Читать книгу Weihnachtsfieber - Wolfgang Schierlitz - Страница 8

Оглавление

Der kühne Abenteurer


Es gibt Menschen, die sind geboren als Globetrotter. Bereits in jüngsten Jahren schauen sie sehnsüchtig aus dem Kinderwagen in die weite Welt hinaus und wollen sofort losreisen. Und jeder, der es noch nicht weiß: Das ist auch ihre Bestimmung, der Ruf der Sehnsucht, der Ruf der Wildnis. Können sie sich dann einigermaßen fortbewegen, so gibt es kein Halten mehr.

»Ja Sakradie, jetz is der Kerl schon wieder von der Küche in das Wohnzimmer hinübergerobbt«, meinte der konservative Vater genervt. Da zog sich der Junge sportlich am Christbaum hoch, bis der schön geschmückte Baum leider - schepper, klirr - umfiel und die bunten, glänzenden Kugeln krachend am Boden zersplitterten. Die Kerzen, die bisher prächtig und selig in dieser frohen Zeit geleuchtet hatten, rauchten nur noch gewaltig. Glücklicherweise wurde der Zimmerbrand gerade noch gelöscht, bevor die wachhabende Feuerwehr von wachsamen Anwohnern verständigt werden musste. Scherben und Kerzen sind nicht immer Glücksbringer, aber vielleicht für den Malefitzkerl, der unter den Zweigen, dekorativ geschmückt und verziert, hervorkroch und erfreut über das ganze Gesicht und die gewaltige Bescherung grinste. Mit reichlich Lametta um die Ohren und Tannennadeln auf der kleinen, noch haarlosen Birne hatte er seinen ersten, aufsehenerregenden, großartigen Auftritt.

Die fleißige, sparsame Mutter war auch später immer wieder überfordert von dem abenteuerlustigen, zappeligen Martl: »Ja mei, er is ja auch schon von unserem Dorf nach München marschiert. In sehr jungen Jahren. Mit acht.« Damals war München bereits eine kleine Großstadt und es waren immerhin an die acht Kilometer bis zu seinen Verwandten, die der Kleine zu Fuß zurückgelegt hatte. Also für jedes Lebensjahr ein ganzer Kilometer.

In späteren Jahren wurde er noch stärker von seiner Abenteuerlust geprägt. So verschwand er auch einmal plötzlich, wenn auch nicht für sehr lange, als er mit dem Radl zum Kramer ins Nachbardorf hinüberflitzte. Wegen Pfefferminzkugeln und Himbeerbonbons. Zurück musste er allerdings schieben, weil ein Reißnagel auf der Straße gelegen hatte und der Reifen platt war. Auch als Pfadfinderanführer erlebte er viele Abenteuer. Genau wie in seiner Bundeswehrzeit.

»Aber das war leider insgesamt eine langweiligere Zeit voller Drill und Befehlsempfang. Doch manchmal durfte ich problemlos sogar selber denken«, erinnert er sich amüsiert an diese vergangenen Tage. Das alles ist jetzt schon einige Jahre her. Nachträglich kann man dazu nur sagen: »Wie immer ist die Zeit mit ihrem vergangenen, kunterbunten Erleben schneller geflüchtet, als man schauen kann. Beinahe mit Lichtgeschwindigkeit.« Und heute?

Heute ist der Martl fast überall anzutreffen. Also zumindest in unserer näheren Umgebung. Auch als Bergbesteiger und Skifahrer, aber auch als Unterhalter auf den Hütten oben schätzen ihn seine Freunde immer noch wegen seiner humorvollen, unkomplizierten Art. Solche munteren Naturburschen sind überall gerne gesehen. Besonders, wenn sie wegen ihrer reichlichen Fantasie mehr oder weniger wahre Geschichten spannend erzählen können. Und wenn auch der liebe Gott alles weiß – der Martl weiß noch mehr.

Schon wieder ist das alte Jahr nur noch ein Schatten. Es weihnachtet in Kürze erheblich im ewigen Kreislauf der schnell wechselnden Ereignisse. Wie jedes Jahr um diese Zeit stapft der Martl durch den Schnee von der Nachbarklause zu seinen Freunden hinüber. Das Gesicht hat er gegen die Kälte mit einem dicken Schal bedeckt. Er klopft heftig an die frostige Scheibe und schaut durch das Hüttenfenster hinein. Es sind aber nur die Anna-Lena und der Detlef ohne die anderen Freunde drin, und die beiden erschrecken erst einmal gewaltig über die unheimliche, vermummte Erscheinung da draußen im unwirklichen Licht des Mondes. Es dauert einige Zeit, bis sie ihren vorwitzigen Freund erkannt haben. Außerdem wissen sie genau: Die Schwerverbrecher sind ja in unseren Alpengegenden äußerst selten, und die wenigen Kriminalfälle da heroben sind kaum der Rede wert.

Der Ofen summt und knistert behaglich, und draußen strahlt der volle Mond über sein ganzes breites Goldgesicht. Dem Martl seine immer realistische, langjährige Freundin, die zurzeit unstet mit dem Fahrrad irgendwo durch eine südliche, kahle Steppe gondelt und sonst oft seine blühenden Fantasien einbremst, hört ihn hier nicht. Daher gehen seine Wunschträume wie gewohnt mit ihm durch, und schon erzählt er unbegrenzte, spannende Abenteuer von seinen nicht nachprüfbaren, eigenartigen Erlebnissen rund um die ganze, immer kleiner werdende Welt.

»Einmal war ich persönlich um die Weihnachtszeit in Lappland, da oben bei diesen freundlichen Lappen. Dort ist ständig Wintereinbruch. Das ist schon fast wie eine Straftat, diese ständige Art von Einbruch. Da habe ich mit den Leuten am Inarisee gefeiert. Ich bin beinahe selber ein echter Lappe geworden. Mit reichlich schnapsverfeinertem Glühpunsch. Und dann sind wir alle immer lustiger ausgeartet. Vielleicht waren wir sogar etwas betrunken. Also ich bestimmt. Die sprechen angeblich alle problemlos vier Sprachen. Das muss man sich einmal vorstellen. Finnisch, Nordsamisch, Inarisamisch und bestimmt sogar das eigenartige Skoltsamisch. Bloß überhaupt kein einziges Wort Deutsch oder Bayerisch. Ich bin da leider auch überhaupt nicht bewandert. Also ich meine mit dieser komplizierten Sprachauswahl. Ich habe auch kaum etwas verstanden. Genauer gesagt gar nix. Das wurde aber überhaupt nicht erwartet. Diese eigenartigen, netten Leute leben da oben glücklich in eine harte Kältezone hinein mit reichlich Eis und Schnee vor der Hütte, bestimmt schon viele tausend Jahre, mitsamt ihren bunten Traditionen und ihren vielen Millionen verwilderten Rentieren, die ständig über die ausgedehnte Weite dahintraben und bescheiden zu ihrem Lebensunterhalt ein paar Grashalme unter dem Schnee ausgraben. Ich habe ihnen dann unsere stolze bayerische Art erklärt, von der sie anscheinend noch nie etwas gehört hatten, weil vielleicht noch kein einziger echter Bayer bei ihnen und den Rentieren oben gewesen ist. Ich habe ihnen vorgeschwärmt von unserem herrlichen Alpengebirge: Vom Edelweiß vorne am Hosenträger, von den deftigen, alten Bräuchen, vom Schäfflertanz, vom Watschentanz, von der Polka bis zum Zwiefachen, von der ledernen Hose und dem prächtigen Gamsbart am Trachtenhut oben. Aber weil sie überhaupt nix verstanden haben, habe ich zu einem anderen, überall verständlicheren Mittel gegriffen. Zum Beispiel zum klingenden Jodlergruß. Da haben sie sofort beinahe astrein mit eingestimmt, wenn auch nicht so geschult wie ich, schließlich habe ich in unserem Trachtenheim einen lehrreichen Kurs bravourös bestanden. Wir sind damals alle mit Handschlag und Diplom als Jodlerkönige vom Vereinsvorstand persönlich ausgezeichnet worden. Da braucht man überhaupt keine Worte, keinerlei sinnvolle Sprache.

Die überlieferte, jodlergeschichtliche Seite zeigt auch, dass sogar die Pygmäen im Kongo lange schon vor uns und ohne Kurs aus vollem Halse freudig gejodelt haben, wenn sie auf der Suche nach einer Brotzeit diese endlich gefunden hatten. Und auch die amerikanischen Countrysänger und die Jazzmusiker machen das heute immer noch. Diese munteren Künstler sind echte, spaßige Jodlerfreaks. Damit macht man einfach in der Prärie oder sonst wo die größtmögliche Gaudi ohne Worte. Und das versteht jeder, ob er will oder nicht.

Eine kleine Ausnahme ist vielleicht der klassische Kammersänger, weil er ganz anders, wesentlich länger und viel ernster mit echten Partituren ausgebildet worden ist als der Jodler. Außerdem geht das mit dem freien Gejodel zurück bis in die graue Vorzeit hinein oder noch weiter. Also bei uns in Bayern mindestens bis ins 19. Jahrhundert. Frisch von der Leber weg habe ich dann da oben ungefähr eine halbe Stunde gejodelt. Diese ursprünglichen Samer haben mich völlig verstanden, auch wenn sie sprachmäßig auf einer anderen Wellenläge kommunizieren. Das sind echte, sinnfreie, sinnlose Silben und vom überschlagenden Kehlkopfklang bis zum tiefen, satten Brustton versteht das auch sonst jeder, wenn er aufrichtig lauscht und mitdenkt. Wenn sie ihre verstreuten Herden ab und zu zusammentreiben, haben diese Leute ihre eigene Art Gejodel entwickelt. Leider nicht ganz so prägnant und klangvoll wie bei uns im bayerischen Oberland, sondern viel rauer, aber echt unheimlich, laut und urwüchsig. Das haben sie nicht nur mir eindringlich vorgeführt. Denn da haben sogar ihre Rentiere sämtliche Ohren gespitzt und ehrfürchtig zugehört.«

Weihnachtsfieber

Подняться наверх