Читать книгу Herzogs Höhenflug - Wolfgang Sréter - Страница 13
ОглавлениеDer Mann nahm ihm das Gepäck ab und brachte ihn zu einer Limousine. Er öffnete für Herzog die hintere Tür. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel und fragte:
„Mandarin Oriental?“
Herzog nickte und dachte: Fast wie im Märchen. Nach kurzer Zeit reihte sich das Auto in den höllischen Verkehr ein.
Der Fahrer schlich geschickt von einer Lücke in die andere, fuhr über den Seitenstreifen am rechten Fahrbahnrand, stand bei Rot in der ersten Reihe, noch vor den Lastwagen, Bussen und Pick-ups. Schon bevor die Ampel umschaltete, erhob sich ein unbeschreiblicher Lärm. Die auf der Kreuzung übrig gebliebenen Fahrzeuge wurden umfahren, eingekeilt, und es hätte Herzog nicht gewundert, wenn der Strom sie bis zur nächsten Ampel mit fortgerissen hätte. Am Hotel angekommen nahm der Fahrer eine Visitenkarte zwischen Zeige- und Mittelfinger und gab sie an seinen Gast weiter. Mit einem Zwinkern sagte er:
„If you need something. Ladies, boys to boys“, er rieb dabei die beiden Zeigefinger aneinander, „and other things for good vibration. Everything cheap price.“
Herzog dankte und war schon in der Obhut des Concierge mit einer grauen Schirmmütze und goldenem Abzeichen. Im Zimmer bediente er sich an einem Korb mit frischem Obst. Nach dem Duschen widmete er sich seinem Geschenk. Er zog grundsätzlich nur Geld. In diesem Fall waren es tausendzweihundert US-Dollar. Er wunderte sich immer wieder, wie viele Scheine die Leute mit sich herumtrugen. Sie schienen in der Krise dem bargeldlosen Zahlungsverkehr, der von den Banken mit Hochglanzwerbung angepriesen wurde, zu misstrauen. Sein Sitznachbar hatte also einiges in seinem Urlaub vor. Damit und mit großzügigen Lokalrunden, während halbwüchsige Mädchen ihre Haut zu Markte tragen mussten, war es nun vorbei. Er würde das Missgeschick nicht vor seinen Kumpanen geheim halten können und sie würden ihre Spottkübel über ihm ausschütten. Im schlimmsten Fall war ihm so etwas schon einmal passiert und er festigte damit seinen Ruf als Trottel.
In den dafür vorgesehenen Fächern des Geldbeutels sah Herzog außerdem zwei Scheck- und drei Kreditkarten. Ein Zeichen, dass der Inhaber über seine Verhältnisse lebte. Karten standen nicht im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Zu diesem Schluss war er irgendwann am Anfang seiner Karriere gekommen. Wenn man von Scheck- und Kreditkarten leben wollte, musste man technisch immer auf dem neuesten Stand sein, benötigte Mitarbeiter im Ausland und ging das Risiko ein, beim Gebrauch erwischt zu werden. Außerdem fehlten Herzog dafür die Geräte und das notwendige Know-how.
Ganz gleich, ob die gezogene Ware nun aus Schlangenleder oder nur aus Plastik bestand, ob sie das Geschenk eines Geliebten war, der hoffte, in einem versteckten Winkel möge sein Konterfei aufgehoben und ab und zu mit einem Kuss bedacht werden, ob es sich um ein Geschenk zur Silbernen Hochzeit handelte oder um ein gutes Stück aus dem Familienbesitz, für jemanden, der sich in der Nachfolge von Rinaldo Rinaldini sah, war all dies uninteressant. Sie hatte für ihn absolut keinen Wert. Er beschäftigte sich weder mit dem Gegenstand noch mit der dazugehörigen Person. Auch die war ihm egal, inklusive Ausweis, Führerschein und Impfpass. Ein Zahnarzt interessierte sich auch nicht für seinen Patienten als Mensch, sondern lediglich für schadhafte Stellen im Gebiss oder die Einzelteile einer Zahnspange. Herzog ging seiner Arbeit nach und wenn er fleißig war, verdiente er ganz ordentlich. Wie in jedem anderen Beruf auch, vorausgesetzt man arbeitete nicht als Krankenschwester.
Seine durchaus kunstvolle Tätigkeit beschränkte sich auf das Wesentliche in unserer Gesellschaft – das Geld. Manager machten nichts anderes. Er unterschied sich allerdings von jenen Männern, die ein hilfloser Kritiker einmal Kapitalverbrecher genannt hatte: Sie verdienten in einem Jahr mehr, als sie je im Leben für ihre Anzüge aus feinem Tuch, ihre schnittigen Sportwägen und gestylten Geliebten ausgeben konnten, ganz gleich, ob sie nun ihre Arbeit gut oder miserabel verrichteten. Und noch einen Unterschied gab es, durch ihn wurden keine Kündigungen ausgesprochen und es gingen keine Arbeitsplätze verloren. Manchmal schaute er morgens in den Spiegel und fragte sich, ob ihm ein Rinaldo aus den Augen schaute. Wenn man in diesem Beruf arbeitete, war es durchaus von Vorteil, sein eigenes Leben mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Je größer diese Distanz war, desto geringer die Gefahr, in kniffligen Situationen den Kopf zu verlieren.
Im Übrigen war ein Kunstzieher vor allem ein Techniker und kein Draufgänger. Er musste eine gewisse Begabung mitbringen und er war gut beraten, diese Begabung, betraf sie nun seine Fingerfertigkeit, seine Konzentration oder seine Beobachtungsgabe, täglich zu trainieren. Er war nicht mutiger als andere Menschen, nicht leichtlebiger und nicht verschwenderischer. Begegnete er einem Verbrechen, war er genauso entsetzt und hilflos wie die Nachbarin, die den ganzen Tag nur aus dem Fenster sah.
Normalerweise ließ Herzog Gezogenes so schnell wie möglich verschwinden. Man musste das Risiko dieser Tätigkeit gering halten. Er hatte immer ein Stofftaschentuch bei sich, um gründlich die Fingerabdrücke abzuwischen, und mehrere Plastiktüten, in denen er die Geldbeutel oder Brieftaschen in einen öffentlichen Papierkorb fallen ließ. Wenn ihn jemand beobachten sollte, war er ein gewissenhafter Bürger, der gerade eine Banane gegessen hatte und die Schale in einer Tüte ordnungsgemäß in einem dafür vorgesehenen Behälter entsorgte. Sollte diese Tüte von einem der vielen Menschen, die heute auf Abfall angewiesen waren, entdeckt werden, hatte der Glückliche eine Chance, sein Eigentum zurückzubekommen, vorausgesetzt, es fand sich eine Adresse. Von Kunstziehern, die Gegenstände an die Eigentümer zurückschickten, weil ein schlechtes Gewissen sie plagte, las man zwar immer wieder, aber in Wirklichkeit waren sie eine Erfindung von Journalisten, die mit solchen Artikeln die Sommerlöcher stopften. Es gab sie genauso wenig wie Priester, die sich schämten, wenn sie mit Hilfe eines Opferstocks die Gläubigen um ihr Geld erleichterten.
Herzog würde irgendwann das Hotel verlassen, um die Wundertüte seiner tausendzweihundert Dollar loszuwerden. In diesem Fall hatte er allerdings keine Eile, denn Männer, die in Bangkok den Merkwürdigkeiten ihrer Sexualität nachgingen, bevorzugten kein Luxushotel, sondern Absteigen, die nahe am Strich und den dafür bekannten Clubs lagen. Seinem Nachbarn, da war er sicher, würde er nicht mehr über den Weg laufen.
Schon an der Rezeption hatte Herzog feststellen müssen, in seiner Reisetasche fand sich keine Kleidung, die für dieses Hotel geeignet gewesen wäre. Er kaufte also in einer der Boutiquen, die um die Eingangshalle angeordnet waren, einen leichten taubenblauen Anzug, helle Leinenschuhe, dazu drei Hemden. Damit war ein Großteil der tausendzweihundert Dollar elegant angelegt. In seiner neuen Ausstattung nahm er auf einem der vielen Sofas in der Lobby Platz. Es roch nach Luxus und Leder. Er betrachtete die Frauen mit ihren Juwelen, die Inder mit ihren Turbanen, die amerikanischen Millionäre mit ihren goldenen Armkettchen und die lautlos beflissenen Bediensteten. Er hörte fasziniert den verständlichen und unverständlichen Lauten zu, die an sein Ohr getragen wurden.
Als ein leichter Wind aufkam, ging er in den Garten des Hotels, den man in diese im Chaos versinkende Stadt gezaubert hatte. Er versuchte die innere und äußere Zeit zusammenzubringen. In seinem Inneren war es fünf Uhr morgens, um ihn herum zehn Uhr, ein Vormittag inmitten von Hibiskusblüten, Orchideen, Bananenstauden und einem gepflegten Rasen. Pro Stunde Zeitverschiebung, das hatte er einmal gelesen, brauchte der Körper einen Tag, um sich anzupassen. Er war also schon fast wieder zuhause, wenn seine innere Uhr auf Bangkokzeit umgestellt war. Außerdem konnte er nicht glauben, dass derselbe Himmel ein paar Straßen weiter über einer Kreuzung leuchtete, auf der kein Durchkommen war und auf der wahrscheinlich nur für wenige Stunden nach Mitternacht die Autoschlange dünner wurde, vielleicht, wenn man Glück hatte, für Minuten sogar abriss.
Er blätterte in einer Broschüre, die er an der Rezeption des Hotels bekommen hatte. Sie warnte ihn eindringlich vor Drogen und Prostitution. Er sollte, falls er das, was die thailändische Touristeninformation als Vergnügungsviertel dieser Stadt der Superlative bezeichnet, wirklich besuchen wollte, nicht alleine auf Entdeckungsreise gehen und nur eine ausreichende Menge an Geld mitführen, was immer das auch hieß. Allerdings hatte er kein Verlangen nach Striptease und Live-Shows, bei denen die Gäste aufgefordert werden, tatkräftig Hand anzulegen.
Im Schatten der Hoteleinfahrt lauerten sicherlich finstere Schlepper auf farbigen Tuk-Tuks, die von der Rezeption einen dezenten Wink bekamen, sobald man zu erkennen gab, das Hotel verlassen zu wollen. Sie zerrten einen schon am frühen Morgen in modrige Lasterhöhlen und, bevor man sich richtig der Sünde hingeben konnte, schütteten mandeläugige Hexen flaschenweise KO-Tropfen ins Glas. Eine halbe Stunde später fand man sich benommen auf dem Gehsteig wieder, und wenn die mitgeführte Geldmenge nicht ausreichend war, hatte man auch noch den neuen Anzug, die Schuhe, Armbanduhr und unter Umständen sogar Goldzähne und Socken verloren. Bangkok schien eine brandgefährliche Stadt zu sein. Im Gegensatz dazu war der Garten des Hotels ein Hain kontemplativer Beschaulichkeit.
Die Wärme und das Nachdenken über die vergangenen Ereignisse machten ihn müde. Ein paar Stunden Schlaf in seinem kühlen Zimmer würden die verschiedenen Zeitdimensionen näher zusammenbringen. Er schlief tatsächlich sofort ein. Im Traum erschien ihm noch einmal der Fahrer mit der Visitenkarte: Er hüpfte durch das Hotel und verschwand grinsend mit dem schwarzen Notizbuch.
Als Herzog erwachte, war es nach acht Uhr. Er war sofort hellwach und fror am ganzen Körper. Er beschloss, nicht in einem der klimatisierten Restaurants, sondern auf der Terrasse am Flussufer zu essen. Auf dem Wasser war reger Betrieb. Bunt geschmückte und reichlich illuminierte Touristenboote fuhren in beide Richtungen. Hausboote, auf denen offensichtlich ganze Großfamilien wohnten, waren an beiden Ufern festgemacht. Frauen nahmen immer wieder Wäsche aus dem Wasser, wenn einer der dickbauchigen Lastkähne vorbeifuhr oder ein Expressboot, schräg im Wasser liegend, schnittig, mit roten Sitzreihen, vorüberschoss. Ein Ober mit weißen Handschuhen brachte die Speisekarte und nannte die Empfehlungen des Küchenchefs. Er blieb am Tisch stehen, bis Herzog gewählt hatte, den linken Arm abgewinkelt mit einer Stoffserviette darüber, den rechten Arm hinter dem Rücken. Herzog entschied sich für eine der Empfehlungen und bestellte ein thailändisches Tigerbier – nur des Namens wegen.
Schon am Nachmittag war ihm ein Mann aufgefallen, der in der Eingangshalle stand. Später, im Garten, hatte er mit einem der Arbeiter gesprochen. An seiner Kleidung war nicht zu erkennen, ob er zum Hotelpersonal gehörte. Er versuchte wie ein Gast zu wirken, der gerade seine Freude daran entdeckt hat untätig herumzustehen. Nun lehnte er wie zufällig am Eingang zur Terrasse. Jedes gute Hotel hatte einen eigenen Detektiv, dessen Aufgabe es war, so unauffällig wie möglich seine Augen offen zu halten, denn der Luxus zog Hochstapler und Gauner an, die am Reichtum der Gäste teilhaben wollten. Der Detektiv schien Herzog im Blick zu haben. Vielleicht war ihm der junge Mann verdächtig, weil er sich von den übrigen, meist älteren Gästen abhob. Wer kam schon verschwitzt und verschlafen, eine Reisetasche über der Schulter, in ein Fünf-Sterne-Hotel und kaufte als erstes in einer überteuerten Boutique ein? Sie würden sich also gegenseitig beobachten, denn auch Herzog hielt, schon aus Gewohnheit, die Augen offen.
Zurück im Zimmer nahm er das schwarze Notizbuch aus der Reisetasche und begann es durchzublättern. Es war ordentlich geführt. Fliege hatte eine akkurate, fast altmodische Handschrift. Auf der ersten Seite standen Name, Adresse und Telefonnummer. Neben jedem eingetragenen Datum auf den folgenden Seiten war eine Zahl vermerkt. Etwa jedes Vierteljahr hatte Fliege eine Eintragung vorgenommen. Das Notizbuch begann an einem willkürlichen Datum. Es gab also vermutlich einen oder mehrere Vorläufer. Die letzten Seiten waren leer. Den Gedanken, dass ein Zollfahnder auch dem Taschendiebstahl nachgehen könnte, fand der Kunstzieher Herzog abwegig.
Er überlegte, warum das Notizbuch im Tiefkühlfach des Eisschranks verwahrt gewesen war. Um es zu verstecken? Oder gab es einen anderen Grund? Er legte das Heft in das Eisfach des Kühlschranks, der in einer Ecke des Zimmers stand, und wartete zehn Minuten. So sehr er sich anschließend auch bemühte, er konnte keine Veränderung an den Eintragungen feststellen. Vielleicht dauerte es länger, bis zusätzliche Informationen sichtbar wurden. Er hatte Zeit.
Nur Menschen mit Alzheimer legen ihren Autoschlüssel in die Waschmaschine und nur Künstler beschmieren eine Badewanne mit einer zentimeterdicken Fettschicht. Kein vernünftiger Mensch würde ein Notizbuch in ein Eisfach legen. Andererseits würde auch niemand ein Notizbuch, das lebenswichtige Geheimnisse verbarg, in einem Kühlschrank vermuten. In einem Schreibtisch schon, unter einem Leintuch, zwischen frisch gebügelten Hemden, im Schuhregal, vielleicht sogar im Abfalleimer oder im Handschuhfach eines Autos. Aber sicher nicht in einem Eisfach. Auf jeden Fall hatten es die Mörder Flieges nicht gefunden, denn zu diesem Zeitpunkt war es schon bei Alina gelandet.
Er hatte die Verbrecher mit seinem Besuch gestört. Die offene Eingangstür ließ darauf schließen, dass jemand gerade im Begriff war, den Tatort zu verlassen. Vielleicht war Herzogs Klingeln eine Warnung gewesen. Die Täter hatten gerade noch Zeit gehabt, sich hinter der Tür oder irgendwo anders zu verstecken. Oder war die offene Eingangstür eine Falle gewesen, die man ihm gestellt hatte? Eine tödliche Einladung!
Was sollte er mit dem Notizbuch anfangen? Er konnte es nicht im Kühlschrank lassen, wenn er in die Lobby ging. Das kam ihm unvorsichtig vor. In jedem Hotel der Welt gab es mehrere Generalschlüssel, die vom Personal benützt wurden, und zu jedem Zimmer ein oder zwei Ersatzschlüssel. Außerdem wurde die Minibar regelmäßig aufgefüllt. Er wusste noch nicht, welche Informationen das „kleine Schwarze“, wie er es inzwischen nannte, enthielt, aber er ahnte, dass es wertvoll für ihn sein konnte. Er würde es, wenn er unterwegs war, am Körper tragen.
Herzog versuchte Margret zu erreichen. Er hatte kein Glück. Die SMS wurden nicht beantwortet, und wenn er anrief, sagte ihm eine künstliche Stimme mit nervösem Einschlag, der Teilnehmer sei derzeit nicht erreichbar. Er versuchte es immer wieder, aber die Stimme blieb gleich künstlich und auf eine beunruhigende Art unbeteiligt. Er nahm sich ein Bier aus der Minibar und blickte aus dem vierten Stock auf den Fluss hinunter. Er konnte nichts anderes tun als zu schlafen.
Am nächsten Morgen stand der Beobachter im Frühstücksraum bei den Kellnern. Herzog grüßte freundlich und bekam ein geschmeidiges Lächeln zurück. Dabei sah er in der Hand des Mannes eine Karte, die den Karten ähnelte, die als Zimmerschlüssel verwendet wurden. Er schien also tatsächlich der Hausdetektiv zu sein, der ein „Sesam öffne dich“ zu allen Zimmern besaß. Als er den Gast sah, steckte er das wertvolle Teil in die linke Westentasche. So unvorsichtig durfte man als jemand mit Erfahrung nicht sein, wenn man nicht einen Denkzettel riskieren wollte. Für Herzog nicht mehr als ein leichtes Training, das er sich nicht entgehen lassen würde.
Die Gelegenheit bot sich gleich nach dem Frühstück. Zwei arabische Großfamilien waren angekommen. Verschleierte Frauen, halbwüchsige Dandys und in ihrer Mitte zwei Patriarchen, gekleidet wie Beduinen. Eine große Anzahl ausladender Koffer mit vielen Aufklebern. Insgesamt eine Explosion an Leben mit einer gehörigen Portion Unübersichtlichkeit. Der Detektiv, der offensichtlich noch andere Aufgaben zu übernehmen hatte, sammelte die Pässe ein und brachte sie an die Rezeption. Während er mit einem Angestellten sprach, stellte sich Herzog schräg neben ihn. Damit war er gegen die hinter ihm Stehenden abgeschirmt und vor ihm schützte ihn der Tresen. Er fischte mit der linken Hand die Karte aus der Weste. Die Diskussionen, die sich offensichtlich um die Zimmerverteilung drehten, nahmen so viel Aufmerksamkeit in Anspruch, dass niemand auf ihn achtete.
Nachdem die letzten Familienmitglieder mitsamt dem Aufpasser im Lift verschwunden waren, gab Herzog die Karte an der Rezeption ab. Gleich mehrere Mitarbeiter liefen zusammen und dankten ihm. Einer fragte nach seiner Zimmernummer, ein anderer telefonierte und ein Dritter überprüfte die Karte an einem Computer. Herzog setzte sich in eines der Sofas und blätterte in einem deutschsprachigen Magazin für Urlauber und Residenten, das sich Der Farang nannte. Gleich in dem ersten Artikel ging es um Pattaya und die dortigen Unterhaltungslokale. Ein Foto zeigte eine Bar, in der fast nackte Poledancerinnen zu sehen waren. Ein „Swisshai“ kommentierte: „Früher war alles besser.“
Keine fünf Minuten später stürzte der Detektiv aus dem Lift und verschwand in einem Büro hinter der Rezeption.
Ein älterer Angestellter kam auf Herzog zu. Er fragte in gutem Deutsch, wo der Gast die Karte gefunden habe und schüttelte besorgt den Kopf über den Fundort zwischen Foyer und Terrasse, ein Platz, den Herzog ausgesucht hatte, weil er im toten Winkel der Videokameras lag. Er bat, Herzog auf eine Tasse Tee einladen zu dürfen. Die Einladung zum Tee ging über in ein Abendessen. Herr Supanam, mit diesem Namen hatte er sich vorgestellt, konnte vor Jahren, „als die Mauer noch stand“, in Berlin mit einem Stipendium Archäologie studieren.
„Wir haben zwar in Thailand viele Kunstschätze, aber als Archäologe kann man hier nicht … wie heißt es? … überleben. Ja, überleben. Ein Studium, auch wenn es interessant ist, ändert nichts an den Tatsachen.“ Deshalb war er im Hotelfach gelandet.
Herzog dachte an sein eigenes BWL-Studium. Da war es genau umgekehrt. Das Studium fand er todlangweilig, aber die Berufsaussichten wären glänzend gewesen.
Der Angestellte freute sich, mit dem Gast deutsch sprechen zu können. Seine Augen glänzten, wenn er von Berlin sprach: Mit seinem internationalen Pass war es kein Problem gewesen, nach Ostberlin ins Theater oder eine Ausstellung zu gehen. Er hatte Tage im Pergamonmuseum vollbracht, voll Bewunderung für den berühmten Altar mit seinen nackten muskelbepackten Kriegern. Er hatte im Leo Wright Club neben der Bühne gesessen und Chet Baker gehört. Und wenn ihm das Geld ausgegangen war, war er einfach den Kurfürstendamm auf und ab gegangen. Er hatte das Weltstadtflair genossen, er hatte alles mitgenommen, bei Tag und bei Nacht, und manchmal war er erschöpft von all den Eindrücken in der Bibliothek über seiner Diplomarbeit eingeschlafen.
„Wahrscheinlich“, sagte er wehmütig, „würde ich Berlin heute nicht wiedererkennen. Ich lese oft in der Zeitung, wie sich alles verändert hat. Ich habe damals in der Nähe des Checkpoint Charlie zur Untermiete gewohnt, bei einer Witwe, Frau Krawuttke. Ich kann Sie versichern … nein“, er dachte kurz nach, „ich kann Ihnen versichern, ich habe lange gebraucht, bis ich diesen Namen aussprechen konnte. Krawuttke. Manchmal gehe ich hier in ein deutsches Restaurant. Dort bekomme ich alles, was ich will, der Besitzer ist sehr freundlich, aber es ist nicht dasselbe wie an einem Currywurststand am Bahnhof Zoo. Selbst wenn es null Grad hat und ein Thailänder erbärmlich friert, weil er für Kälte nicht gemacht wurde.“
Irgendwann entschuldigte sich Herr Supanam. Falls er nicht im Hotel übernachten wollte, brauchte er nach Dienstschluss noch eineinhalb Stunden, bis er seine Familie erreichte. Er bot Herzog an, mit ihm am nächsten Vormittag über den Fluss zu fahren.
„Das alte Hotel, das Sie sicher schon im Garten gesehen haben, lohnt keine Besichtigung. Das antike Mobiliar wurde vor Jahren ausgewechselt“, bemerkte er abschätzig wie ein enttäuschter Archäologe. „Man hat den Tea Room mit weißen Rattanmöbeln von einem Händler bestückt, der seine Rechnung nicht zahlen konnte.“
Als Herr Supanam gegangen war, versuchte Herzog wieder vergeblich Margret zu erreichen. Dann meldete sich sein schlechtes Gewissen. War er mit dem Detektiv zu weit gegangen? Vielleicht hatte der Mann durch ihn seine Arbeit verloren und war fristlos entlassen worden. Sicher konnte er sich nicht erklären, wie es zu diesem Vorfall gekommen war, stand außerhalb des Hotels im Schatten der gegenüberliegenden Gebäude und verfluchte alle buddhistischen Götter.
An seinem dritten Vormittag in Bangkok stand Herzog, das Notizbuch in der Hosentasche, neben einem hölzernen Kassenhäuschen am Fluss der Könige. Herr Supanam und er warteten auf eine der Fähren. Herzog genoss die Fahrt den Fluss hinab, vorbei an den weißen Mauern des königlichen Palastes und dem ältesten Tempel der Stadt, Wat Po. Sein Begleiter erzählte, auf dem Chao Phraya seien früher riesige Barken unterwegs gewesen, fernöstlich-goldene Varianten venezianischer Gondeln, mit hochgezogenen Bugdrachen. Zu jener Zeit hatte der Fluss noch eine andere Farbe. Zumindest die träge dahinschwimmenden Öllachen gab es damals nicht.
Am gegenüberliegenden Ufer stiegen Herzog und Herr Supanam zum Tempel der Morgenröte hinauf. Vorbei an Steinwächtern und mit Stöcken bewaffneten Fabeltieren gingen sie durch den Vorhof des Tempels. Der Hotelangestellte sprach mit den Mönchen. Wenn das Wort Allemania fiel, grüßten sie den jungen Mann aus Deutschland mit einer leichten Verbeugung. Sie stiegen zusammen auf den mittleren Turm, der mit Tausenden von Porzellanscherben geschmückt war. Der Blick zurück über den Fluss …
Herzog hätte Stunden stehen bleiben können. Einfach stehen bleiben und schauen. Vielleicht musste man Monate in dieser Stadt leben, um dann erst weiter zu ziehen, Richtung Norden, auf das Goldene Dreieck zu. Vielleicht musste man, wie die jungen Mönche in ihren orangenen Umhängen und den glatt rasierten Köpfen an den warmen Mauern lehnend, das Leben nicht nur aus einer gewissen Distanz, sondern wirklich von außen betrachten. Vielleicht konnte er dann noch nachträglich die angelehnte Wohnungstür des Ermordeten zuziehen und so tun, als hätte es in der Wohnung weder eine Leiche noch Mörder gegeben und als sei nichts geschehen. Er würde darauf hinarbeiten, gleichzeitig jedoch ahnte er, Tote konnten einen über Jahre hinweg wie Schatten begleiten, vor allem dann, wenn sie ihr Leben nicht zu Ende gelebt hatten, und immer dann auftauchen, wenn man es nicht erwartete und dementsprechend ungeschützt war. Er ärgerte sich darüber, dass er dem Drängen Alinas nachgegeben hatte.
Herr Supanam holte ihn aus seinen Gedanken. „Darf ich mir eine Frage erlauben? Kommen Sie aus einer adeligen Familie?“
„Nein, Herzog ist in meinem Fall kein Titel. Das ist mein Familienname.“
Herr Supanam schien diese Frage nur gestellt zu haben, um andere anzuschließen.
„Bleiben Sie länger in Thailand?“
„Ich reise weiter nach Hué.“
„Ah, wo wohnen Sie dort?“
„Im Green Hotel.“
„Sie hätten gegenüber im La Residence ein Zimmer nehmen sollen. Ein Hotel aus der französischen Kolonialzeit mit einem ausgezeichneten Restaurant und herrlichem Garten am Ufer des Parfümflusses. Ein Bekannter von mir arbeitet dort. Soll ich für Sie umbuchen?“
„Danke für Ihre Mühe, aber ich bin verabredet.“
„Darf ich noch eine Frage stellen?“ Er wartete kurz auf eine Reaktion. „Welchen Beruf haben Sie?“
Herzog lachte: „Ich bin von Beruf Sohn“, gab er zurück, obwohl er gar keine Familie mehr hatte. Dies sollte bedeuten, er musste weder arbeiten noch Geld verdienen. Für diese Antwort war irgendwann die Entscheidung gefallen, als er nicht mehr glaubhaft machen konnte, noch zu studieren. Es gab darauf entweder ein überraschtes „Oh!“, ein unentschiedenes „Aha“, ein missbilligendes „So, so“ oder ein erstauntes „Na sowas!“ Herr Supanam nickte nur und Herzog konnte nicht herausfinden, was der Beruf „Sohn“ in ihm auslöste. Auf jeden Fall hielt sich der Kunstzieher mit dieser Aussage die meisten Menschen vom Leib. Das war das Wichtigste.
Am Nachmittag setzte er sich noch einmal in den Garten und sah auf den Fluss. Er hatte sich über den Angestellten im Reisebüro geärgert, weil er den Verdacht haben musste, mit drei Tagen in einem Luxushotel übers Ohr gehauen worden zu sein. Nun musste er zugeben, er wäre gerne länger hier geblieben. Die Weiterreise nach Hué beunruhigte ihn. Hier war er geschützt, es kümmerte sich jemand um ihn, dem er mit einem Gespräch in deutscher Sprache eine Freude machen konnte, außerdem gab es noch viel zu sehen.
Auf dem Weg ins Zimmer teilte ihm eine Rezeptionistin mit, der Fahrer würde ihn morgen drei Stunden vor seinem Flug abholen, denn am Vormittag sei der Verkehr auf der Stadtautobahn am Schlimmsten.