Читать книгу Herzogs Höhenflug - Wolfgang Sréter - Страница 9

Оглавление

Am nächsten Tag ging Herzog die Treppe zur Wohnung eines ehemaligen Schulkameraden hinauf, vorbei an den vergitterten Fenstern, die ihn an eine Polizeistation erinnerten. Solch ungemütliche Orte erschienen ihm ab und zu, wenn er schlechte Träume hatte. Herzog nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er war spät aufgestanden. Sehr spät sogar. Er hatte unter der Dusche das Telefon nicht hören können, aber kurz darauf meldete ihm der Anrufbeantworter, Fliege erwarte ihn zu einem Spaziergang. Was für eine Überraschung! Sie hatten sich lange nicht gesehen. Etwas außer Atem kam er im dritten Stock an. Die Tür zu dem Einzimmerappartement war angelehnt, trotzdem klingelte er, denn Herzog war ein zurückhaltender Mensch.

Nichts rührte sich. Er klingelte noch einmal. Als er die Tür öffnete, spürte er, wie sein Gehirn von einem Moment auf den anderen auf Flucht schaltete. Fliege hing an dem starken Haken, an dem normalerweise sein Punchingball baumelte. Herzog schloss kurz die Augen. Er hatte immer gedacht, nichts könnte ihn aus der Fassung bringen. Allerdings war er noch nie einem Erhängten begegnet. Er sah seinen Schulkameraden von schräg unten. Mit einer schiefen Stellung des Kopfes blickte Fliege auf den entsetzten Besucher herab. Die aufgequollenen Augen hatten in diesem Moment etwas zudringlich Unsympathisches.

Wenn jemand den Kopf in der Schlinge hat, denkt man immer zuerst an ein freiwilliges Ableben. Aber Fliege musste regelrecht liquidiert worden sein. Er schien bis zum letzten Atemzug gekämpft zu haben. Das Hemd war bis zum Gürtel aufgerissen und der Oberkörper war übersät mit lila Flecken. Eine solche Behandlung kannte man normalerweise nur von Geheimdiensten autokratischer Staaten. Ein Gerichtsmediziner würde die Verletzungen bei der Obduktion mit dem neutralen Ausdruck „stumpfe Verletzungen, flächenhaft eingeblutet“ bezeichnen. Fliege hatte offensichtlich versucht, sich mit dem schweren Ledersack, der in einer Ecke lag, zu verteidigen. Soweit Herzog dies von der Tür aus beurteilen konnte, glich die Wohnung dem Zustand nach einem Polterabend, der aus dem Ruder gelaufen war. Kleidung lag vor dem Schrank, die Matratze hatte man aus dem Bett gerissen, Computer und Fernsehapparat lagen auf dem Boden. Sogar Lebensmittel waren verstreut.

Nur keine Polizei, dachte er. Nur jetzt keine Polizei!

Obwohl er am liebsten sofort verschwunden wäre, stand er wie angewurzelt. Er konnte das Missverhältnis von erforderlicher und tatsächlicher Blutversorgung, das durch einen Schock entsteht, spüren. Herzogs Herz raste praktisch im Leerlauf. Seine Gehirnzellen bekamen keinen Treibstoff. Das einzige, was sie zustande brachten, war: Vorsicht Ohnmacht!

Es gibt Momente, in denen einen die Angst geradezu anfällt, in denen Kraftlosigkeit und Übelkeit zunehmen. Diese Angst beeinträchtigt die Beobachtungsgabe und das Reaktionsvermögen und führt geradewegs ins Unglück. Man sendet Signale aus, die das Schicksal einladen zuzuschlagen, und tut gut daran diesen gefährlichen Zustand möglichst schnell in Kälte umzuwandeln. Es hilft, den Thermostat auf schnelles Einfrieren zu stellen. Kälte sichert in diesem Fall das Überleben.

Irgendwann reagierte er instinktiv. Er ging ein paar Schritte rückwärts, tastete mit der Hand nach dem Geländer, drehte sich um und tapste vorsichtig wie ein alter Mann eine Stufe nach der anderen dem Ausgang zu. Am ersten Treppenabsatz blieb er stehen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und atmete tief durch. Durch das vergitterte Fenster sah er ratlos hinunter auf die geparkten Autos. Als er ein Geräusch hörte, schaute er unwillkürlich nach oben. Flieges Wohnungstür wurde gerade von innen geschlossen. Herzog spürte seine Nackenhaare und war überzeugt, er würde von der Seite aussehen wie ein Igel.

Auf der Straße lehnte er sich an die Hauswand. Eine Frau blieb in einiger Entfernung stehen und beobachtete ihn, als wäre sie bereit, ihn aufzufangen, wenn er in sich zusammensackte. Als er die Straße überquerte, um zur Trambahnstation zu kommen, übersah er ein Auto. Der Kotflügel streifte seine Hose, aber Herzog reagierte nicht. Er ging einfach weiter, ohne auf den brüllenden Fahrer zu achten, der sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte. Er ließ drei Trambahnen vorüberfahren. Bei der dritten kam ein Mann angelaufen, als sich gerade die Türen schlossen. „So ein verdammter Scheißtag“, rief er. „Das können Sie laut sagen“, antwortete Herzog. Der Mann sah ihn erstaunt an.

Zuhause sperrte Herzog die Wohnungstür zwei Mal von innen ab und setzt sich vor den Anrufbeantworter. War Flieges Stimme beunruhigt? Eigentlich nicht. Die Stimme war ein wenig gedämpft. „Ein Spaziergang würde mir guttun.“ Dieser Meinung konnte man allerdings auch sein, wenn man die ganze Nacht durchgesoffen oder bei Föhn Kopfweh hatte. Der lapidare Anruf eines alten Freundes, der einen alltäglichen Vorschlag macht. Aber da gab es noch etwas. Herzog hörte es erst, als er die Meldung bis zum Ende laufen ließ. Das Klingeln an der Wohnungstür war seiner Aufmerksamkeit entgangen. Es war fast unhörbar, aber deutlich, je öfter Herzog die Nachricht abhörte. Ganz gewöhnliche Töne, die sich wiederholten. Ding dong. Und noch einmal ding dong. Genauso hätte der Junge läuten können, der immer mit der Werbung unterwegs war. Hätte Fliege das Telefon zur Seite gelegt und aufs Band gesprochen „Moment, es klingelt“, wäre Herzog Zeuge des Überfalls geworden, zumindest akustisch. Offensichtlich hatte keiner der Nachbarn den anschließenden Lärm gehört. Eigenartig, denn als Fliege kurz vor der Scheidung oft lauthals mit seiner Frau gestritten hatte, war immer sofort ein vorwurfsvolles Klopfen zu hören gewesen. Öffnete er immer, ohne durch den Türspion zu sehen? Kannte Fliege diejenigen, die vor der Tür standen, oder hatte er niemanden gesehen und einfach geöffnet?

„Vergessen“, sagte Herzog zu sich selbst, „ich muss das Ganze so schnell wie möglich vergessen!“ Er beschloss, erst einmal schwimmen zu gehen. Nein, er beschloss nicht, er flüchtete, obwohl er sich nur sehr langsam bewegen konnte, langsamer noch als gewöhnlich. Auch die beiden Worte „erst einmal“ waren nicht zutreffend, denn damit schloss er alles Übrige aus. Er konnte nicht nach Verlassen des Schwimmbads einen Rechtsanwalt um Rat fragen oder vielleicht doch die Polizei rufen. Damit war es dann vorbei.

Am meisten schätzte Herzog ein Freibad, das auch im Winter geöffnet hatte. Ein leichter Dunst lag über dem Wasser und verschluckte die neonfarbenen Bademützen. Das Wasser war von unten beleuchtet und das Becken sah aus, als wäre es am Boden mit Schnee bedeckt. Schwimmer tauchten aus Dampfwolken auf und wie immer erinnerten ihn ihre runden dunklen Brillen an Fotos von Kampffliegern aus dem Ersten Weltkrieg.

Er zog seine üblichen Bahnen, aber das beruhigte ihn nicht. Der Flow, den er so liebte, der ihn oft über zweitausend Meter hinaustrug und die Zeit vergessen ließ, wollte und wollte sich nicht einstellen. Er brachte die Atmung nicht unter Kontrolle. Es gelang ihm nicht, Widerstand unter die Hände zu bringen, und er zog sich nicht vorwärts. Die Schultern verkrampften. Er schlug das Wasser mehr, als dass er darin geglitten wäre. Ab und zu pflügten Frauen in dünnen Trikots, die weniger Haut verdeckten als freigaben, an ihm vorüber. In der Spur der Luftblasen, die ihre Füße im Wasser hinterließen, sah er die Augen dieses am Haken hängenden Menschen:

Axel Steigenberger, bis zur zehnten Klasse sein Banknachbar im Comenius-Gymnasium in Deggendorf. Nach der Mittleren Reife Beginn einer Karriere als Boxer im Fliegengewicht. Ein aufstrebendes Talent mit schnellen Beinen, runden, festen Schultern und lockerem Mundwerk. Ein erklärter Liebling der Boulevardpresse, der sich selbst gern mit einem zugeschwollenen Auge in der Zeitung sah. Viel Schweiß und Arbeit am Sandsack, denn Boxen hieß nicht nur Draufhauen. Vor allem musste man lernen, Schläge einzustecken, und zwar so, dass sie einen nicht aus der Bahn warfen. Eine mehrmals gebrochene Nase, zwei zertrümmerte Schlüsselbeine, ein Milzriss und eine Leberquetschung. Ein gewiefter Taktiker. Als Profi ungeschlagen, trotzdem keine Chance gegen die Amerikaner, die den Markt mit allen legalen und illegalen Mitteln beherrschten. Mut und Wut alleine reichten nicht. Der Traum vom großen Geld verflüchtigte sich.

Nach drei Jahren Aufnahmeprüfung bei der Polizei. Vergeblicher Versuch, in einer Sondereinheit, wie der GSG 9, aufgenommen zu werden. Vergeblicher Versuch, wenigstens in der Zentralen Unterstützungsgruppe Zoll zu landen, in der Fitness, Reaktionsschnelligkeit und gute Nerven ein abwechslungsreiches Berufsleben versprachen. Schließlich ein stinknormaler Zollfahnder, mit Schwerpunkt Autobahn Salzburg-München. Geschieden, weil nichts mehr zusammenpasste, wie er sagte. Vater eines Sohnes.

Der Boxer, den sie Fliege nannten, erhängt im Alter von einunddreißig Jahren.

Wenn man aus einer Boxfabrik kommt, muss man an die eigene Kraft glauben, sonst wird das Leben unerträglich, das Training zur Hölle und jeder Schlag sinnlos. Wird man hingegen in diesem Land Polizist, muss man nicht unbedingt von der Existenz Gottes überzeugt sein, obwohl man bei der Vereidigung die rechte Hand auf die Bibel legt. Wahrscheinlich war es sogar hinderlich, zu viele Grundsätze zu haben, wenn man mit der täglichen Arbeit und den Vorgesetzten fertig werden wollte. Herzog hatte nie herausgefunden, wie Fliege mit diesen Widersprüchen zurechtkam.

Es war für Herzog völlig klar, dass mehrere Angreifer über ihn hergefallen sein mussten. Einer alleine hätte keine Chance gehabt. Einen einzelnen Angreifer hätte der platt gemacht, obwohl er längst nicht mehr regelmäßig trainierte.

Im wohltemperierten Wasser des Schwimmbades legte sich Herzog Folgendes zurecht: Er hätte bei den Ermittlungen in keiner Weise hilfreich sein können. Was wusste er letztlich schon von Flieges Leben? Kannte er ihn überhaupt? Kennt man jemanden, nur weil man ihn bei seinem Spitznamen nennen darf und mit ihm lange Zeit die Schulbank in einer Kleinstadt gedrückt hat? Weil es irgendwann einmal in der Oberstufe des Gymnasiums eine gemeinsame Geliebte gegeben hatte, die man im Eiscafé Venezia auf dem Luitpoldplatz traf? Weil man später unter anderem Spaziergänge im Englischen Garten unternahm und sich anschließend am Chinesischen Turm mit einem schlecht eingeschenkten Bier zuprostete? Weil man wusste, dass einer nicht nur Legastheniker, sondern auch Rechtsausleger war, der zwar als Erwachsener noch mit der Rechtschreibung kämpfte, dafür aber blitzschnelle Aufwärtshaken punktgenau auf das Kinn des Gegners setzen konnte?

Herzog war einige Male am Ring gestanden, wenn Fliege kämpfte. Er war hart im Nehmen, und Herzog wurde regelmäßig schlecht. Trotzdem faszinierte ihn dieser konzentrierte Blick des Boxers. In Sekundenbruchteilen konnte er eine Schwäche des Gegners erkennen und in ihn hineingehen. So nannte er es. Nicht selten kam es dann zu dem entscheidenden Punch, der den Kampf beendete und den Kontrahenten zu Boden streckte. Die Gier der Zuschauer ekelte Herzog genauso an wie die entstellten Gesichter. Wenn die Augen zuschwollen und die Haut im Gesicht riss. Wenn sich das Blut der Boxer mit Schweiß mischte und dünnflüssig wurde. Was sein Freund für die große Welt hielt, war für Herzog nicht mehr als Vorstadt. Für Fliege und seinen Anhang erschien glamourös, was für ihn schmierig, bisweilen sogar erbärmlich erschien. Sein bestickter Seidenumhang, mit dem er in den Ring stieg, erinnerte an billige Nylonblousons, denen man einen chinesischen Drachen verpasst hatte. Und Frauen, die bei einem Knockout vor Begeisterung kreischten, konnte Herzog nichts abgewinnen.

Er stieg aus dem Wasser und hastete den Gang entlang zu den heißen Duschen. In Abständen drehte er sich um. Selbst beim Hin- und Herschwimmen hatte er dies getan. Völlig blödsinnig! In der Dusche fühlte er sich eingesperrt. Er vermied es, beim Haarewaschen die Augen zu schließen, und behielt die Tür im Auge.

Während er versuchte, den Geruch des Chlorwassers loszuwerden, sah er den Toten vor sich wie eines jener Opfer aus unzähligen Fernsehserien, die man heute selbst in Kneipen auf Großleinwänden überträgt. In denen gerichtsmedizinische Untersuchungsräume immer in kaltes Blau- oder Grünlicht getaucht werden, damit die Schauspieler aussehen, als würden sie sich vor der offenen Leiche übergeben müssen.

Jeder Ermordete, das weiß heute jedes Kind, wird in der Gerichtsmedizin auf seiner Bahre zunächst von außen besichtigt: Ohren, Nase, Mund. Sogar die Augenlider werden mit einer Pinzette angehoben, damit die gelblichen Bindehäute der toten Augen in Großaufnahme noch einmal zum Vorschein kommen. Dann Brust, Rücken, Arme und Beine. Zur inneren Begutachtung setzt man mit dem Skalpell einen Schnitt vom Schambein bis unters Kinn. Wenn das Brustbein entfernt ist, liegen Lunge und Herz offen da. Das Gedärm wird entnommen und auf einem Tisch ausgebreitet. Weist die Leber eine krankhafte Vergrößerung auf, wird ihr besondere Beachtung geschenkt. Damit war allerdings bei Fliege nicht zu rechnen.

Am Ende kommt der Kopf dran. Ein Schnitt von einem Ohr zum anderen quer über den Schädel. Die Kopfhaut, dick wie eine Schwarte, wird nach vorne und nach hinten abgeschoben, das Schädeldach mit der Handsäge entfernt und das Empfindlichste eines Menschen, das Gehirn, herausgelöst. Dort würden die Ärzte bei dem Boxer Blutungen und blauschwarze Verfärbungen finden, die durch gezielte Schläge verursacht worden waren. Wahrscheinlich aber auch alte Verletzungen, die von den vielen Kopftreffern herrührten. Nach getaner Arbeit würde ein Mitarbeiter ein Kühlfach öffnen und Fliege bis zur offiziellen Freigabe der Leiche und der anschließenden Beerdigung in einem der stillen Aquarien des Todes verschwinden lassen, in guter Nachbarschaft mit aufgeblähten Wasserleichen, Teilen von Verkehrstoten und zufriedenen Selbstmördern.

So wie er sich vor etwa einer Stunde nach Wasser gesehnt hatte, in das er eintauchen konnte, als würde es darin eine Möglichkeit geben, die Zeit zurückzudrehen, so sehnte sich Herzog nun nach Wärme. Nach einer möglichst großen Entfernung zwischen Flieges Wohnung und einem Ort, an dem er mit leichtem Gepäck an einem Strand ankommen würde. Er machte sich auf den Heimweg, überquerte die Straße und ging an einer Lottoannahmestelle vorbei. Sechzehn Millionen lockten im Jackpot. Zumindest für die, die den Zufall für einen Freund hielten und an das Glück glaubten. Er beobachtete einen Mann, der vor einem Bankautomaten lässig ein paar Geldscheine zählte und dann achtlos in die Jackentasche stopfte. Er überlegte. Offene Jackentaschen waren für ihn immer eine Einladung. Ein paar Wartende an einer roten Ampel, ein kleines Gedränge und die Scheine hatten den Besitzer gewechselt. Der Mann verschwand im Eingang einer Pension. Die Sache hatte sich also von selbst erledigt.

Herzog war von Natur aus mit flinken Fingern und scharfen Augen ausgestattet. Es wäre seiner Meinung nach eine Schande gewesen, diese Gabe nicht zu vervollkommnen. Schon als kleiner Junge konnte er vom Tisch der Erwachsenen unbemerkt Schokoladestückchen verschwinden lassen. Später dann Zigaretten und die begehrten Virginiazigarren seines Onkels Eugen, bei dem er aufwuchs. Er rauchte sie zusammen mit seinen Freunden, bis ihnen schlecht wurde.

Im Alter von fünf Jahren wünschte er sich zu Weihnachten Handschellen. Er liebte es, wenn sie mit einem Geräusch, das von einer riesigen Grille zu kommen schien, zugeschlossen wurden. Gleichzeitig forderte es ihn heraus. Um sich von Handschellen zu befreien, musste man die Fingerknöchel einer Hand so schmal machen können wie das Handgelenk. Er begann schon unter dem Weihnachtsbaum und später dann vor dem Einschlafen zu trainieren, seine Hände in Längsrichtung einzurollen. Zunächst knetete er seine Hände weich, dann drückte er seinen Daumen so stark in die Handfläche, bis seine Hand aussah wie eine Klopapierrolle. Es dauerte zwei Wochen, bis er sich aus den Handschellen befreien konnte. Er stellte den Trick seinen Freunden vor, die unsinnigerweise vor allem die Handschellen untersuchten. Zur Sicherheit hatte er allerdings immer eine Heftklammer dabei, mit der sich die einfachen Schlösser leicht öffnen ließen.

Dann begann er zu zaubern und trainierte damit nicht nur seine Hände, sondern schärfte auch den Beobachtungssinn. Er wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, anderen Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, wenn er nicht einmal selbst auf primitive Weise bestohlen worden wäre: Gegen drei Uhr morgens war er nicht ganz nüchtern auf dem Heimweg aus einem Club gewesen. In seinem Kopf dröhnten noch die Bässe. Er hüpfte ein wenig, als würde er „Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“ spielen. Für ein paar Stunden hatte er seine Seele losgelassen, hatte das wechselnde Licht genossen, die zuckenden Bewegungen der Tänzerinnen. An einer Bushaltestelle kam eine junge Frau auf ihn zu, gut gekleidet, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Sie fasste entschlossen in seinen Schritt und bot sich für einen lächerlichen Betrag an. Während er immer wieder versuchte, die unangenehme Berührung loszuwerden, wanderte sie unverfroren mit der anderen Hand zuerst in seine Gesäßtasche und dann in die rechte Vordertasche. Nicht die vierzig Euro schmerzten ihn, die er dabei einbüßte, sondern die Dreistigkeit, mit der die Frau vorgegangen war und ihm immer wieder das Wort „Ficken“ ins Ohr geflüstert hatte. Es klang für Herzog keineswegs verführerisch, sondern zudringlich und ekelhaft. Seit dieser Nacht interessierte ihn, wie die Menschen mit ihrem Geld umgingen. Ziemlich sorglos, wie er fand, und eines Tages war es soweit. Seine Fingerfertigkeit wurde zu einer einträglichen Tätigkeit, die seine finanziellen Sorgen nach dem Tod Onkel Eugens auf ein Minimum reduzierten.

Am Abend nach Flieges Ermordung ging Herzog früh zu Bett. Er träumte, er würde in dem chinesischen Restaurant „Tor zum Himmlischen Frieden“ essen. In seinem Traum gab es keine weiteren Gäste. Man kannte ihn und seine Eigenheiten und respektierte sie mit chinesischer Diskretion. Es mochte für andere Menschen befremdlich sein, allein in ein Restaurant zu gehen, aber nach mehreren Jahren in einem Internat, in dem man weder in seinem Zimmer noch beim Essen, nicht einmal unter der Dusche seine Ruhe hatte, stand ihm dieser Tick zu. Vor ihm stand im Traum eine Flasche Wein, die er vom ersten bis zum letzten Glas alleine trinken würde.

Er bestellte Fisch mit frischem Ingwer, dazu Reis und Gemüse. Es passierte, als er fast mit seiner Portion fertig war. Der Kopf des Fisches wurde plötzlich größer und wechselte die Farbe. Rote Streifen schossen in das blasse Grau, quer über die weißlich toten Augen, die zu glänzen begannen. Grün schillernde Punkte verteilten sich über jene Hautfetzen, die er fein säuberlich vom Fisch getrennt und auf einem separaten Teller abgelegt hatte. Der Kopf schnappte nach seiner Hand. Er versuchte, den Fisch mit der Gabel zu bändigen, aber es gelang ihm nicht.

Der Kopf mit dem aufgerissenen Maul, in dem die Zähne immer länger wurden, sprang zurück auf die blauweiße Porzellanplatte, auf der ein lächelnder Ober das Gericht serviert hatte. Der Schwanz kroch langsam über den Tellerrand auf ihn zu. Er hielt sein Messer wie ein Schwert, nein, er hielt sein Messer für ein Schwert, das ihn retten konnte. Sein Magen krampfte und gab den Schmerz an die umliegenden Organe weiter.

Die Ober bliesen ihre Köpfe auf und begannen an die Decke zu schweben. Ihre schmächtigen Körper in den schwarzen Tang-Suits unterschieden sich nicht von den Quasten der chinesischen Lampions. Herzog hätte lachen können, aber der Atem fehlte ihm. Er brachte nur ein Ziehen zustande wie jemand, der an Asthma leidet. Er presste die Hände gegen die Tischplatte. Nicht nur die Hose, sein ganzer Körper klebte am Stuhl. Wenn er es nicht schaffte sofort zu verschwinden, würde er an diesem unheimlichen Fischkopf zugrunde gehen. In sitzender Haltung hüpfte er zum Ausgang des Restaurants.

Vor dem „Tor zum Himmlischen Frieden“ hielt er ein Taxi an. Rote Streifen und grüne Punkte verfolgten ihn. Aufgeblasene Kellnerköpfe wackelten vor der Windschutzscheibe. Der Fahrer gab Gas, er wurde in den Rücksitz gedrückt. Das Taxi raste mit quietschenden Reifen durch Flieges Treppenhaus mit den vergitterten Fenstern und prallte gegen die geschlossene Wohnungstür.

In einem Zustand zwischen Schlaf und Erwachen versuchte er den Traum loszuwerden. Es gelang ihm nicht. Er saß immer noch eingeklemmt im Auto und spürte, der Traum würde sich fortsetzen, sobald der Schlaf zurückkam. Schließlich erwachte er in der Küche. Zwei leere Milchflaschen lagen auf dem Boden. Seine Zunge klebte am Gaumen und der Geschmack in seinem Mund erinnerte ihn sofort wieder an den Fisch, den er im Traum bestellt hatte.

Unter der Dusche flackerten die Bilder der Nacht in seinem Kopf. Auch mit eiskaltem Wasser waren sie nicht zu vertreiben. Der Fisch, die Kellner, das Taxi, die Milchflaschen, das Treppenhaus. Alles ging durcheinander. Dazwischen der tote Fliege. Normalerweise war sein Leben unkompliziert, es sei denn, er war unterwegs, um Geld zu verdienen. Und natürlich ausgenommen seine Treffen mit Margret, aber das war etwas völlig anderes. Eine Leidenschaft ist kein Albtraum, auch wenn manche Menschen das Gegenteil behaupten.

Wenn er alles heil überstanden hatte und die Erinnerung an den erhängten Fliege langsam blasser geworden war, würde er das „ Tor zum Himmlischen Frieden“, in dem er tatsächlich manchmal zu Gast war, wieder einmal aufsuchen. Niemand würde den Satz und seine entschiedene Handbewegung verstehen: „Heute keinen Fisch!“

Zwei Tage später läutete das Telefon. Er hoffte auf einen Anruf von Margret, aber das Display zeigte eine unbekannte Nummer. Er zögerte kurz, dann nahm er das Gespräch an. Er erkannte die Stimme, wusste aber nicht sofort, wem sie gehörte.

„Hier Alina. Ich muss mit dir reden.“

Herzog war völlig überrumpelt. „Ich bin im Moment …“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Ich stehe vor deiner Haustür.“

Es war Flieges geschiedene Frau. Herzog hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie waren früher oft am Wochenende zusammen unterwegs gewesen, aber seit der Trennung war der Kontakt abgebrochen. Eigentlich schon seit der Schwangerschaft, die für sie in einem schwarzen Loch geendet hatte, mit dem ihr Mann absolut nichts hatte anfangen können. Er war völlig aus dem Häuschen über seinen Sohn gewesen und hatte nicht verstehen können, warum die Frau das Kind abgelehnt hatte.

Wie sollte er sich nun in dieser Situation verhalten? Er konnte ihr schlecht sagen, dass er Fliege gefunden hatte und vor dessen Mördern geflüchtet war, ohne die Polizei zu verständigen.

Alina trat entschlossen in seine Wohnung, als Herzog öffnete. Sie hatte ihre Krise entweder gut im Griff oder überwunden.

„Axel ist tot. Hast du schon davon erfahren?“

Er versuchte, sie entsetzt anzusehen. „Um Gottes Willen, seit wann?“

„Vorgestern. Er ist umgebracht worden, aber sie wollen einen Selbstmord daraus machen.“

Sollte er ihr Auskunft geben? Er entschloss sich abzuwarten.

„Ich musste ihn heute Morgen identifizieren. Sie haben ihn gut wieder hergerichtet, aber mich können sie nicht täuschen. Ich hab den Gerichtsmediziner gebeten, mich kurz mit meinem Mann alleine zu lassen.“

Herzog stellte sich die Situation vor. Ihn gruselte. Sie sah ihm aufmerksam ins Gesicht.

„Du weißt, dass ich als Arzthelferin gearbeitet habe, bevor das Kind kam. In dem Bericht, den sie mir zeigten, stand nichts von Blutungen in der Schädelschwarte, in den Augenbindehäuten, in der Gesichtshaut und in den Lymphknoten. Alles das wären Folgen eines Selbstmordes durch Erhängen gewesen.“

„Wer sollte so etwas machen?“

„Meinst du umbringen oder vertuschen?

„Vielleicht beides.“

„Ich weiß es nicht.“

Sie öffnete ihre Handtasche und legte ein schwarzes Notizbuch auf den Tisch.

„Vor einer Woche war Axel bei mir, um mir das zu bringen. Ich sollte es eine Weile für ihn aufbewahren. Er sagte: ‚Steck es ins Kühlfach, da ist es sicher.‘ Er machte einen fahrigen Eindruck und seine Hände zitterten. Weißt du, was los war?“

„Wir haben uns länger nicht gesehen“, wich Herzog aus.

„Er hat zu mir gesagt, er würde dich anrufen.“

Nun musste er sich entscheiden: Lüge oder Wahrheit. „Hat er aber nicht.“

Sie dachte nach. „Ein Selbstmord hat meist eine private Geschichte. Das wirbelt keinen Staub auf. Oder höchstens ein paar Tage. Aber einen Polizistenmord, das können sie vielleicht im Moment nicht brauchen.“

„Du meinst, er war in irgendetwas verwickelt?“

„Jeder von denen macht Geschäfte nebenher. Dafür ist der Zoll zu verführerisch. Warum sollte ein Polizist einen besseren Charakter haben als andere Menschen? Geschmuggelte Ware, Rauschgift, Menschenhandel. Bevor das Kind kam …“

Ihr Leben ist eingeteilt in vor der Geburt und nach der Geburt, schoss es Herzog durch den Kopf. Nach der Geburt war anscheinend alles anders.

„… bevor das Kind kam, sind wir oft am Wochenende losgezogen und haben vorher etwas eingeworfen. Harmlose Sachen, ein paar Pillen, die gute Laune machten. Etwas anderes wollte ich nicht. Axel nannte sie im Spaß immer Mother’s little helpers.“

Herzog erinnerte sich. Er hatte das Zeug nie vertragen, vor allem wenn Alkohol dazukam. Es machte ihn nervös und völlig hibbelig. Und er mochte es nicht, wenn er die Übersicht verlor. Die Mischung aus Speed und Wodka ruinierte zudem meist auch noch den nächsten Tag.

„Ein Kollege hat damit sein Gehalt aufgebessert.“

„Und du meinst, Axel …“

„Nein, wegen ein paar Pillen, die man heute auf jedem Schulhof bekommt, veranstaltet man keinen solchen Zirkus.“

Herzog musste schlucken. Sie sagte tatsächlich Zirkus.

„Er war in letzter Zeit oft in Vietnam. Ich finde, zu oft. Hat er dir nie davon erzählt?“

Nein, Fliege hatte tatsächlich nicht davon erzählt.

„Männer“, sagte sie und zog dabei die Mundwinkel nach unten, „ihr wart doch befreundet, verdammt noch mal.“

Na ja, dachte Herzog, befreundet nicht gerade, aber offensichtlich lagen sie in ihren Tätigkeiten nicht weit auseinander.

„Es ist nicht zu glauben. Über was redet ihr eigentlich, wenn ihr zusammen seid?“ Dann verächtlich: „Weiber, Autos und Fußball! Wahrscheinlich in dieser Reihenfolge.“

„Du meinst Boxen.“

„Red keinen Blödsinn. Du weißt genau, was ich meine.“ Sie nahm seine Hand. „Du musst mir helfen.“

Herzog war so überrascht, dass ihm keine Antwort einfiel und er nicht einmal seine Hand zurückzog. Sie entwickelte einen detaillierten Plan, wie er ihr bei der Aufklärung des Mordes helfen sollte. Am Ende sah sie sich um und fragte:

„Hast du was zu trinken? Ein kleiner Schluck würde mir guttun.“ Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, holte eine angebrochene Flasche Weißwein heraus, nahm zwei Gläser aus dem Regal, schenkte ein und sagte: „Cin cin!“

„Auf dein Wohl“, antwortete Herzog und hob zögernd sein Glas. Dann fügte er zweifelnd hinzu, „… ich weiß nicht.“

„Sei kein Frosch! Axel würde es dir danken. Da bin ich sicher!“ Sie tätschelte ihm die Wange.

Ihr Telefon läutete. „Ja? Ich kann jetzt nicht. Nein, wirklich nicht.“ Sie hängte an den letzten Satz noch einen Namen, den Herzog nicht richtig verstand, und legte auf. Es klang so ähnlich wie Oldie.

„Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?“

„Nein!“ Die Abfuhr kam so schnell, dass es Herzog peinlich war.

„Feigling.“

An der Tür drehte sich Alina noch einmal zu ihm um.

„Vielleicht hilft dir das bei deiner Entscheidung: Axel hatte eine gute Nase. Er ahnte, womit du dein Geld verdienst. Seit Langem! Ich ruf dich an! Morgen um sechs Uhr.“ Mit diesem Satz war sie im Treppenhaus.

Herzog starrte auf den Abdruck, den Alinas Lippenstift am Glas hinterlassen hatte. Das Wort Feigling brannte wie ein Streichholz an der Fingerkuppe. Es beunruhigte ihn, dass der Zollfahnder ihn verdächtigt hatte. War er von ihm beobachtet worden? Oder gar verfolgt? Er konnte sich an keine Situation erinnern, die ihn verraten hätte. Auch wenn Fliege vielleicht nur Andeutungen gemacht hatte, Alina war sicher nicht grundlos gerade zu ihm gekommen. Sie war durchaus in der Lage, ihn zu erpressen, wenn er nicht zusagte, und er fürchtete nach ihrem forschen Auftreten, dass sie bereit war, Daumenschrauben bis zur Schmerzgrenze einzusetzen.

In dieser Nacht lief er ruhelos in seiner Wohnung auf und ab und traf alle zehn Minuten eine andere Entscheidung. Autos auf der Straße erschreckten ihn, der Kneipenlärm von gegenüber machte ihn nervös und in seinem Bauch krochen Millionen von Würmern durcheinander.

Auf die Minute genau kam der Anruf am nächsten Tag. „Hallo?“

„Lass die Formalitäten. Sie sind unnötig. Hast du dich entschieden?“

Herzog sagte zu. Er fühlte sich gedemütigt und es gab nicht nur eine warnende Stimme in seinem Inneren.

„Du findest Geld in deinem Briefkasten. Denk daran, was wir ausgemacht haben: Nicht du erreichst mich, ich erreiche dich.“

„Ich wollte dir noch etwas sagen …“ Weiter kam er nicht.

„Später, wenn alles erledigt ist.“

Damit war das Gespräch beendet.

Herzogs Höhenflug

Подняться наверх