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Rasender Hass

Der Beschäftigungslose Lothar Kahl wird angeklagt, durch Totschlag vorsätzlich das Leben eines Menschen vernichtet zu haben.

Der Anklage der Staatsanwaltschaft Cottbus widerspricht der Angeklagte Kahl bei der Verhandlung im Juni 1991 vor dem Bezirksgericht Cottbus nicht. Mit einer Einschränkung: Was sich in der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1990 in der Wohnung seiner Mutter abgespielt habe, daran habe er »keine Erinnerung«, sagt er.

Das Leben des inzwischen zweiundvierzig Jahre alten Lothar Kahl war, bei allen Höhen und Tiefen, die es bereithielt, bis dahin wenig auffällig. Als Gewalttäter ist er nie in Erscheinung getreten. In seinem Strafregisterauszug gibt es keine einzige Eintragung.

Geboren und aufgewachsen im sorbischen Dorf Tranitz bei Cottbus, das 1983 vom Braunkohletagebau geschluckt wurde, verlebt er unbeschwerte Kinder- und Jugendjahre. Er meistert alle zehn Klassenstufen der allgemeinbildenden Schule, erlernt den Beruf des Bäckers und arbeitet anschließend im Backwarenkombinat Cottbus. Noch mehr als das Backen von Brot, Brötchen und Kuchen interessiert ihn jedoch die Musik. Vor allem Schlagzeug und Bass sind seit dem fünfzehnten Lebensjahr seine große Leidenschaft. Bereits 1970 heiratet der einundzwanzigjährige junge Mann und wird Vater von zwei Kindern. Die Ehe hält aber nur fünf Jahre. Nach der Scheidung kehrt der verlorene Sohn nach Tranitz ins Elternhaus zurück und versorgt dort Haus, Garten und Kleintierhaltung. Vom Bergbau vertrieben, siedelt die Familie in ein Haus am Stadtrand von Cottbus um. Seine große Leidenschaft, die Musik, macht er 1985 zu seinem Beruf.

Lothar Kahl sehnt sich nach neuer Liebe und Geborgenheit. Eine feste Partnerschaft gelingt ihm nicht. Zweimal noch lebt er mit Partnerinnen im elterlichen Wohnhaus zusammen, zweimal flüchten die Frauen jeweils nach nur zwei Jahren des Zusammenseins. »Die sind von meiner Mutter aus dem Haus geekelt worden«, wird er später vor Gericht aussagen.

Statt weiblicher Harmonie und familiärem Zusammenhalt wird Alkohol im Hause Kahl heimisch. Unter Alkoholeinfluss kommt es immer öfter zum Streit und auch zu Handgreiflichkeiten zwischen Mutter und Sohn, bei denen die alte Dame auch für Außenstehende sichtbare Verletzungen im Gesicht und am Körper erleidet. Letztlich flüchtet die Lebensgefährtin von Lothar Kahl, Sandra Schuster, im Mai 1990 vor dem Jähzorn und der Aggressivität ihres Freundes und den anhaltenden Streitigkeiten innerhalb der Familie aus dem Haus.

Am letzten Wochenende im Juni 1990 nimmt das Unheil seinen Lauf. Kahl sucht seine Ex-Freundin Sandra Schuster an ihrem Arbeitsplatz auf. Beide verabreden sich für den Freitagabend im Haus der Familie Kahl. Lothar hofft auf ein klärendes Gespräch, Sandra will letzte, dort verbliebene persönliche Sachen abholen.

Das geplante Versöhnungstreffen hält Lothar Kahl nicht davon ab, am Nachmittag des 29. Juni in der Gaststätte Spreewehrmühle in Cottbus, einem Ausflugslokal nahe der Spree, kurz vorbeizuschauen. Der »kurze« Besuch dehnt sich über viele Stunden bis zum Gaststättenschluss um Mitternacht aus. In dieser Zeit will Kahl fünfzehn große Glas Bier, fünfzehn doppelte Schnäpse und drei bis vier Flaschen Wein getrunken haben. Der derart betankte Mann radelt von der Gaststätte mit dem Fahrrad sturzfrei zum etwa eineinhalb Kilometer entfernten Grundstück seiner Eltern. Als er die Gartentür verschlossen vorfindet, schließt er daraus, dass seine Mutter die Freundin erst gar nicht ins Haus gelassen oder sie wieder rausgeschmissen hat. Voller Wut und Hass beschließt er, die Mutter zur Rede zu stellen. Er reißt die Tür zum Schlafzimmer auf, in dem die Eltern bereits im Bett liegen. Er stellt die Mutter zur Rede und bemerkt dabei, dass diese einigen Alkohol getrunken haben muss. Lothar Kahl holt aus dem Bad eine Schüssel mit kaltem Wasser und schüttet es mit den Worten »Damit du wieder nüchtern wirst« über die Mutter. »Du hast Sandra schon wieder aus dem Haus geekelt«, brüllt er los. »Immer wieder vertreibst du meine Freundin.«

Mutter Kahl lässt sich davon nicht beeindrucken, springt aus dem Bett und beharrt auf ihrem Standpunkt: »Die Schlampe hat in meinem Haus nichts zu suchen«, giftet sie. »Sei froh, dass sie weg ist.«

Es gibt für Sohn Lothar kein Halten mehr. Wahllos schlägt er mit den Fäusten auf die Mutter ein, ohne dass der Vater in den Streit eingreift. Wohin er boxt, sieht der Sohn in dem dunklen Zimmer nicht. Es ist ihm auch egal. Er bemerkt jedoch, dass die Fäuste Gesicht und Kopf treffen. Dass er die Mutter mit den Füßen tritt und den Kopf gegen Wand und Boden schlägt, dazu fehlt ihm später jegliche Erinnerung. Ohne sich um die Verletzte zu kümmern, die zusammengekrümmt und blutend auf dem Fußboden neben dem Bett liegt, geht der Sohn aus dem Haus. Der Täter schnappt sich sein Fahrrad und fährt zur Wohnung von Ex-Freundin Sandra. Die ist allerdings nicht zu Hause, oder sie öffnet dem Betrunkenen nicht die Tür. Kahl fährt schimpfend davon und nächtigt, berauscht vom Alkohol, bis in den späten Vormittag hinein irgendwo im Freien. Als er munter wird, ist sein nächstes Ziel erneut die Spreewehrmühle.

Am 30. Juni 1990 gegen 22 Uhr wird Lothar Kahl in der Gaststätte verhaftet. Eineinhalb Stunden später stellen Ärzte bei ihm eine Blutalkoholkonzentration von 1,7 Promille fest.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Mutter von Lothar Kahl seit einem Tag tot. Sie ist noch in ihrem Schlafzimmer, dem Ort der Gewaltorgie, verstorben. Das Opfer hatte 1,2 Promille Alkohol im Venenblut.

Das Obduktionsprotokoll der gerichtsmedizinischen Sektion listet eine Vielzahl von Verletzungen am gesamten Körper des Opfers auf: Kopfschwartenablederung, Nasenknorpelzertrümmerung, Wirbelsäulenbruch, Brustbein- und Rippenbrüche mit Lungenverletzung, Leber- und Milzrisse sowie ein Riss der Beckenblutader. Nach Ansicht der Gerichtsmediziner muss der Täter nicht nur mit den Fäusten auf seine Mutter eingeschlagen haben, sondern sie auch mit den Händen gewürgt und auf ihrer Brust gekniet oder mit dem Fuß gegen den Oberkörper getreten haben.

Das Gericht verurteilt Lothar Kahl wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Die Richter beziehen in ihrem Urteil die erhebliche Menge von Alkohol ein, die Kahl von Nachmittag an konsumiert hatte. Die vom Angeklagten genannte Trinkmenge mag überhöht erscheinen, so das Gericht. Dennoch sei von einer Blutalkoholkonzentration von drei Promille auszugehen. »Damit war zur Tatzeit die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seines Tuns einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, ausgeschlossen.« Zumindest habe der Angeklagte die strafrechtlich relevante Grenze zur erheblich verminderten Schuldfähigkeit hinüber zum Vollrausch sicher überschritten. Dass der Angeklagte zu irgendeinem Zeitpunkt die Absicht oder auch nur den bedingten Vorsatz gehabt hatte, das Opfer zu töten, habe die Hauptverhandlung nicht ergeben.

Angewandt wird vom Gericht nicht das Strafrecht der DDR, sondern das für Vollrausch geltende mildere Recht der BRD, so wie es im Einigungsvertrag verankert ist. In dem heißt es, dass bei Straftaten, die vor der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten begangen wurden und erst danach abgeurteilt werden, das jeweils mildere Strafrecht angewandt werden müsse.

Das Feuerdrama von Cottbus

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