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Aufgelauert. Vergewaltigt. Ausgesetzt.

Mittwoch, 27. Juni 1990, gegen Mittag

An der Kreuzung einer Straße, die zwei Gemeinden im Kreis Finsterwalde, dem heutigen Elbe-Elster-Kreis, miteinander verbindet, steht am Rande eines abzweigenden Feldwegs ein weißer Mercedes. Der Fahrer im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren lehnt lässig an seinem Gefährt und beobachtet die Gegend. Aufmerksam registriert er den Verkehr auf der schmalen Straße. Der Mercedes hat ein Wiesbadener Kennzeichen. So etwas fällt jetzt, in der Wendezeit, natürlich auf. Eine Stunde später ist von dem Auto und seinem Fahrer nichts mehr zu sehen. Hatte er nur eine kurze Rast gemacht? Sich von einer langen Autofahrt erholt? Die Anschlussstelle Ortrand der Autobahn Berlin–Dresden ist nicht weit.

Donnerstag, 28. Juni 1990, gegen 6.30 Uhr

Zwei Mädchen, Monika und Jasmin, sind mit ihren Fahrrädern auf dem Weg zur Schule. In einer Woche hat Monika Geburtstag, und die Sommerferien beginnen genau an diesem Tag. Das ist doppelter Grund zur Freude. Die Mädchen radeln dahin, reden vielleicht über ihre Ferienpläne und über Monikas Geburtstag. Sie wird vierzehn Jahre alt. Den Mann am Rande des Feldwegs beachten sie nicht. Der scheint ohnehin in Gedanken woanders zu sein. Jedenfalls macht er keine Anstalten, mit den Mädchen Kontakt aufzunehmen. Ein paar Meter weiter hat Monika Pech. Etwas am Sattel Befestigtes hat sich selbständig gemacht. Das Mädchen hält an, holt sich das verlorene Stück. Die Schulkameradin Jasmin ist derweil langsam weitergefahren.

Als Monika das verlorene Teil auf ihr Gefährt montieren will, steht plötzlich der Mann am Wegesrand hinter ihr, legt seinen Arm um ihren Hals und droht: »Wenn du schreist, bringe ich dich um.« Die Dreizehnjährige bekommt Todesangst. Sie wehrt sich nicht gegen den viel stärkeren Mann. Und schreien kann sie auch nicht. Der Täter hält ihr mit der einen Hand den Mund zu, mit der anderen wirft er das Fahrrad zu Boden und zerrt das Mädchen zu seinem Auto, einem weißen Mercedes. Er stößt Monika auf die hintere Bank. »Leg dich jetzt hin und sei ruhig. Dann passiert dir auch nichts«, herrscht er sein Opfer an. Kein eventuell Vorbeifahrender könnte das völlig verängstigte Kind auf der Rückbank sehen. Der Mann fährt mit dem Auto durch Finsterwalde in Richtung Elsterwerda. Er scheint sich in der Gegend auszukennen, gibt sich aber harmlos. »Wie alt bist du?«, fragt er.

»Ich bin dreizehn, werde in einer Woche vierzehn«, flüstert Monika, die vor Angst zittert.

Wenige Kilometer hinter Elsterwerda biegt der Täter plötzlich in einen Waldweg ein, an dessen Ende ein Bienenwagen steht. An einer Stelle, die von hohem Farn kaum einzusehen ist, hält der Fahrer an, steigt aus dem Auto und umgehend wieder ein zu dem auf der Rückbank liegenden Kind. »Los, schieb den Pully hoch«, fordert der Entführer. Er manipuliert mit den Händen an der Brust des Mädchens. Es genügt ihm nicht, der Mann will mehr. »Zieh dich unten rum aus«, ist der nächste Befehl. Es bleibt nicht nur bei der Manipulation mit den Fingern. Der Täter vergewaltigt das Mädchen. Vor Schmerzen weint es. »Hör bitte auf, du tust mir weh«, fleht das Kind. Gnade kennt der Vergewaltiger nicht. »Hier gibt’s nichts mit aufhören«, höhnt er. Sein skrupelloses Verhalten kennt keine Grenzen. »Hat deine Freundin mehr Haare als du?« Auf das geflüsterte »Ja« kommt die zynische Erwiderung: »Dann hätte ich lieber die nehmen sollen.«

Nachdem der Mann seinen Orgasmus hatte, darf Monika aussteigen. Doch das Martyrium hat damit noch längst kein Ende. »Zieh dich an«, befiehlt er. Dann drängt der Vergewaltiger Monika wieder auf den Rücksitz und fährt mit dem verzweifelten Kind weiter. Bei Ortrand erreicht er die Autobahn nach Dresden. Am Kilometerhinweis »126,5« lenkt der Unbekannte das Auto auf den Randstreifen, schaltet die Warnblinkanlage des Mercedes ein und schleppt sein Opfer in den angrenzenden Wald. Dort muss sich das entführte Mädchen wieder entblößen und erneut eine sexuelle Tortur über sich ergehen lassen. Gönnerhaft kommandiert er nach der zweiten Vergewaltigung: »Bleib hier stehen und warte, ich hole Wasser. Dann kannst du dich saubermachen.« Der Täter hat nichts davon im Sinn. Er verschwindet und überlässt das geschundene und ausgesetzte Mädchen sich selbst. Per Anhalter gelangt Monika in die Nähe eines Pflegeheims. Von dort wird die Polizei benachrichtigt.

Es gehört bei derartigen Verbrechen, wie das an der noch immer kindlichen Monika, zur kriminalistischen Routine, in Karteien von verurteilten Sexualstraftätern zu fahnden. Das Opfer hat dafür mit seinen Aussagen wertvolle Hinweise geliefert. Monika kann eine ziemlich genaue Täterbeschreibung geben, einschließlich der Tätowierung eines Frauenkopfs mit langen Haaren am linken Unterarm.

Es sind Aussagen des Mädchens, die die Ermittlungen wesentlich beschleunigen. Gut zwei Wochen nach der Tat werden Monika fünf Lichtbilder vorgelegt. Sie stammen von Männern etwa im Alter von Mitte dreißig, die alle Oberlippenbart tragen und bis auf eine Ausnahme dunkelhaarig sind. »Auf Anhieb und ohne zu zögern«, wie ein Kriminalist als Zeuge vor Gericht sagen wird, habe das Opfer seinen Peiniger erkannt.

Gerd-Frank Hüter, der sechsunddreißig Jahre alte Mann mit dunklen Haaren und einem Oberlippenbart auf dem von Monika erkannten Foto, ist für Polizei und Justiz kein Unbekannter. 1954 in Eggersdorf in der Nähe von Berlin geboren, gerät er schon früh in Schwierigkeiten. Die Familie ist groß, Gerd-Frank hat noch vier Geschwister. Die Eltern haben eine kleine Landwirtschaft und wenig Zeit. Der Junge nutzt das aus. Nach acht Schuljahren erreicht er nur das Ziel der siebten Klasse. Die Lehrer vermissen den Schulschwänzer immer öfter im Unterricht. Er wird in einen Jugendwerkhof, einer Einrichtung in der DDR für schwererziehbare Jugendliche, eingewiesen, aus der er wiederholt ausbüxt. 1971 wird er erstmals wegen Diebstahls gerichtlich zur Verantwortung gezogen und in ein Jugendhaus eingewiesen. Es folgen insgesamt sieben weitere Strafen. Diebstahl und unbefugtes Benutzen eines Kraftfahrzeugs, Betrug und Urkundenfälschung sind die vergleichsweise harmlosen Straftaten gegenüber den danach folgenden zwei Verbrechen:

Dezember 1984

Das Kreisgericht Luckau verurteilt Gerd-Frank Hüter wegen Vergewaltigung eines Mädchens im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.

Was war geschehen?

Im September 1984 war Gerd-Frank Hüter mit einem Moped von Finsterwalde nach Calau unterwegs. Er machte Bekanntschaft mit einer Schülerin, die sich auf dem Heimweg befand. Er nahm sie auf dem Sozius des Mopeds mit und ließ sie auch ein Stück selbst fahren. In einem Wäldchen machten sie Pause. Man quatschte über dies und das, auch über sexuelle Themen. Der junge Mann rückte an das Mädchen heran, berührte dessen Oberschenkel, streichelte es und legte den Arm um dessen Hüfte. Als die Schülerin forderte, das zu unterlassen, bedrohte er sie. »Du kommst nicht eher weg, bevor ich nicht alles gesehen und erreicht habe.« Und weiter: »Wenn du nicht ruhig bist, bleibst du für immer hier liegen.« Als das Mädchen flüchten wollte, stellte er ihr ein Bein, so dass es stürzte. Aus Angst leistete das Opfer keinen Widerstand mehr. Es musste die Brust und den Unterkörper entkleiden. Der Täter erzwang den Geschlechtsverkehr, fuhr nach seiner Befriedigung mit dem Moped weg und ließ die Schülerin allein zurück.

Januar 1989

Das Kreisgericht Bad Liebenwerda verurteilt Gerd-Frank Hüter wegen Vergewaltigung im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten.

Was war geschehen?

Im Mai 1988 bot Hüter einer Tramperin an, sie mit seinem Auto zu ihrem Ziel nach Maasdorf bei Finsterwalde zu fahren. Dort angekommen, weigerte er sich trotz mehrfacher dringlicher Aufforderung, die Beifahrerin aussteigen zu lassen. Er bog mit ihr stattdessen in einen Feldweg ein. Die Frau versuchte unterwegs, die Beifahrertür zu öffnen. Um das zu verhindern, drückte er ihr mit aller Kraft seinen Unterarm gegen den Hals. Beeindruckt von verbaler und körperlicher Gewalt, leistete die Frau aus Angst um ihr Leben keinen Widerstand mehr gegen den vom Täter geforderten Vollzug des Geschlechtsverkehrs, den er auf dem Beifahrersitz erzwang. Die Frau konnte fliehen, merkte sich aber das Autokennzeichen.

Überraschend muss Hüter diese Strafe aufgrund eines Gnadenerlasses der DDR-Staatsführung nur zu einem geringen Teil verbüßen. Nach seiner Entlassung auf Bewährung im März 1990 folgt er seiner neuen Lebensgefährtin, die nach Lüneburg in Niedersachsen gezogen war. Seine 1984 geschlossene Ehe war wegen der Sexualstraftaten in die Brüche gegangen. Als dem Paar die Wohnung in Lüneburg gekündigt wird, kehren beide in den Osten, nach Dresden, zurück. Das Zusammensein mit seiner Lebenspartnerin ist für ihn nur von kurzer Dauer. Auf ihm lastet der dringende Verdacht, dass er, kaum aus dem Gefängnis entlassen, erneut ein schweres Sexualverbrechen begangen hat. Am 18. September 1990 wird Gerd-Frank Hüter aufgrund des Haftbefehls des Kreisgerichts Finsterwalde deshalb in Dresden verhaftet.

Ende August, Anfang September 1991

Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Cottbus verhandelt über das Verbrechen, begangen an der dreizehnjährigen Monika, die Hüter laut Anklage der Staatsanwaltschaft Cottbus auf einem Feldweg im Kreis Finsterwalde aufgelauert, entführt, vergewaltigt und ausgesetzt haben soll. Gestanden hat er die Tat im Ermittlungsverfahren nie. Und er wird das auch in der gerichtlichen Hauptverhandlung nicht tun. Er schweigt eisern. Hüter will am Tattag in Lüneburg gewesen sein. Am Vortag habe er sich gegen 14.30 Uhr mit seiner Stieftochter in Guben getroffen. Dann sei er gegen 17.30 Uhr nach Niedersachsen gefahren, hatte er bei den Vernehmungen durch die Polizei seine Unschuld begründet.

Tatsache ist, dass sich der Besitzer eines weißen Mercedes, wie ihn auch Gerd-Frank Hüter zu der Zeit besaß, am Vortag ohne ersichtlichen Grund am Sechsrutenweg aufgehalten hat. Eine Zeugin sagt vor Gericht aus, dass der Mann am linken Arm eine Tätowierung hatte. Allerdings berichtet sie auch von einem Wiesbadener Kennzeichen am Auto. Eine Verbindung von Hüter nach Wiesbaden ist allerdings nicht ermittelt worden. Zudem blieb das Nummernschild des späteren Tatfahrzeugs, einem weißen Mercedes, unbekannt.

Eine zweifelsfreie Entlastung für den Angeklagten sehen die Richter darin nicht. »Ein vorausdenkender Täter, um den es sich ja dann handeln müsste, würde allen Grund gehabt haben, sich mit einem gefälschten Autokennzeichen zu versehen«, so das Gericht. Zugunsten des Angeklagten gehen die Richter nach Ende der Beweisaufnahme dennoch nachdrücklich davon aus, dass Hüter nicht der Mann mit dem Mercedes vom Vortag war.

Schwer wiegen dagegen die Aussagen des vergewaltigten Mädchens und die anderer Zeugen. Das Opfer habe schon im Ermittlungsverfahren auf die Tätowierung am linken Arm seines Peinigers, einem Frauen-

kopf mit langen Haaren, hingewiesen, heißt es dazu in der Urteilsbegründung. Während Tattoos heute zum »Modeschmuck« auf nackter Haut von Frauen und Männern gehören, waren solche Tätowierungen früher »Markenzeichen« vor allem für ehemalige Gefängnisinsassen, die viel Zeit und Muße zum Stechen derartiger Bildchen hatten. Der Angeklagte gehört ohne Zweifel zu diesem Kreis. Im Gerichtssaal schaut sich das Mädchen ‒ wie schon zuvor auf den Fotos bei der Polizei ‒ die Tätowierung auf dem Arm des Angeklagten in natura lange und sorgfältig an und identifiziert sie als übereinstimmend mit der ihres Peinigers.

Überraschend präsentiert der Verteidiger Hüters am zweiten Verhandlungstag im September 1991 ein an ihn gerichtetes Schreiben seines Mandanten, das dieser am 27. September 1990, also kurz nach seiner Verhaftung, verfasst hatte. Demnach habe er, Hüter, am Vormittag des Tattags, am 28. Juni 1990, bei einer Firma in Lüneburg Waren im Wert von 245,- DM gekauft. Ein auf diese Summe ausgestellter Bon trägt in der Tat das Datum vom 28. Juni 1990. Eine Uhrzeit ist auf dem Kassenbeleg allerdings nicht vermerkt. Zudem sei sich ein Zeuge nicht sicher, ob er Hüter am 28., 29. oder gar erst am 30. Juni in Lüneburg getroffen habe. Wenn der Angeklagte sofort nach der Tat nach Lüneburg gefahren ist, hätte er genügend Zeit gehabt, den Einkauf noch vor Ladenschluss abzuwickeln, so das Gericht. Von der Autobahnauffahrt Ortrand kann man über die A13 und die A24 in viereinhalb Stunden in Lüneburg sein.

Montag, 9. September 1991

Das Bezirksgericht Cottbus verurteilt Gerd-Frank Hüter wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren. In der Urteilsbegründung des Gerichts heißt es: »Die Art, wie er das arglose Mädchen, zu dem er ohne Beziehung ist, überrumpelt und es auf dem Schulweg in seine Gewalt bringt, um es seinem sexuellen Appetit, solange er anhält, zu unterwerfen, danach es mitten im Wald seinem Schicksal zu überlassen, zeugt von einer Niedertracht, die auch in Vergewaltigungsfällen nicht gewöhnlich ist.« Das Mädchen, das erst dreizehn Jahre alt war, habe bei seiner Vernehmung »einen sehr geängstigten, sehr verstörten Eindruck« gemacht. Der Senat sehe darin »augenfällig die Nachwirkungen der Tat, die das bis dahin sexuell unberührte, behütet aufgewachsene Mädchen zutiefst verletzt hat«.

Das Strafgesetzbuch der DDR, das in diesem Verfahren noch Anwendung fand, drohte für eine Tat an einem Mädchen unter sechzehn Jahren eine Freiheitsstrafe von zwei bis zehn Jahren an. Welche Milderungsgründe das Gericht erkannte, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.

Das Feuerdrama von Cottbus

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