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Wildkatze?


Wir haben einen anhänglichen, lieben Kater. Er ist tarnfarben grau gemustert mit seltenen Zeichnungen auf den Seiten. Offensichtlich ist er auch intelligenter als seine Artverwandten, bestimmt sogar schlauer. Aber vor allem von seinem Tonumfang her musikalischer. Dieser Bursche wurde eigentlich gesetzwidrig bei uns eingeführt und hat sich von selbst von der beinahe unberechenbaren Wildkatze zur braven, friedlichen Hauskatze geläutert. Wie es dazu kam? Das ist eine längere, aber spannende und vielleicht sogar unheimliche Geschichte:

Weiter oben am Samerberg gibt es eine abgelegene Ausflugswirtschaft mit einmaligem Ambiente. Nicht nur die normalen Speisen und Getränke wie das süffige, dunkle Bier und die feinen Torten und Gebäcksachen sind bemerkenswert, nein, auch die Aussicht von der Terrasse ist sommers wie winters beeindruckend und einmalig. Besonders, wenn die Abendsonne zwischen den Felswänden und bewaldeten Höhen abtauchen will. Dann heben sich ganz oben beinahe theatralisch-lyrisch einzelne, klar gezeichnete Baumriesen plastisch und scharf von dem allmählich in das Dunkelblau des schwindenden Tages abtauchenden Firmament ab. In trauter Runde blicken wir hinüber auf das natürliche Schauspiel. Eigentlich ist die Terrasse in dieser vorweihnachtlichen Zeit geschlossen. Aber nicht an diesem ungewöhnlich milden Dezembertag mit Frühlingstemperaturen.

Und plötzlich springt mir wie aus dem Nichts ein quirliges Fellknäuel vorwitzig auf den Schoß und blickt mir in die Augen, als wolle es sagen: »Ich bins, der fröhliche Bursche vom Samerberg.« Das kann er – wie sich später herausstellt, handelt es sich um einen Kater – zwar nicht sagen, aber sein frecher Blick und ein gedehntes, mehrere Töne, ja fast eine ganze Tonleiter umfassendes Miauen scheinen das auszudrücken. Er ist offensichtlich in Katzenkreisen musikalisch ausgebildet worden.

Ich kraule ihm den Kopf, sage einige kindische, vielleicht sogar dümmliche Silben wie »duzi, duzi, duzi«, aber blitzschnell ist er wie vom Erdboden verschwunden. Vielleicht mag er ja als intelligentes Tier solche dümmlichen Aussagen nicht. Obwohl so ein zutrauliches Wesen freilich keine Wildkatze sein kann, ist sein plötzliches Auftauchen und gründliches Verschwinden dubios.

Der Wirt dazu: »Wir wissen auch nicht, wo dieser geheimnisvolle Kater herkommt und wohin er immer so schnell verschwindet. Kein Mensch weiß das, nicht einmal meine Frau, die sonst alles weiß.«

Den spöttischen Unterton hört meine eigene Frau nicht so gern. Trotzdem fragt sie den Wirt, ob er dieses Tier vielleicht näher kennt.

»Nein«, sagt der und er wisse auch nicht, woher das Viecherl gekommen sei oder wohin es immer so schnell renne.

Diese geheimnisvolle Begegnung weckt eine unglaubliche Begehrlichkeit in meiner Frau für das möglicherweise heimatlose Tier. Bevor wir uns wieder auf den Heimweg machen, sucht meine Frau noch das umgebende Gelände zwischen den paar Bauernhöfen genauestens ab. Vergeblich. Auch zu Hause lässt ihr diese eigenartige Episode keine Ruhe.

Bereits am nächsten Tag, es ist ein Sonntag, schleppt sie mich und ihre Nichte, die sie zur Verstärkung mitgebracht hat, wieder hinauf zur Almhütte. Das Wetter hat sich geändert. Es ist wesentlich kälter geworden und nasser Schnee fällt in großen Flocken aus tiefhängenden, schwarzen Wolken. Während ich im Auto sitzen bleibe – ich habe ein mulmiges Gefühl bei dieser Sache – rücken die beiden sofort wieder suchend aus. Meine offensichtliche, ernste Warnung bezüglich Diebstahl eines Haustiers wird in den nun stürmischer werdenden Wind geschlagen. Ich soll unbedingt mit auf die Suche nach dem Tier gehen, um ihm ein Zuhause zu geben.

»Nein, ich komme nicht mit. Diese Aktion scheint mir etwas verboten und unheimlich«, sage ich trotzig. »Das könnte doch auch eine Wildkatze aus dem nahen Wald sein, das keinesfalls gefangen werden will«, fällt mir noch als Argument ein. Dann warte ich. Ich warte lange.

Mehrere Personen kommen schemenhaft und laut diskutierend die Straße herauf. Ich ducke mich tief in den Sitz, um nicht gesehen zu werden. Vorsichtig und lauernd spähe ich in den Seitenspiegel und kann drei bewaffnete Polizisten erkennen, die vielleicht auf der Suche nach üblen Straftätern umherschweifen. Wichtig redend ziehen sie allerdings am Auto vorbei. Bis auf die beiden Worte »Wildkatzen« und »Tierwohl« kann ich nichts verstehen.

Nach ein paar Minuten steige ich vorsichtig aus. Die Polizisten sind verschwunden. Zufällig streift mein Blick das nächstgelegene Bauernhaus. Und wer schaut da vorsichtig, nur mit Augen, Ohren und Nase um die Ecke? Es ist das tarnfarbene, schön gemusterte Katzentier. Ich schleiche langsam in seine Richtung. Immer noch blickt es mich unverwandt an. Als ich ihm schon ganz nahe bin – schwupp – ist es schon wie ein Blitz ins Nichts verschwunden.

Als ich diese Beobachtung pflichtbewusst den beiden Zurückkehrenden melde, sind sie, gleich wieder angespornt, sofort erneut auf der Jagd nach dem geheimnisvollen Kater. Leider wieder vergeblich. Nach längerer Suche kommen sie niedergeschlagen zurück. Es ist inzwischen finster geworden und mit dem stärker werdenden Schneetreiben hängt ein weißer Vorhang vor der Kulisse der Nacht und den paar Bauernhäusern. Die Jagd wird endlich ungelöst und aussichtslos abgebrochen. Aber so schnell geben die beiden keineswegs auf. Sie beraten sich ausführlich über das weitere Vorgehen.

Einen Tag später sind wir schon wieder oben in den Jagdgefilden. Die Gaststätte ist geschlossen. Ein Schild mit der Aufschrift »Weihnachtsferien« hängt an der schön gemusterten, alten Eichentüre. Doch der freundliche Wirt kommt wie gerufen zufällig heraus. Auf das Trommelfeuer von konspirativen Fragen der beiden Tierjägerinnen schüttelt er nur den Kopf.

Dann sagt er nachdenklich: »Das ist ein eigenartiges Viecherl. Es ist da und dann ist es wieder weg. Manchmal erscheint es kurz am Fressnapf unseres schwarzen Katers, frisst ihn in Sekunden leer, und bis der bequeme, alte Kerl die Situation erfasst hat, verschwindet es gleich wieder blitzartig. Ich glaube überhaupt nicht an mystisches Geschwätz. Aber auch der Girgel, unser Nachbar vom Bauernhof drüben, ist fest überzeugt, dass hier etwas Mystisches im Spiel sein muss. Sein Bub, der Seppi, wollte es mit seinem Freund schon ein paarmal einfangen. Einmal lauerten sie mit einem Sack unten im Stall, wo es gerade noch vorbeigewischt war. Gerade als sie unverrichteter Dinge wieder abziehen wollten, zog ein eigenartiges Miauen ihre Blicke nach oben. Da saß der freche Bursche auf einem Querbalken und ließ fast eine ganze Tonleiter miauend auf die beiden tumben Knaben hinabklingen. Dazu muss ich aber leider auch sagen, dass die zwei nicht die Schnellsten und auch nicht die Schlauesten sind. Das hat mir der Herr Lehrer gesteckt, der oft zum Kartenspielen bei uns aufkreuzt. Aber trotzdem geht seitdem die Vermutung um, dass hier höhere, sogar unheimliche Dinge mitspielen müssen.

Manchmal ist der Herr Pfarrer von der Filialkirche im Dorf unten in unserer Wirtschaft nicht nur beim Schafkopfen zugegen. Er schwärmt auch vom süffigen dunklen Bier, das hier ausgeschenkt wird. Natürlich haben wir ihm die seltsame Geschichte ausführlich erzählt. Aber der hat nur ungläubig den Kopf geschüttelt, bis – ja bis er einmal gemütlich bei einer frischen Mass auf der Terrasse saß, und plötzlich sprang das geheimnisvolle Viecherl aus dem Nichts auf seinen Schoß. Verwundert wollte er streichelnderweise einen Kontakt mit dem Burschen aufnehmen, doch der tauchte nur mehrmals kurz seine Pfote in den vollen Masskrug, leckte sie ab und – schwupp – schon war das Tier wieder total verschwunden. Seitdem ist auch er – selbst als approbierter Kirchenmann – nicht mehr ganz so sicher, ob da alles mit rechten Dingen zugeht. Er behauptet sogar steif und fest, der Kater habe ihn grinsend angesehen und den Kopf geschüttelt. ›Bestimmt ist er sogar alkoholsüchtig‹, meinte er noch nachdenklich. ›Und morgen hat er sicher einen Kater!‹ Allerdings hatte der Pfarrer da bereits drei Mass Bier intus.«

Der Seppi und sein Freund, die beide als fleißige Ministranten einen guten Kontakt zur Geistlichkeit haben, tragen nun auch dazu bei, die Sache etwas seltsam zu finden. Jedenfalls ist auch ein Beauftragter vom Tierschutzverein, der zufällig zu einem veganen Abendbrot vorbeigekommen war, wegen dieser tierisch-eigenartigen Sache konsultiert worden. Er wurde als Fachmann immer wieder zu diesem phänomenalen Thema befragt.

»Wir dürfen da nicht voreilige Schlüsse ziehen, solange nichts Näheres bekannt ist«, konnte er unbedarft und beruhigend feststellen. »Eine echte Wildkatze ist das aber mit Sicherheit nicht«, hat er gleich noch abschließend bestimmt. Er ist leider nicht so oft in der Wirtschaft, weil er Antialkoholiker und Veganer bleiben will, aber neulich hat ihn der Herr Pfarrer überredet, doch wenigstens auch einmal das gute dunkle Malzbier aus einer renommierten Brauerei zu probieren. Es ist dann nicht bei dem einen Glas geblieben. Unsicheren Schrittes hat er viel später die gemütliche Wirtschaft hinter sich gelassen. Weit war es nicht bis zum Auto. Leider sind schon wieder die drei Polizisten unterwegs gewesen, weil sie nach einer Konferenz beim Schneiderwirt unten nicht heimfahren, sondern gehen wollten. Den Führerschein vom Naturschutzbeauftragten mussten sie leider einziehen. Seitdem kommt der Herr Naturschutzbeauftragte jetzt öfter, sogar mit dem Vorstand des Vereins, der auch keinen Führerschein mehr besitzt – komischerweise ebenfalls Veganer – zu Fuß hier herauf. Und weil es sowieso egal ist, verköstigen die beiden neuerdings ungezwungen das gute dunkle Malzbier in größeren Mengen und bestellen ein pflanzliches Menü dazu.

Schmunzelnd bemerke ich: »Das ist ja beinahe eine Veganerdemonstration, also fast ein Gemüseauflauf mit den beiden!« Der musikalische Wirt, der die Wirtschaft nun doch für heute wieder geöffnet hat, holt die Zither aus dem Schrank, setzt sich gemütlich dazu, und schon klingt und singt es durch den Abend. Der Bierbrauer, Komponist und Zitherkünstler Herr Georg Freundorfer mit seinen vielen tollen Schellackplatten wird endlich wieder einmal zum Leben erweckt. Alle sind begeistert. Draußen wird es allmählich eisig kalt, und da passt drinnen der Titel der Freundorferschen Zithermusik bestens dazu. Es erklingt der Ländler »Im Gletscherrausch«. Und weil die Polka »Hoppla, Hoppla!« aber dann vor allem den Zustand der leicht angetrunkenen Gäste widerspiegelt, ist es nicht mehr so tragisch, als auch noch der »Gruß an den Obersalzberg«, wo der Hitler damals wohnte, erklingt. Der Herr Freundorfer hat aber den schneidigen Marsch später schnell umbenannt. Der unverfängliche, neutrale Titel heißt daher heute problemlos »Gruß an Oberbayern«.

Inzwischen sind wir bereits zum fünften oder sechsten Mal da oben, um den verwunschenen Kater einzufangen. Das plötzliche Auftauchen und Verschwinden des Tiers wird immer geheimnisvoller. Das stachelt natürlich meine Frau und auch die eifrige Nichte noch erheblicher an. Sinnig bemerke ich: »Da könnte euch doch wirklich der Herr Pfarrer für einen Erfolg seinen Segen dazu geben«, doch auf mich hört ja niemand. Aber – nach all den immer unglaublicher werdenden Geschichten – beim letzten Versuch hat sich das Problem wie von selbst gelöst.

Dieses Mal bin ich geradezu bedrängt worden, auf Katzenfang mitzugehen. Vielleicht habe ich den Ausschlag geben? Oder die Damen haben eine höhere Eingebung erhalten, um mich in die Jagd einzubinden. Der Suchradius hat sich inzwischen erheblich erweitert, bis hinüber zum Wald. Ich muss widerwillig mit einem Kartoffelsack gewappnet das Auto verlassen. Was für ein dämliches Bild ich doch abgebe. Da tönt plötzlich das dunkle Kläffen eines großen Hundes herüber. Wir lauschen unentschlossen und vielleicht sogar furchtsam. Also zumindest ich.

»Ob das ein böser Prontosaurier ist?«, frage ich scherzhaft. Meine Frau bleibt sofort stehen und sieht mich fast bedauernd an.

»Jetzt reichts aber wirklich. Jeder außer dir weiß doch, dass die längst ausgestorben sind. Alle!« Das meint sie vollkommen ernst.

»Da habe ich wieder was dazugelernt«, sage ich untertänig nickend.

Dann kommen wir beim großen, bellenden Hund an. Und wer sitzt über ihm, oben in der einsam stehenden, aber mächtigen Linde? Er ist es. Wir beruhigen streichelnd – also meine Frau und die furchtlose Nichte – den riesigen Bernhardiner-, Wolfs-, Schäfer- und vielleicht noch einige andere versteckte, gemischte Sorten beinhaltenden Hund. Er trollt sich knurrend von hinnen nach dannen oder sonst wo hin. Und dann die größte Überraschung: Echt zutraulich springt da einer vom Baum und vollführt vor unseren Füßen ein interessantes, beinahe melodisches Miaukonzert, reckt sich und streckt sich und führt einen Schautanz auf wie ein Moriskentänzer. Da ist mir bewusst: Endlich ist die Jagd zu Ende, und nicht einmal ist der vorsorgliche Kartoffelsack zum Einsatz gekommen. Er – nicht der Kartoffelsack – lässt sich schnurrend auf meinen Arm nehmen, und ich fühle mich wie ein Held. Das bestätigen mir offiziell auf Nachfrage sowohl meine Frau als auch die kritische Nichte: Ich bin ein stolzer Katerflüsterer. Dieser zutreffende Titel macht mich sehr selbstbewusst.

Alle sind hochzufrieden, vor allem meine Frau, aber auch die Nichte. Da bin ich es auch. Und einen passenden, schönen Namen haben die beiden für das interessante Tier und seinen Tonumfang auch schnell gefunden: Quartl, von der musikalischen Bezeichnung »Quarte«. Seitdem freue ich mich jeden Tag aufs Neue, wenn er schon am Morgen seine vielfältigen, beinahe harmonischen Künste erklingen lässt.

»Da könntest du auch noch einiges für deine Gesangs- und Jodelkünste lernen«, meint meine Frau boshaft. Ich bin aber so frei und höre überhaupt nicht hin.

Weihnachtsfieber

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