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Aufbruch mit Rückzug

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1968. Vor Friedrich Lindaus Augen erscheint Rudolf Hillebrecht wie eine Fata Morgana. Die Szene im hannoverschen Operncafé ist irreal. Während der Stadtbaurat munter die Eingangstür durchschreitet, und sich wundert, wie Ordnungshüter die »revoltierende« Studenten-Spaßtruppe – »diese Anarchisten«, wie ihnen von empörten Gästen nachgerufen wird – aus der Ausgangstür hinausdrängt, kommt ihm ein irritierter Friedrich Lindau entgegen. Gut gelaunt begibt sich Hillebrecht – schütteres Haar, schwere Hornbrille, knotenlos gebundene Krawatte – an den Tisch der Verbandsvertreter. Wolle mal einen »Vorschlag zur Güte« machen: Ob sich die Architektenschaft, wenn sie denn eine Architektenkammer zustande brächte, dazu durchringen könne, fortan kooperativ im Sinne der Stadtbaukultur mit ihm zusammenzuarbeiten? Das heiße aber auch, seine Entscheidungen zu akzeptieren und nicht immerzu »zu nörgeln«. Er wünsche noch gute Gespräche. Verabschiedet sich freundlich und schreitet von dannen. Die Runde ist sprachlos, Lindau konsterniert.

In den folgenden Monaten verdichten sich die Bemühungen der Architektenschaft zu einem berufsständischen Durchbruch auf der politischen Ebene. Am 28. Januar 1970 ist es so weit. Nasskaltes Wetter, zeitweise Schneeregen. Landtagssitzung. Beschlussfassung des Architektengesetzes. Ein großer, strahlender Sonnentag für den Berufsstand. Nach vorausgegangenen Lesungen und Änderungsanträgen wird das Gesetz verabschiedet, es tritt am 1. April 1970 in Kraft.

Aber Friedrich Lindau hadert mit sich und der Situation. Will nicht mehr antreten. Denn nun muss die neue Kammer organisiert und strukturiert werden. Verschlingt alles viel Kraft. Er findet kaum noch die nötige Zeit, sich um sein Architekturbüro zu kümmern. Hinzu treten innerhalb der Verbände oppositionelle Haltungen zutage, denen er sich entgegenstemmen muss. Er lässt sich aber umstimmen, als er erfährt, dass das Wirtschaftsministerium ihn nicht nur in die vorläufige Vertreterversammlung berufen will, sondern ihn auch als ersten Präsidenten der Architektenkammer Niedersachsen sieht.

Als Lindau dann am 5. Mai den großen Sitzungssaal des Ministeriums im ehemaligen Wangenheim Palais an Hannovers Friedrichswall erwartungsvoll betritt und die Kollegen sowie das große Presseaufgebot mit Rundfunk und Fernsehen wahrnimmt, »ergebe ich mich in mein Schicksaal«. In der ersten Sitzung der 25-köpfigen Vertreterversammlung wird Friedrich Lindau dann ohne Gegenkandidaten vorgeschlagen und einstimmig zum ersten Präsidenten der neugegründeten Architektenkammer Niedersachsen gewählt. Die Tätigkeit beginnt und macht ihm Freude trotz mancher »Nackenschläge«.

Die vorläufige, vom Ministerium berufene Vertreterversammlung muss per Gesetz innerhalb Jahresfrist durch eine gewählte ersetzt werden. Aufgrund der hohen Anzahl der zwischenzeitlich in die Mitgliederliste eingetragenen Architekten besteht nunmehr die Vertreterversammlung aus 69 statt bisher 25 Mitgliedern. Lindau wird »mit Mehrheit« in seinem Amt bestätigt, scheidet dann aber nach der Neuwahl 1975 aus dem Vorstand aus und widmet sich wieder ganz dem Architekturbüro.

Die Zeit vor und nach Gründung der Kammer muss äußerst arbeitsintensiv, aufreibend und voller Unwägbarkeiten gewesen sein. Mit etwas Weltuntergangsstimmung wie beispielsweise 1973, als Lindau seinen Tätigkeitsbericht mit »Schwanengesang« überschreibt: »Für viele Architekten ist das Ende des Berufsstandes gekommen«, lautet sein erster Satz. Die Gründe für die existenzielle Bedrohung sieht Lindau zum einen in der ständig steigenden Zahl von »Bauträgergesellschaften« und »Totalunternehmern«, die die Architekten in eine Randrolle drängen. Hinzu kommen eine Phase der Rezession in der Wirtschaft allgemein und restriktive Maßnahmen auf dem Bausektor. Viele Architekten seien daher gezwungen, ihre Selbstständigkeit aufzugeben oder Mitarbeiter zu entlassen. Das alles belastet Lindau sehr, zumal auch sein Büro von der misslichen Lage betroffen ist.

Die Dauerfehde mit Rudolf Hillebrecht ist zunächst beendet, denn dieser wird 1975 pensioniert, zeitgleich mit Lindaus Rückzug aus dem Amt des Präsidenten. Hillebrecht erhält 1980 die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hannover, Lindau fast zeitgleich vom Bundespräsidenten das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in Würdigung seiner Verdienste um den Berufsstand der Architekten. Die Prozedur nimmt der niedersächsische Sozialminister Hermann Schnipkoweit in den Räumen der Kammer in der Bödekerstraße vor und lobt Lindau als »einen Architekten mit Leib und Seele«, dessen zahlreiche Bauten »beredtes Zeugnis ablegen«, auch für seine Bemühungen um den Wiederaufbau des kriegszerstörten Hannover.

In diesem Augenblick ist Lindau versöhnt mit sich und der Welt. Als ihn der Minister nach vorne bittet mit der freundlichen Aufforderung: »Herr Lindau, nehmen Sie jetzt mal Haltung an«, lächelt dieser ungewohnt milde. Die apodiktische Haltung hat Friedrich Lindau längst abgelegt.

Anmerkung des Autors: Diese Kolumne beruht in Teilen auf der Wiedergabe von »Erinnerungen eines neunzigjährigen hannoverschen Architekten« aus dem Buch von Friedrich Lindau »Architektur und Stadt«.

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