwarz geworden. Die Orientierung wird immer schwieriger. Plötzlich steht der Martl an einer Steilkante und merkt gerade noch, dass jeder weitere Schritt tödlich gewesen wäre.
»Auf so eine weihnachtliche Überraschung kann ich dankend verzichten«, murmelt er erschrocken. Wild steigen die weißen Schneekristalle im Pulk jetzt senkrecht nach oben.
»Seid ihr verrückt?«, schreit er entsetzt. Langsam rückwärtsgehend kommt Unsicherheit auf. Es fällt ihm in seiner sonst unerschütterlichen Selbstsicherheit schwer, aber leider muss er zugeben, dass er sich total verirrt hat. Die Weglosigkeit wird schnell zum Problem. Mühsam tappt er weiter aufwärts durch die dunkle Dichte und steht irgendwann unter einer sturmabgewandten, überhängenden Felswand.
»Wo ist die bewaldete Seite des Berges, durch die ich den Weg heraufgekommen bin?«, fragt er sich halblaut und kopfschüttelnd. Dann entschließt er sich, unter der Schutz bietenden Felswand zu kampieren. Er weiß aus einschlägiger Erfahrung, wie gefährlich es ist, sich durch den tobenden Schneesturm weiter aufwärts zu kämpfen. So schlau ist er schon und feixt lauthals in die Nacht hinein: »Übermorgen schon steht es in der Zeitung, dass ich verschwunden bin! Lieber nicht!«
Er bricht Zweige von den umstehenden jungen Fichten, schüttelt den Schnee ab und baut daraus einen provisorischen Lagerplatz. Dann werden dürre Zweige von der Unterseite der dicht stehenden Nadelbäume und ein Berg herumliegender Äste gesammelt. Die Finger sind gefühllos und klamm geworden, weil er sorglos die Handschuhe abgelegt hat. Es dauert lange, bis ein Feuer brennt. Durch den Rauch und das Schneetreiben blickt er in die imaginäre Ferne hinaus.
»Dieser Entschluss hierzubleiben ist meine Rettung!«, ruft er theatralisch in die unheimliche Dunkelheit hinaus, und ein einsames, aber weihnachtlich-euphorisches Gefühl breitet sich aus. »Gut, dass das Christkindlein noch ein paar Tage Zeit hat. Das wäre doch ein Schock für die lieben Kinder, wenn es sich wie ich total verirren würde und dann vielleicht sogar erfriert. Oder der gabenfrohe, alte Nikolaus findet nicht mehr aus dem finsteren Wald hinaus.«
Dann wählt er eine Nummer auf dem Mobiltelefon. Mehrmals. Nur zu gerne würde er seine besonderen, einsamen Adventeindrücke mit seinen Freunden oben in der Hütte teilen.
»Das hab ich befürchtet«, denkt er laut. »Kein Netz.« Dass er eigentlich ein Mobilfunkgegner ist, verdrängt er auch diesmal wieder wie so oft. Und logisch weiß er: »Eine lange Nacht steht mir bevor.« Aber das Erleben dieses Abenteuers lässt ihn schmunzeln. Er holt eine seltene Flasche aus dem Rucksack: Scotch Whisky »Game of Thrones«. Zufrieden und erhaben sitzt er auf seinem Fichtenzweigthron. Das Feuer flackert auf.
Nach einer Weile holt er etwas schwankend weitere dürre Äste für das Feuer. Nur gelegentlich weht Schnee unter die überhängende Felswand herein, denn der Sturmwind bläst in die andere Richtung. Der Martl nimmt eine Schutzdecke aus dem Rucksack, den er gegen den Fels gelehnt hat, rollt sich darin ein und isst einen Müsliriegel. Fröstelnd schläft er ein paar Stunden. Wilde Träume von angreifenden Eisbären und abbrechenden Gletscherwänden dehnen die Zeit. Heldenhaft rettet er sich immer wieder aus den eingebildeten, gefährlichen Abenteuern.
»Ich bin der Friedl, der Fridtjof Nansen und der Jackl, der Jack London!«, posaunt er besonders laut in die stürmische Nacht hinaus, wartet auf das schwache Echo und nickt wieder ein. Die Kälte weckt ihn mehrmals und so lässt er die Flammen besonders hoch auflodern. Mit gesunder Gesichtsfarbe und lässig starrt er noch eine Weile bis zum Morgengrauen in die wabernde Glut. Er fühlt sich wie ein Herrscher und Bezwinger sämtlicher Elemente. Noch dazu nach der halben Flasche des Edelgetränks. Da könnte er locker ein Mammut mit dem Lasso fangen. Aber dann fällt ihm ein, dass diese Burschen längst ausgestorben sind. Nun beginnt er zu meditieren – und so sitzt er da, bis der Morgen langsam eintrifft.
Etwas weiter oben auf dem Berg dringt schwach ein Leuchten aus einem kleinen Fenster durch das Schneetreiben in die chaotische, wirbelnde, unheimliche Nacht hinaus. Drinnen ist es am alten Ofen der Marke Wamsler recht gemütlich und wohlig warm. Der Spaßvogel Martl hat eine mickrige, schon leicht verdorrte Fichte mit wenig aber fantasievollem Tannenzapfenschmuck an die Decke gehängt.
»Ab sofort können Weihnachtslieder angestimmt werden«, meint er ernst. Und schon singt er inbrünstig von einem Ros, das ihm anscheinend entsprungen ist. Die anderen klatschen amüsiert.
Die Emma-Pauline: »Da wirst du zu tun haben, bis es wieder eingefangen ist!«
Eine Petromax-Petroleumlampe erhellt diffus den gemütlichen Raum. Der Detlef schaut sinnend und nachdenklich in die ganz leise zischende Flamme. Er ist nicht nur ziemlich neu in der Runde, sondern auch handwerklich völlig unbegabt. Er kann gerade noch einen angedörrten Christbaum aufhängen, von dem schon leise die Nadeln herabregnen, oder vielleicht eine Kerze anzünden, ohne sich die Finger zu verbrennen. Deshalb lauscht er bewundernd, als die gerne plaudernde und nicht nur technisch begabte Geschichtsstudentin Anna-Lena in dozierendem Ton wie oft üblich in einem längeren Satz wieder einmal besonders schlau sein will:
»Bei dieser tollen Erfindung der Petromax-Lampe wird das Petroleum unter Druck durch einen Vergaser geleitet, und der dadurch verdampfende Brennstoff wird in einem Glühstrumpf verbrannt, wodurch ein gemütliches Licht entsteht, und der Erfinder war 1910 ein Berliner Kommerzienrat namens Max Graetz, und dieser Max Graetz wurde von seinen Berliner Freunden ›Petroleum-Maxe‹ genannt, und daher der Name ›Petromax‹ für die Lampe, und der Glühkörper besteht aus einem Kunstseidengewebe, das bei der Herstellung mit mehreren Salzen imprägniert wird und bei der ersten Inbetriebnahme der Laterne abbrennt, das heißt in Asche verwandelt wird und …«
Hier wird sie endlich unterbrochen, weil die anderen, der Elias, der Marcel und die Emma-Pauline, diese Geschichte und das Mitteilungsbedürfnis der Freundin längst kennen. Deshalb meint der Marcel nur: »Hoffentlich steigst du nicht von Frauenpower auf Rinderwahnsinn um.« Beleidigt schweigt Anna-Lena.
Es wird vorübergehend heimelig still in der romantischen Hütte. Das Feuer prasselt, Schnee peitscht an die Scheibe, und das Heulen des Sturms dringt gedämpft durch das kleine, einglasige Fenster in die Stube, das leise in seiner lockeren Fassung zittert.
»Hoffentlich kehrt der Martl bei diesem Schneesturm wieder um. Da kommt der niemals durch bis zu uns«, wirft der Detlef plötzlich besorgt in die stille Runde. Alle werden nachdenklicher. »Sollen wir die Bergwacht anrufen?«, fragt er. Die anderen schütteln ihre Köpfe.
»Wahrscheinlich weißt du noch nicht, dass man hier oben kein Handynetz hat. Außerdem ist der Martl ja ein übergescheiter, oberschlauer Bursche. Bisher ist er immer noch aus jeder brenzligen Lage wieder heil herausgekommen und kann anschließend hoffentlich wie immer seine Abenteuer besonders blumig und fantasievoll erzählen. Da ist er ja einmaliger Spezialist. Darauf freuen wir uns jetzt schon. Noch dazu ist er vielleicht gar nicht zu sehr weihnachtlich-betrunken, wenn es bergauf geht. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir wegen dem verrückten Kerl ausrücken müssten.«
Allmählich ist ein dämmriges Tageslicht angebrochen. Die Hüttenbelegschaft liegt im oberen Kammerl, teilweise tief schnarchend, unter dem seit Langem, vielleicht sogar dem letzten Weltkrieg, da oben versammelten, groben Deckeninventar. Das schräg hereinströmende Morgenlicht würde den tief Schlafenden die unangenehmen Staubwolken luftspiegelnd bei jeder ihrer Bewegungen sichtbar machen, wenn sie nicht im Nirwana des Schlafes abwesend wären. Der Himmel stülpt sich draußen blaugrau und durch das beginnende Morgenrot zuerst perlrosa, dann feurig orangefarbig über die umstehenden hohen und höchsten Gipfel. Die Kälte hat nachgelassen. Es taut allmählich weiter auf, und für die Weihnachtstage kommt untypisches Föhnwetter auf. Ein milder Hauch streicht leise über die verschneiten Hänge. Der Schnee wird stumpf und wässrig.
Nach längerem Suchen hat der Martl endlich wieder den schmalen Aufstiegspfad gefunden. Fröhlich pfeifend und energiegeladen stapft er durch die Schneewehen munter aufwärts und schüttelt das bleierne Gefühl der langen Nacht mit dem pünktlich eingetroffenen Whisky-Kater ab. Irgendwann – es eilt überhaupt nicht – kommt das romantische Bild der Hütte, die sich unter die Felstürme duckt, in Sicht. Jetzt zeigt sich, dass das Weihnachtsgeschenk seiner Freundin vom letzten Jahr, der Jodelkurs, den er damals im Herbst eifrig, aber nicht besonders erfolgreich absolviert hat, die beste Geschenk-Entscheidung war. Laut und froh schallend schwellen die urigen, teilweise sogar fast harmonischen Tonfolgen in die hehre Morgenstimmung hinein. Die gesamten Bergwaldbewohner, ob Hirsch, Reh oder Hase, haben sich rechtzeitig abgesetzt. Er weiß, dass ihn hier niemand wegen seiner unmusikalischen und zweifelhaften Veranlagung kritisieren wird.
Laut genug, um zumindest teilweise die Schlafenden oben im Kammerl zu wecken, ist sein Gejodel. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch den frischen, wunderbaren Morgen gleich begrüßen wollen. Erst als ihr Freund polternd und singend eingetroffen ist, schälen sie sich allmählich aus den modrigen Deckenkokons. Verschlafen und gähnend kommen sie die Leiter herunter und jetzt freuen sie sich sogar, dass der Martl bereits Kaffee gekocht und das Frühstück vorbereitet hat. Es duftet herrlich.
Zunächst herrscht beinahe vollkommene Stille. Dann wird der Martl munter. Er erzählt langatmig und hin und wieder sogar spannend wie gewohnt von seiner einsamen, unheimlichen, weihnachtlichen Winternacht unter der überhängenden Felswand, die er ohne abzustürzen und ohne erfroren zu sein überstanden hat. Und wie er anschließend zur Hütte heraufgespurtet ist.
Ernst meint der Adrian: »Was für ein großes Glück, dass du da bei der immensen Geschwindigkeit nicht geblitzt worden bist.« Ein paar Sonnenstrahlen haben bereits durch das kleine Fenster den Weg in die Stube gefunden.
Die Anna-Lena muss endlich wieder ihren Ideenreichtum mit den anderen teilen. Sie beginnt, diesmal nicht in einem unendlichen Satz, zu erzählen, wie sie die gehobene Bücherwelt durch ihre, wenn auch etwas laienhafte, spaßige Nonsensdichtung erobern will:
»Ich habe dazu jahreszeitliche Lyrik verfasst und hier vermittle ich euch ein paar spannende Ausschnitte, logisch mit dem Winter beginnend.
Die Berge wirken, wie man sehen kann, durch den Föhn sehr erhaben in ihrer weißen Pracht. Ja, man kann sogar ohne Übertreibung sagen, Berge sind bei dieser Gelegenheit das Höchste – vom Tal aus gesehen. Will man zu dieser Jahreszeit ungefährdet hinaufgelangen, nimmt man sich vorsichtshalber einen winterfesten Bergführer mit, da einerseits der Schneefall, andererseits auch die düsteren, kurzen Wintertage gefährlich weit in diese Jahreszeit hineinragen können. Im abgelegenen Gebirge ist es aber durchaus möglich, dass der Bergführer, kaum oben angelangt, nicht mehr den Berg hinabsteigen will. Der erfahrene Tourist hat deshalb vorgesorgt und einen Talführer mit hinaufgeschleppt. Diese Sorte ist nur widerwillig nach oben zu bringen, oft fast nur mit etwas Gewalt. Ist der Talführer erst einmal oben, muss er bis zum Aufbruch verlässlich angebunden werden, am besten am stabilen Gipfelkreuz, weil er sofort wieder zurück ins Tal will. In der Schweiz, im Kanton Uri, wo die urigsten und kräftigsten Berg- und Talführer vorkommen, ist gelegentlich beobachtet worden, dass besonders starke Exemplare dieser Art versucht haben, einen Berg zu führen. Vor diesen kann nicht genug gewarnt werden, weil sie die Berge mitsamt den oben rastenden Touristen wegführen wollen, obwohl ihnen bekannt ist, dass nur der Glaube Berge versetzen soll. Die Berge können anderswo, aber auch in der Schweiz, weder im Winter, noch im Frühjahr oder zu anderen Jahreszeiten aufgrund der verschiedenen Namen verwechselt werden. Als Beispiele unverwechselbarer Bergnamen sind zu nennen: Blitzpalü, Marterhorn oder Tante Rosa. Wandert man im Frühjahr von Hütte zu Hütte, heißen diese im Einzelnen auch Herberge. Stehen sie näher zusammen, handelt es sich um ein ganzes Hergebirge. Damit sind wir mir nichts dir nichts schon bei der Ein- und Vielzahl angelangt. Berg: Einzahl. Berge: Leichte Mehrzahl. Gebirge: Schwere Mehrzahl. Abschließend ist mit voller Beweiskraft nur noch zu sagen, dass auch diese Winterjahreszeit, wie alle anderen, im Gebirge immer wieder vorkommt.«
Da staunen alle Freunde wieder einmal besonders über den auswuchernden, erheblichen Einfallsreichtum der munter plaudernden Studentin und ihre nimmer endende Fantasie.
Alle sind total überzeugt: »Das musst du unbedingt veröffentlichen. Das ist eine ziemlich neue Art von Nonsenslyrik!«
Darauf die Anna-Lena stolz: »Solche Geschichten fallen mir ständig ein, wenn ich beim Joggen unterwegs bin.«
Doch der Martl ist gleich wieder angriffslustig: »Hier kann man nur ergriffen sagen: blond und dumm gelaufen.«
Das hübsche Mädchen schüttelt nur den Kopf und entgegnet zum mehr als schütteren Resthaar des Spaßmachers: »Am Kopfe oben immer lichter, innen drinnen immer schlichter.«
Als dann viel später wieder ein kostbarer Tag allmählich dem Ende zugeht und früh die Dämmerung anbricht, sind überraschenderweise draußen bleischwere, dunkle Wolken aufgezogen. Es beginnt erneut zu schneien. Der Martl wirft zuerst einen zufriedenen Blick durch das Fenster und dann ein paar trockene Fichtenscheite in die funkensprühende Glut.
Er bemerkt ironisch-süffisant: »Bei so einem Wetter möchte ich nicht im Freien übernachten müssen.« Dann holt er die halb volle Whiskyflasche aus seinem Rucksack, fragt aber nebenbei: »Hoffentlich hat sich der Weinvorrat, den wir im Herbst heraufgeschleppt haben, nicht so ohne Weiteres verflüchtigt. Aber schließlich sind wir ja überhaupt keine Alkoholiker.«
Alle wissen zufrieden, dass sich dieses Weihnachten und die kostbare Hüttenromantik noch tagelang ausdehnen werden. Und zum Abschluss der feierlichen Tage steht im Stall eine alte, beinahe historische Hickory-Skisammlung bereit für den Fall, dass der Schnee wie dieses Mal überraschend und unvorhergesehen erst spät um die Weihnachtszeit eintrifft und eine zünftige Abfahrt dem mühsamen Fußmarsch ins Tal auf alle Fälle vorzuziehen ist.