Читать книгу Die Psychoanalyse nach Freud - Wolfgang Schmidbauer - Страница 4
ОглавлениеAls Freud von dem amerikanischen Psychologen und Pädagogen G. Stanley Hall 1909 eingeladen wurde, zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark-Universität in Worcester, Massachusetts, Vorlesungen über Psychoanalyse zu halten, war das ein Zeichen, dass seine Gedanken wirklich Fuß gefasst hatten und als das anerkannt wurden, was bis heute gilt: Signal für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit seelischen Erkrankungen. In diesen Vorlesungen beschreibt Freud den Schritt zur Psychoanalyse und leugnet gleichzeitig, dass sie seine Entdeckung sei (was er später, in »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« zurückgenommen hat). Vielmehr habe sein älterer Freund und Kollege Josef Breuer die Psychoanalyse entdeckt, als er Anna O. behandelte. Noch genauer könnte man sagen, dass Anna O. die Psychoanalyse entdeckte.
Die Fallgeschichten in den »Studien über Hysterie«, in der Breuer seine Kur an Anna O. schildert, sind durchsichtig verschlüsselt: Die Anfangsbuchstaben rücken einen Schritt im Alphabet nach vorne, ein neuer Vorname wird passend gewählt. Anna O. hieß Bertha Pappenheim; sie kam aus einer reichen jüdischen Familie und wurde später eine Pionierin der Sozialarbeit, die gegen den grausamen Brauch im Ostjudentum kämpfte, Töchter an Bordelle zu verkaufen. Von Psychotherapie wollte sie übrigens später nichts mehr wissen.
Unsere Geschichte beginnt ca. 1880 mit einer chronischen seelischen Überforderung. Anna O. erkrankte, nachdem sie ihren Vater gepflegt hatte, an multiplen Lähmungen, einer schweren Essstörung und bizarren Symptomen wie der Unfähigkeit, ihre Muttersprache zu sprechen; sie kommunizierte dann mit ihrem Arzt auf Englisch und nannte, was er mit ihr machte, »talking cure« (Redekur, Gesprächstherapie) oder »chimney sweeping« (Kaminfegen, »kathartische« Therapie).
Etwas hat Breuer an seiner Patientin gefesselt (wir wissen heute, dass die Geschichte von Anna O. und Breuer auch eine der ersten Geschichten von Übertragung und Gegenübertragung ist). Jedenfalls gab er sich nicht damit zufrieden, ihr gut zuzureden, sie mit Beruhigungsmitteln zu behandeln und im Übrigen festzustellen, dass ihr Körper an sich gesund und die Symptome daher »nervös« oder »neurotisch« seien. Er beschäftigte sich lange mit ihr, hörte genau zu, wenn sie von ihren Tagträumen erzählte und entdeckte, dass sie sich dadurch für einige Stunden wie befreit und fast normal fühlte. Aber die Symptome kehrten immer wieder zurück.
Schließlich fand Breuer aber, dass manche Symptome für immer verschwanden, wenn er Anna O. hypnotisierte und sie dazu brachte, sich an ein Erlebnis zu erinnern, das sie nicht hatte verarbeiten können und deshalb aus ihrem Erleben gedrängt hatte. Alle Ereignisse, die später zu Symptomen geführt hatten, waren verdrängt worden, als Anna O. ihren schwer kranken Vater pflegte. So konnte Breuer die Sehstörungen seiner Patientin beseitigen, indem er sie dazu brachte, sich an eine Szene zu erinnern, in der Anna O. weinend am Krankenbett saß und deshalb die Uhr nicht ablesen konnte, als ihr Vater erwachte und sie nach der Zeit fragte. Ihre Lähmung im rechten Arm hing damit zusammen, dass sie einmal am Bett saß und einen Wachtraum hatte, in dem eine Schlange auf den Vater zu gekrochen kam. Sie konnte diese Schlange nicht vertreiben, denn der rechte Arm, mit dem sie es tun wollte, war eingeschlafen, da er über der Stuhllehne hing. Er war empfindungslos geworden. Sie wollte jetzt in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte ihr, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand.
Mit der Aufklärung dieser Szenen waren die Armlähmung und die Unfähigkeit, eine andere Sprache als Englisch zu sprechen, verschwunden. Breuer und Freud zogen daraus den Schluss, dass die hysterischen Kranken an Erinnerungen leiden, dass ihre Symptome verschüttete, traumatische Erlebnisse in symbolischer Form ausdrücken.
Freud verwendet hier eine seiner schönen Metaphern: Auch Monumente, denen wir auf Reisen begegnen, sind Erinnerungssymbole. Wer London besucht, entdeckt vielleicht die reich verzierte gotische Säule, das Charing Cross, nach dem ein großer Bahnhof benannt ist. Dieses Kreuz wurde von einem der alten Könige aus dem Geschlecht der Plantagenet errichtet, der im 13. Jahrhundert den Leichnam seiner geliebten Frau Eleanor nach Westminster überführen ließ. Es bezeichnet die Stelle, wo der Trauerzug zuletzt rastete, ehe die Begräbnisstätte erreicht war.
»Aber was würden Sie zu einem Londoner sagen, der heute noch vor dem Denkmal des Leichenzuges der Königin Eleanor in Wehmut stehen bliebe, anstatt mit der von den modernen Arbeitsverhältnissen geforderten Eile seinen Geschäften nachzugehen oder sich der eigenen jugendfrischen Königin seines Herzens zu erfreuen?«2
Die Erinnerungen, unter denen die Hysteriker leiden, sind vor allem starke Affekte, die zur Zeit ihres ersten Auftretens im Seelenleben keinen Platz haben durften. Daher nannte Breuer seine Behandlung »kathartisch«, nach dem griechischen Wort für Reinigung. »Katharsis« als seelische Befreiung war schon in der Antike als Wirkung des Tragödienspiels auf den Zuschauer beschrieben worden.
Zum ersten Mal beobachtete das Breuer, als Anna O. nicht mehr trinken konnte und trotz heftigen Durstes das ersehnte Glas Wasser zurückstieß. Nach einigen Wochen erinnerte sie sich in der Hypnose plötzlich an eine Szene, in der sie ihre englische Gouvernante beobachtet hatte, wie diese einen kleinen Hund, ein ekelhaftes Vieh, aus einem Wasserglas trinken ließ. Anna O. hatte damals ihren heftig aufwallenden Ekel unterdrückt; jetzt in der Hypnose gab sie ihm energisch Ausdruck, verlangte anschließend zu trinken und erwachte, das Glas noch an den Lippen, seither von dieser Störung völlig geheilt.
Diese Entdeckung Breuers ist für die Geschichte der Psychotherapie sehr wichtig: Zum ersten Mal erkannte man, dass ein hysterisches Symptom kein willkürliches Produkt eines geschwächten Gehirns ist, sondern dass es durch seelische Vorgänge geprägt oder, wie Freud sagte, determiniert wurde. Nach dem griechischen Wort für Verwundung, Trauma, nannte man auch diese seelischen Verletzungen Traumen, wobei bereits Breuer erkannte, dass viel öfter als ein einzelnes Trauma (wie im Fall des trinkenden Hundes) eine ganze Kette von Traumen die Neurose verursachte.
Breuer verglich die hysterischen Symptome mit einem jener Befehle, die der Hypnotiseur während einer tiefen Hypnose erteilt und die später von der Versuchsperson ausgeführt werden, ohne dass diese einen Grund für ihre Handlung angeben kann. Er glaubte, dass Erlebnisse in einem hypnoiden Zustand (den man heute oft auch Trance nennt: ein Zustand des »Übergangs«, in dem Menschen besonders gut beeinflusst werden können) besonders leicht zu Traumen werden. Werden sie nun wieder erinnert, so wirkt diese Erinnerung reinigend, kathartisch; Breuer nannte sein Verfahren Psychokatharsis; die eingeklemmten Gefühlserregungen sollten in der Hypnose abreagiert werden.
Die kathartische Methode enthielt also bereits einen wichtigen Schritt zur Psychoanalyse, übrigens auch einen, der später oft das Missverständnis unterstützt hat, in der Psychoanalyse ginge es um die »Befreiung unterdrückter Triebe«. Das ist grundfalsch; es geht um die Stärkung der Triebkontrolle, indem problematische Mittel (wie die Verdrängung) durch reifere (wie das bewusste Urteil) ersetzt werden.
In der Psychokatharsis wurden die neurotischen Symptome nicht mehr durch Gegensuggestionen unterdrückt, wie es die damals berühmten Neurologen der Schule von Nancy (Liebault, Bernheim) machten. Auch Breuer suchte schon nach einer kausal-aufhellenden, die Ursachen der Neurose selbst angreifenden Behandlung.
Als Breuer den Fall Anna O. in dem sonst von Freud verfassten Band der »Studien über Hysterie« beschreibt, wirkt Bertha Pappenheim geheilt. Die Wahrheit sieht anders aus. Breuer hatte die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreiche Behandlung am 7. Juni 1882 beenden wollen. Aber da geschah etwas Unheimliches. Er wurde am Abend desselben Tages zu Bertha gerufen. Sie war sehr erregt, wand sich unter »Geburtswehen« und sagte, das »Kind« sei von ihm. Breuer versuchte vergeblich, seine Patientin durch Hypnose zu beruhigen und verließ dann fluchtartig das Haus.
Damit war auch die Arzt-Patient-Beziehung gescheitert. Bertha wurde in den nächsten Jahren in verschiedenen Sanatorien behandelt, unter anderem wegen einer Morphinsucht, die während der Arbeit mit Breuer entstanden war.
Breuer ging in seiner Behandlung weit über das hinaus, was ein Arzt normalerweise tut. Über mehr als ein Jahr hin besuchte er die Kranke oft zweimal täglich und sprach lange mit ihr. Nach Anfangserfolgen verschlechterte sich Berthas Zustand derart, dass Breuer sie in ein Sanatorium einweisen ließ. Bertha reagierte mit verstärkter Anorexie und Selbstmordversuchen; Breuer nahm täglich mehrstündige Kutschfahrten auf sich, um die Behandlung weiterzuführen. Er gab Bertha Morphium, so dass sie süchtig wurde, verordnete spezielle Diäten, fütterte Bertha, die sich eine Weile darauf kaprizierte, nur aus seiner Hand Nahrung anzunehmen.
Breuers Biograf hat diesen grenzenlosen Einsatz des Arztes von Bertha Pappenheim damit verknüpft, dass Breuers Mutter starb, als dieser drei Jahre alt war. So war Bertha genauso alt wie Breuers Frau Mathilde, als er sie heiratete, und wenig jünger als dessen Mutter, als er sie verlor.3 Ernest Jones rückt in seiner Freud-Biografie Breuer in ein schlechtes Licht, indem er ihm unterstellt, er habe Berthas Behandlung abgebrochen, um mit Mathilde eine zweite Hochzeitsreise nach Venedig zu machen. Er mystifiziert die Angelegenheit noch weiter durch seine Behauptung, auf dieser Reise sei Breuers jüngste Tochter gezeugt worden, die »nach sechzig Jahren Selbstmord begehen« sollte.4 In Wahrheit wurde diese Tochter bereits drei Monate vor der Beendigung der Behandlung von Anna O. geboren, und Breuer verbrachte in diesem Jahr seine Ferien am Traunsee.5
Freud wusste, dass Breuers Entdeckungen, die sich dem offenen, vorurteilslosen Zuhören schuldeten, ebensolche Pioniertaten waren wie seine eigenen. Und er ahnte womöglich, dass Breuers Resignation nach der Therapie von Anna O. ihn davor bewahrt hatte, angesichts ähnlicher Enttäuschungen zu kapitulieren.
Die frühen Krankengeschichten Freuds, die alle Frauengeschichten sind, verraten noch an vielen Stellen, wie sehr die Entdeckung der Psychoanalyse dadurch mitgeprägt wurde, dass sich dieser junge, ehrgeizige Arzt dort, wo seine Kollegen ihm nichts Brauchbares mitzuteilen wussten, von seinen Patientinnen belehren ließ. So hat Fanny Moser, deren Deckname in den »Studien über Hysterie« »Emmy v. N.« lautet, Freud die »Grundregel« beigebracht. Sie tadelte, dass er sie durch Fragen peinige, und forderte ihn auf: »Ich solle sie nicht immer fragen, woher das und jenes komme, sondern sie erzählen lassen, was sie mir zu sagen habe.«6
Freud konnte viele – und vor allem die zahlungsfähigen Patientinnen aus dem gehobenen Bürgertum – nicht ausreichend tief hypnotisieren. Mit einer reiste er sogar zu dem damals berühmtesten Hypnotiseur, zu Hippolyte Bernheim nach Nancy. Aber dieser scheiterte ebenso wie Freud an ihrem Widerstreben. Bernheim gestand dem Wiener Besuch, dass er spektakuläre Erfolge mit Hypnose nur bei den mittellosen Spitalpatienten erziele, während sich gebildete Privatpatienten (auf die Freud angewiesen war) nicht hypnotisieren ließen.
Daher wollte Freud nun ohne die Hypnose zu den seelischen Traumen vordringen, die bereits Charcot als Ursache der Hysterie angesehen hatte. Eine Erinnerung an Bernheim kam ihm zu Hilfe. Sie belegt, dass die Rede über Hypnose ähnlich hypnotisch ist wie die Hypnose selbst. Oft heißt es nämlich, Hypnotisierte würden sich an nichts erinnern, wenn man ihnen den Auftrag gäbe, zu vergessen. Aber so einfach ist das nicht, wie es uns Hollywoodfilme über den Mord im posthypnotischen Auftrag7 oder die Belebung des komplett vergessenen Traumas in Hypnose weismachen wollen. Weder das Gedächtnis noch das Vergessen arbeiten wirklich zuverlässig.
Wenn sich ein Patient nach der Hypnose nicht erinnern konnte, was während des somnambulen Zustandes geschehen sei, war es Bernheim sehr oft gelungen, durch eindringliches Zureden, er wüsste es gewiss, wenn er nur nachdrücklich genug nach den verlorenen Erinnerungen suche, zuerst ein Stück und schließlich den gesamten Inhalt der Hypnose wieder zu erwecken. Wie Bernheim legte auch Freud den wachen Kranken die Hand auf die Stirn und versicherte ihnen, sie könnten sich erinnern, wie die vergessene, krankmachende Szene beschaffen gewesen sei, sie würde ihnen unter dem leichten Druck der Hand des Arztes einfallen. Und er hatte manchmal Erfolg, obschon sich das Verfahren als anstrengend und zeitraubend erwies.
Vielfach brachte sein Drängen keine brauchbaren Erinnerungen an den Tag, wohl aber Anspielungen, scheinbar unzusammenhängende Erlebnisse. Freud bewies hier seinen geistigen Rang, seine Fähigkeit, schnell komplexe Zusammenhänge zu ordnen und zu erklären. Er machte aus den Bruchstücken wieder etwas Ganzes, mehr noch: etwas Besseres als das, was durch Hypnose erreichbar war.
So entstand die zentrale Methode der analytischen Psychotherapie: die Technik der freien Einfälle oder – so das Fachwort der damaligen Psychologie – Assoziationen. Freud bat die Kranken, sich in ihren Mitteilungen gehen zu lassen, wie man es in einem Gespräch tut, bei dem man aus dem Hundertsten in das Tausendste gerät. Nichts darf weggelassen werden mit dem Bedenken, es sei nicht wichtig, unsinnig, anstößig oder unzugehörig.
Forderte Freud seine Kranken zu solchem freien Assoziieren auf, dann fanden sich bald Stockungen in den Einfällen. Der zeitliche Zusammenhang zerriss, Lücken traten auf, die sich nicht schließen wollten, auch wenn der Therapeut den Kranken eindringlich auf sie hinwies. Freud entwickelte daraus das Konzept des Widerstands, der sich dagegen richte, verdrängte Erlebnisse zum Bewusstsein zuzulassen.
Jetzt wurde Freud auch klar, warum die Hypnose so oft versagt. Ihr gelingt es nicht, den Widerstand deutlich zu machen, da sie den Kranken in einen Zustand eingeengten Bewusstseins versetzt und auf diese Weise diesem Problem ausweicht. Mit diesem Schritt von der Psychokatharsis zur Psychoanalyse wurde nicht mehr das Abreagieren der krankmachenden, gestauten Gefühle angestrebt, sondern die Überwindung des Widerstands gegen die Rückkehr des Verdrängten und mit ihr der Ersatz der Verdrängung durch das bewusste Urteil.
Auch vom Abbruch einer Behandlung, weil eine Patientin zu heftige erotische Wünsche äußert, berichtet Freud. Breuers panische Flucht verwandelt er allerdings in einen taktischen Rückzug: von der Manipulation durch Hypnose schreitet er zur Analyse der Manipulationen, welche die Kranke verinnerlicht hat und nun in der therapeutischen Situation neu inszeniert. Diese Aufmerksamkeit für die Beziehung zu den Kranken war die wesentlichste Voraussetzung der Psychoanalyse.
Freud stellte fest, dass »selbst die schönsten Resultate« der hypnotischen Behandlung »plötzlich wie weggewischt waren, wenn sich das persönliche Verhältnis zum Kranken getrübt hatte«, dass also »die persönliche affektive Beziehung doch mächtiger war als die kathartische Arbeit«.8 Und die erotischen Wünsche sind eine mächtige Ursache solcher Trübungen.
»Als ich einmal eine meiner gefügigsten Patientinnen… durch die Zurückführung ihres Schmerzanfalls auf seine Veranlassung von ihrem Leiden befreite, schlug sie beim Erwachen ihre Arme um meinen Hals. Der unvermutete Eintritt einer dienenden Person enthob uns einer peinlichen Auseinandersetzung, aber wir verzichteten von da an in stillschweigender Übereinkunft auf die Fortsetzung der hypnotischen Behandlung.«9
Die Frau und der Arzt verhalten sich wie ertappte Liebende, die ein unerlaubtes Verhältnis stillschweigend beenden. Aber Freud ist nicht so traumatisiert wie Breuer, der seine Erlebnisse verdrängen möchte und sich nie wieder psychotherapeutisch so engagiert hat wie bei »Anna O.« Er betont seine Selbstkritik: »Ich war nüchtern genug, diesen Zufall nicht auf die Rechnung meiner persönlichen Unwiderstehlichkeit zu setzen und meinte, jetzt die Natur des mystischen Elements, welches hinter der Hypnose wirkte, erfasst zu haben. Um es auszuschalten oder wenigstens zu isolieren, musste ich die Hypnose aufgeben.«10
Auf der anderen Seite ist es gerade diese Liebe, welche die Möglichkeit in sich trägt, die Patientin dauerhaft zu verändern. Im Dezember 1906 schreibt Freud an Jung: »Ihnen wird es nicht entgangen sein, dass unsere Heilungen durch die Fixierung einer im Unbewussten regierenden Libido zustande kommen (Übertragung), die einem nun bei der Hysterie am sichersten entgegenkommt. Diese gibt die Triebkraft zur Auffassung und Übersetzung des Unbewussten her; wo diese sich weigert, nimmt sich der Patient nicht die Mühe oder hört nicht zu, wenn wir ihm die von uns gefundene Übersetzung vorlegen. Es ist eigentlich eine Heilung durch Liebe. In der Übertragung liegt dann auch der stärkste, der einzig unangreifbare Beweis für die Abhängigkeit der Neurosen vom Liebesleben.«11
Lange Zeit scheint für Freud, getreu seiner Maxime, dass sich das Moralische von selbst verstehe, die Möglichkeit der sexuellen Abstinenzverletzung undenkbar. In der Tat gehen seine und Breuers Reaktionen in die entgegengesetzte Richtung: die Verliebtheit wird nicht nur nicht erwidert, sie wird Anlass, die Intensität der Beziehung zu mindern.
Das bedeutet auch, dass Freud zunächst sich selbst und seinen Schülern eher zuredet, die Übertragungsliebe zuzulassen. Dann gilt es, ihr Wesen zu erkennen und ihre Kraft zu nutzen. Denn erst wenn sich die Libido der Kranken in der Übertragung an den Arzt bindet, gewinnt dieser sozusagen den archimedischen Punkt, um die Neurose aus den Angeln zu heben. Ohne diesen Punkt, der durchaus dem »Rapport« zwischen Hypnotiseur und Medium vergleichbar ist, besteht diese Aussicht nicht. Aber während der Hypnotiseur sein geheimes Wissen behalten muss, ist es Aufgabe des Analytikers, es mitzuteilen und auf diesem Weg das vernünftige Ich der Kranken als Bundesgenossen zu gewinnen.
»Jede psychoanalytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu befreien, die in einem Symptom einen kümmerlichen Kompromissausweg gefunden hat. Ja, die Übereinstimmung mit dem vom Dichter geschilderten Heilungsvorgang in der ›Gradiva‹ erreicht ihren Höhepunkt, wenn wir hinzufügen, dass auch in der analytischen Psychotherapie die wiedergeweckte Leidenschaft, sei es Liebe oder Hass, jedes Mal die Person des Arztes zu ihrem Objekte wählt. Dann setzen freilich die Unterschiede ein, welche den Fall der Gradiva zum Idealfall machen, den die ärztliche Technik nicht erreichen kann. Die Gradiva kann die aus dem Unbewussten zum Bewusstsein durchdringende Liebe erwidern, der Arzt kann es nicht… Der Arzt ist ein Fremder gewesen und muss trotzdem nach der Heilung wieder ein Fremder werden.«12