Читать книгу Die Psychoanalyse nach Freud - Wolfgang Schmidbauer - Страница 8

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Wenn der Analytiker die Grundregel ausgesprochen hat und der Patient seine Einfälle berichtet, ergibt sich die nächste Frage: Was geschieht mit diesem Material? Zunächst wird sich der Außenstehende fragen, wie es überhaupt möglich sein kann, dass ein Therapeut, der täglich sechs bis neun Stunden solche Berichte von ganz unterschiedlichen Menschen hört, diese Fülle bewältigt, ohne sie durcheinander zu bringen, das Wichtigste zu vergessen oder – wenn er aus Furcht vor diesem Chaos beginnt, Notizen zu machen oder Tonbandaufnahmen anzufertigen – nicht in einer Materialflut unterzugehen.

Freuds Vorschlag ist hier schlicht: Der Analytiker soll auf alle technischen Hilfsmittel verzichten und allem, was er zu hören bekommt, mit der nämlichen »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« begegnen. Das heißt, er will sich nichts besonders merken, er will das Material nicht ordnen, er will nichts angestrengt festhalten, denn diese innere Anspannung ließe sich nicht mehrere Stunden am Tag aufrechterhalten. Diese Form der nicht gelenkten Achtsamkeit ist das Gegenstück zu der Erzählung ohne Kritik und Auswahl, welche dem Patienten auferlegt wurde. Der Analytiker hört also zu und kümmert sich nicht darum, ob und was er sich merkt.

Freud beschreibt die Folgen dieser Haltung so: Alle Teile des Materials, die sich zu einem Zusammenhang fügen und eine innere Bedeutung aufbauen, organisieren sich im Gedächtnis des Analytikers, so dass er auch bewusst über sie verfügen kann. Was noch zusammenhanglos, chaotisch, unsinnig oder banal erscheint, wird zunächst versinken, taucht aber wieder auf, wenn der Analysierte etwas vorbringt, mit dem es sich verbinden und zu einem sinnhaften Ganzen vervollständigen kann. »Man nimmt dann lächelnd das unverdiente Kompliment des Analysierten wegen eines ›besonders guten Gedächtnisses‹ entgegen, wenn man nach Jahr und Tag eine Einzelheit reproduziert, die der bewussten Absicht, sie im Gedächtnis zu fixieren, wahrscheinlich entgangen wäre.«21

Freud spricht sich dagegen aus, während der Analysestunde mitzuschreiben. Wichtige Daten und Träume dürfen eine Ausnahme machen, aber jede Störung der ruhigen, hörenden Haltung verstärkt die Auslese und damit die Gefahr, dass gerade das überraschende Material nicht die verdiente Würdigung erfährt.

Freud hat sich nach dem Arbeitstag manchmal Notizen gemacht und seine Analysanden Traumtexte aufschreiben und mitbringen lassen. Er erklärt wörtliche Protokolle für Ausdruck einer »Scheinexaktheit«, welche den Leser ermüdet und doch Wesentliches versäumt. Auch den Plan zu einer wissenschaftlichen Verwertung sollte der Analytiker erst nach Abschluss einer Analyse fassen und verfolgen; im anderen Fall ist die Gefahr groß, dass der Analytiker nach einer vorgefassten Meinung behandelt und seinen eigenen Erfolg gefährdet. Am besten gelingen die Fälle, in denen der Analytiker ohne Voraussetzungen beginnt und sich von jeder neuen Wendung überraschen lässt. Die Krankengeschichte systematisch zu studieren und nachzuerzählen, dafür sei die Zeit nach dem Abschluss einer Behandlung besser geeignet.

In diesem Kontext einer möglichst unvoreingenommenen und daher auch für den Patienten möglichst hilfreichen Haltung des Analytikers ist auch Freuds Vergleich mit dem Chirurgen angesiedelt. Nur wer diesen Zusammenhang kennt, kann ihn würdigen und die Trivialität vieler Epigonen abweisen, welche ihren Rückschritt gegen dieses hohe professionelle Ideal als menschlichen Fortschritt im Sinn einer »humanistischen Methode« ausgeben.

»Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen«, sagt Freud, »sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen. Für den Psychoanalytiker wird unter den heute waltenden Umständen eine Affektstrebung am gefährlichsten, der therapeutische Ehrgeiz, mit seinem neuen und viel angefochtenen Mittel etwas zu leisten, was überzeugend auf andere wirken kann. Damit bringt er nicht nur sich selbst in eine für die Arbeit ungünstige Verfassung, er setzt sich auch wehrlos gewissen Widerständen des Patienten aus, von dessen Kräftespiel ja die Genesung in erster Linie abhängt. Die Rechtfertigung dieser vom Analytiker zu fordernden Gefühlskälte liegt darin, dass sie für beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute möglich ist. Ein alter Chirurg hatte zu seinem Wahlspruch die Worte genommen: Je le pansai, Dieu le guérit.22 Mit etwas Ähnlichem sollte sich der Analytiker zufrieden geben.23

Das Chirurgen-Gleichnis hängt eng mit der so genannten Abstinenz des Analytikers zusammen. Abstinenz heißt Enthaltung und ist alles andere als neu: Bereits mit dem Eid des Hippokrates verpflichtet sich der Helfer, auf alle über seinen Auftrag hinausgehenden Vorteile aus seiner Beziehung zum Kranken zu verzichten. Auch die sexuelle Beziehung als Abstinenzverfehlung ist bereits von dem griechischen Arzt benannt.

In der Psychoanalyse hat Freud diesen Abstinenzbegriff noch verschärft. Der Kranke soll auf möglichst viele so genannte Ersatzbefriedigungen verzichten, um die entstehenden Spannungen dann in der Analyse zu bearbeiten. Besonders wichtig ist diese Forderung, wenn der Kranke Teile der Realität vermeidet, etwa im Fall des Angstkranken, der sich weigert, ohne den Geleitschutz einer Bezugsperson aus dem Haus zu gehen.

Hier muss der Analytiker aktiv werden und fordern, dass auf die Befriedigung durch die Vermeidung verzichtet wird. Das kann natürlich nicht mit einem Schlag geschehen, sondern setzt voraus, dass es ihm gelingt, den Patienten vom Sinn dieser Preisgabe einer Abwehrstrategie zu überzeugen. Ähnliches gilt bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit: Auch hier ist nur der abstinente Patient der Analyse zugänglich. Die analytische Behandlung eines nassen Alkoholikers lässt sich mit dem Bild einer Schnecke fassen, die eine Säule erklimmen soll, jedoch nicht vorwärts kommt, weil sie nachts dieselbe Strecke zurückrutscht, die sie tags emporgekrochen ist.

Freud hat mit dem Chirurgen-Gleichnis einen zentralen Gedanken der professionellen Therapie formuliert. Es ist leichter, hinter diesen Gedanken zurückzufallen, als über ihn hinaus zu kommen. Viele so genannte Weiterentwicklungen, in denen Menschlichkeit, emotionale Wärme, korrigierende Erfahrungen und manchmal ebenso tönend wie letztlich banal eine humanistische Einstellung vertreten werden, verwischen Freuds ernste und gründliche Klärung.

Sie konstruieren naive Analogien von »kalter« Intelligenz und »warmer« Emotion, die unwissenschaftlich sind und eine berufliche Situation nicht stabilisieren können. Freud geht es immer darum, die für eine autonome seelische Entwicklung günstigste Situation herzustellen. Dazu ist es wichtig, dass der Analytiker aufmerksam und neutral ist. Blauäugig sind doch alle, die glauben, sie könnten die eigenen »guten« Gefühle reichlich spenden und gleichzeitig dem Patienten garantieren, ihn von ihren »schlechten« zuverlässig zu verschonen.

Ein Therapeut, der sich menschlich überfordert und schließlich die so aufgebaute Last nicht mehr tragen kann, richtet ebenso viel oder mehr Schaden an, als er anfänglich durch seine engagierte Liebe an beschleunigter Genesung versprach. Der disziplinierte Professionelle, der klar konturiert, beständig und verlässlich bleibt, wird allmählich jene sowohl neutrale als auch herzliche Beziehung aufbauen, welche für die analytische Arbeit am günstigsten ist.

Nie hat Freud eine Zurückhaltung gut geheißen, hinter der sich Trägheit oder Verweigerung von therapeutischem Engagement verbergen. »Analytiker«, die Hemmungen, Ängste, Passivität, Faulheit oder Inkompetenz als »Abstinenz« ausgeben, haben die Analyse mehr in Verruf gebracht als Übereifrige oder Besserwisser.

Schweigen ist Schweigen; es gibt intelligentes Schweigen so gut wie einfallsloses, aber es gibt kein analytisches Schweigen. Wer Fragen nicht beantwortet, Aufklärungen verweigert, sich Diskussionen über das entzieht, was er tut, ohne die Gründe dafür zu benennen, torpediert eine Analyse. Ein Analytiker wird keineswegs immer in der Weise aktiv, die sich der Patient wünscht. Aber es ist wichtig, dass der Patient in jedem Fall versteht, was an diesem Verhalten seinen Interessen dient.

Das Ziel der Analyse ist, dass der Patient Klarheit über sich, seine Geschichte und die Kräfte in seinem Unbewussten gewinnt. Das kann die Analyse in der Tat leisten. Es hat sich gezeigt, dass für viele Menschen damit ein persönlicher Gewinn im Sinn einer Befreiung von Symptomen verbunden ist. Aber Freud hat den Prozess der (Selbster-)Forschung immer für ebenso wichtig angesehen wie den Prozess der Heilung.

Wer Selbsterkenntnis und Heilung sucht, ist bei der Analyse bestens bedient. Wer lediglich Erkenntnis sucht, kann bequemer Freuds Schriften studieren. Wer jedoch Heilung wünscht und den Umweg über die Erkenntnis und die geistige Auseinandersetzung nicht beschreiten will, findet heute vielleicht in einer anderen Therapiemethode oder Medikamenten bequemere Hilfe.

Die Psychoanalyse nach Freud

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