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ОглавлениеAm Nachmittag dieses Ostermontags, 6. April 2015, bleibt die Zeit stehen. Die tote Tante im Kopf, fühle ich stärker die unruhige, aber ziellose Trägheit, die mich oft gegen das Ende von Feiertagen befällt. Eine Zwischenzeit, die nirgendwo hingehört, leere Stunden. Ich streiche durchs Haus, gehe in den Garten, setze mich kurz zu meiner Frau unter einen Apfelbaum, dessen Knospen kleine, rot gerandete Spitzen in die Sonne halten, schaue meinen Kindern zu, wie sie mit ihren mehr als zehn Jahren die Kraft des erwachenden Frühlings durch den Garten und auf die Bäume treibt, und wundere mich übers Leben. Mit einem Seufzer erhebe ich mich wieder und gehe ins Haus und an meinen Arbeitsplatz. Dort schalte ich den Computer ein, stelle die Verbindung her und rufe das Email-Programm auf. Zwei Tage habe ich die Maschine nicht angerührt. Samstags bleibt sie immer abgestellt, der Ostersonntag kam diesmal noch hinzu.
Wie üblich läuft eine längere Liste von Nachrichten über den Bildschirm, ich überfliege sie rasch und suche unter den neuesten nach der Sendung meines Cousins mit der Parte. Sie ist tatsächlich schon eingetroffen. Nachdem ich den Anhang geöffnet habe, lese ich langsam die Texte mit den üblichen Formeln, die Namen der genannten Verwandten und kehre an den Kopf der Seite zurück. Rechts oben lese ich eine Paraphrase von Kohelet:
„Alles im Leben hat seine Zeit:
Zeit zu lachen.
Zeit zu weinen.
Zeit zu lieben.
Zeit zu trauern.
Zeit zum Abschied nehmen.“
Die einfache menschliche Weisheit dieses Schreibers berührt mich. An ihr zerfallen alle aufgeblasenen Ankündigungen und Worte, mit denen man christliche Sterbezeremonien angefüllt hat. Wer will schon hinausblicken über die Zeit?
Links das Bild der Tante. Karl hat geschrieben, wie ich jetzt lese, dass dieses Bild nach Weihnachten aufgenommen wurde. Mich schauen zwei ungleiche Augen an, das rechte scheint etwas in den rechten Augenwinkel verrutscht zu sein, das linke sitzt tiefer in der Augenhöhle und blickt direkter auf mich. Die Haare sind nach hinten gelegt und gebunden, so habe ich die Tante von Kindesbeinen an gekannt. Etwas fahl die Haut des mager gewordenen Gesichts, rechts ein großes, flaches Ohr, das mich jetzt daran erinnert, dass sie immer gut gehört und auch leise Töne vernommen hat, wie sie selbst ein leiser Mensch war. Viel hat sie geweint in ihrem Leben, schreien gehört habe ich sie nie. Von ihren sieben Kindern hat sie drei überlebt. Ihrem Mann ist sie mit gottergebener Selbstverständlichkeit treu geblieben, auch wenn ihr Schwiegervater hinter ihr her war – erfolglos, und so wich er in die Nachbarschaft aus. Die Tante ging in ihr Leben ein und aus ihrem Leben hinaus und blieb geborgen in einer einfachen Religiosität, obwohl ihr manche Jahre schwer zugesetzt und sie mit ihren Erinnerungen abgeplagt haben, die sie nie hatte abschütteln können. Rebellion hat sie nicht gekannt, gegen nichts und niemanden. Wenn es in der Nachbarschaft zu Streit gekommen war und sie davon erzählt hat, endeten die meisten Erzählungen mit dem einen Satz: „Das hat doch überhaupt keinen Sinn.“ Ich habe sie gerngehabt, denn sie gehörte zu den wenigen, vor denen sich niemand fürchten konnte.
Schließlich drucke ich die Parte aus und stelle das Blatt Papier auf das Pult meiner Zimmerorgel, die hinter mir im Rücken ist, wenn ich an meinem Arbeitstisch sitze. So werde ich die Tante täglich mehrmals sehen und Zeit haben, sie gehen zu lassen. Das Begräbnis ist für kommenden Freitag angesetzt, zwei Uhr nachmittags. Noch einen zweiten Ausdruck mache ich und bringe ihn zu meiner Frau hinaus, die einen Roman liest und nun unterbricht. „Sie war wirklich ein Mensch“, sagt sie und legt die Parte auf das Tischchen neben sich, auf dem auch eine Schale Kaffee steht.
Ich gehe wieder ins Arbeitszimmer und schaue die Emailliste von unten nach oben durch. Viel Werbung, die ich lösche, ein paar berufsbezogene Anfragen, die ich bearbeite. Nach und nach trage ich die Liste ab und komme dann an einen Absendernamen, der mich aufschreckt: Louis Pigasse bpcfl@aon.at Betreff: Guten Tag, Wolfgang.
Ich rühre diese Leiste mit dem Mauspfeil nicht an. Ich denke nach: Vor genau vierzig Jahren und vier Monaten haben sich unsere Wege getrennt, ich war 14 Jahre alt. Danach, etwa zehn Jahre später, sahen wir einander noch zwei Mal in der Mariahilfer Straße in Wien, in getrennte Richtung gehend. Wir passierten einander, unsere Augen trafen sich, seine fragten: „Bist du es?“ und meine sagten ihm eindringlich: „Du bist es, ich erkenne dich unter Tausenden.“
Vor mich hinstarrend, übergehe ich schließlich diese Nachricht, die erst drei Stunden in meinem Posteingang ist, und öffne die beide jüngsten, eine Nachricht von einem Urlaubsanbieter, der mich daran erinnert, dass in drei Monaten Sommer sein wird und daher die besten Plätze nun rasch gebucht sein werden, und eine Nachricht, die mit schlechtem Deutsch mir etwas von der Kontosperre und Neueinrichtung geschrieben hat – ein klassisches Fake-Mail, das ich sofort lösche. Und nun fällt der Mauszeiger auf die verbliebene Zeile von Louis Pigasse. Und ich drücke einmal darauf, dann drücke ich zwei Mal darauf und öffne den Text in seiner vollen Ansicht, die ich auch gleich für eine Antwort nutzen könnte. Und lese.
Am 06.04.2015 um 12:58 schrieb Louis Pigasse:
du kannst dich vielleicht noch an mich erinnern… aus deiner Seitenstettner Zeit…
Louis Pigasse…
Ich habe deinen Namen heute bei einer Sendung von ORF, vor einiger Zeit aufgenommen, über 3 Könige glaube ich… und habe gedacht, du könntest es sein… Mit Google habe ich festgestellt, dass du es bist… Aus deinem Lebenslauf… Übrigens ist ein Fehler bei den Jahresangaben… 2103 statt 2013…
Du bist bestimmt sehr beschäftigt, aber wenn du einmal zeit hättest, würde ich mit dir gern wieder einmal plaudern… obwohl ich mit der Kirche gar nichts mehr zu tun habe…
Ich bin fast täglich in Wien, allerdings ganz früh, nur am Freitag komme ich später…
Wohnhaft bin ich in Baumgarten in der Nähe von Tulln.
In Seitenstetten bin ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Michael war noch Prior und Berthold Abt…
Alles Gute und viel Erfolg weiter…
Ich weiß nicht mehr, ob du mit Französisch zu tun hattest… Aber der Herr kardinal ist ein großer Freund von der Sprache… ist doch Dr der Sorbonne… ich bin vor bald zwei Jahren mit ihm zufällig zusammengekommen, und er hat mir bestätigt, dass es viele Wohnungen im Haus des Vaters gibt… also, dass alle mit gutem Willen gerettet werden… ob du auch so denkst? Soweit ich mich an dich erinnern kann, warst du eher „streng“
Louis
Ich weiß nicht, was ich tun soll, bin wie gelähmt, sitze da und starre auf diese Zeilen, lese sie ein zweites Mal, versuche es ein drittes Mal und verstehe nichts. Fühlt sich so ein Schlaganfall an? Du sitzt oder liegst, gebannt in einen einzigen Augenblick, der nicht mehr vergeht, der dich festhält, fesselt, die Seile enger schnürt, bis der Druck dir das Bewusstsein zerstört und du ins Nichts fällst. Mir wird schlecht.
Wohnungen im Himmel.
Streng.
Plaudern.
Zeit haben.
Ausforschen.
Adressen.
Und ein Fehler, ja, ein Fehler.
Verschränkt lege ich meine Arme auf den Arbeitstisch, schließe die Augen und vergrabe in der linken Beuge meinen Kopf. Mir ist heiß, schwer geht der Atem, und ich kann nicht weinen. Du warst eher streng.
Ich habe Glück. Ich sehe nichts, kein Gesicht, kein Licht. Nur stockfinstere Nacht in meinen Augen.
Sind es zwei Minuten oder eine Ewigkeit? Ich höre die Terrassentür, wie sie aufgedrückt wird und Kinderstimmen ins Haus fallen, aber ich höre nicht, was sie sagen. Ich zwinge mich, meinen Kopf zu heben und mich wieder gerade in den Sessel zu setzen. Es gelingt nicht ganz, etwas schief lehne ich darin, mit dem linken Ellbogen am Sesselgriff abgestützt, aber immerhin gut genug, um beschäftigten Kindern nicht aufzufallen. Doch sie verschwinden wieder, ohne zu mir gekommen zu sein.
Langsam kocht es in mir. Ich fasse diese Zeilen nicht, ihren Ton, ihren Aufbau. Die vielen Auslassungspunkte erinnern mich an ihn und an sein Reden, den starken französischen Akzent und die Pausen, die er ließ und gerne noch dehnte.
Nachdem ich diese Nachricht ausgedruckt habe, gehe ich hinaus und setze mich zu meiner Frau unter den Baum.
„Ich muss dich noch einmal stören.“
„Ja?“
„Ich habe ein Email bekommen, wie ich es noch nie bekommen habe. Kann ich es dir vorlesen?“
Nachdem ich gelesen habe mit einer schwer zu haltenden Erregung – ich verschlucke mich beinahe einmal und habe jetzt überhaupt mit Speichelfluss zu tun –, sagt sie:
„Ein alter Mann? Er will etwas von dir, ein Treffen.“
„Ja, ein alter Mann, aber so alt auch wieder nicht, um die 70 Jahre.“
„Hört sich aber älter an. Er hat etwas offen mit dir.“
Ich lächle grimmig. „Sicher, er hat etwas offen mit mir – und ich mit ihm nichts? Hab ich dir davon noch nie erzählt?“
„Von diesem Pigasse? Nein, den Namen kenne ich nicht.“
„Das größte Schwein, das mir je begegnet ist. Und ich habe ihm nicht ausweichen können, nie. Zweieinhalb Jahre lang, zweieinhalb lange Jahre. Endlose Jahre. Er hat mich damals verfolgt, im Internat, und jetzt fängt er seine nächste Runde an. Täglich in Wien. Er hat ja herausgefunden, dass ich in Wien arbeite. Also – ein Leichtes für ihn. Ich habe geglaubt, der Mann ist weg. Vierzig Jahre Ruhe, und dann schreibt dieses Schwein, als wäre nichts gewesen, als könnten wir fortsetzen wie damals, wie ein Vater und sein Sohn, wie er immer gesagt hat. Ist er komplett hin, geistig und menschlich kaputt?!“ Meine Stimme spannt sich immer mehr, ihr Ton ist mit jedem Satz gestiegen und bleibt nun hängen am letzten Wort.
„Er will vielleicht eine Versöhnung, das wird es wohl sein, die Wohnungen, von denen er schreibt, der Kardinal, der ihn irgendwie getröstet haben dürfte.“
„Der Kardinal weiß doch nichts. Man kann viel reden, wenn man sich mit Leuten trifft, die man nicht kennt, da muss man freundlich bleiben, das gehört zum guten Ton.“
Ich nehme den Ausdruck vom Tisch. „Schau, was hier steht, was er schreibt: ‚also, dass alle mit gutem Willen gerettet werden… ob du auch so denkst? Soweit ich mich an dich erinnern kann, warst du eher »streng« ‘. Ist der total verrückt? Alle Unterdrücker belasten ihre Unterdrückten und schlagen sie pseudomoralisch nieder. Mit irgendwelchen Aussagen, die sie für Argumente halten, die in Wahrheit aber Drohungen sind. Hier genauso. Wer steht ihm im Weg zu seinem Himmel? Ich! Der strenge Mann. Das ist in seiner kaputten Erinnerung verblieben, ich, der strenge Bursch, abweisend, kalt. Ein Savonarola unter den Internatsbuben. Ihm muss etwas in seinem Hirn abgebrannt sein, ein Fehlschluss, ein Kurzer. Wenn ich er wäre, nie im Leben würde ich daran nochmals rühren, oder ich würde es anders aufsetzen und meinen. Wenn er wirklich Versöhnung will, dann hätte er diesen Text nicht geschrieben. Dann hätte er keine Drohungen hingeschrieben. Du hörst sie vielleicht nicht heraus, aber ich höre sie, ich kenne sie, und ich weiß, was er will. Eine dreckige Zugabe, die ihn gerecht macht vor sich. Dass alles ohnedies in Ordnung war und in genau dieser Form abgeschlossen werden kann – das will er. Was ich bin und will, ist ihm völlig egal. Siehst du, diesen totalitären Geist sehe ich hier. Er spricht aus jedem Satz, und er spricht vor allem aus allen Auslassungszeichen. Sie gehören ganz zu ihm, sie spannen dich auf die Folter, du winselst, noch ehe er über dich kommt, und du weißt, dass du verloren hast, auf allen Linien verloren hast. So war das und so ist das.“
„Sehr schwer, sehr schwer“, sagt meine Frau in einer Güte, die ich an ihr schätze und liebe, die ich aber jetzt nicht verstehe. Vielleicht hätte die alte Tante, die heute in den Morgen hinein gestorben ist, genau das gesagt: „Das ist sehr schwer. Aber es hat doch überhaupt keinen Sinn, sich da so viel zu grimmen.“
„Ich werde Friedrich anrufen. Er hat damals auch zu dem Kreis der auserlesenen Buben gehört.“
Das Telefon läutet nicht lange, Friedrich hebt ab. Ich erzähle ihm von diesem Email und seinem Inhalt. Friedrichs Kommentare beflügeln mich. Schließlich sagt er: „Ich habe ganz unabhängig davon schon einmal nachgesucht, wo er wohnt. Ich habe seine Adresse. Ich meine, es wäre doch etwas, wenn wir beide einmal in der Nacht hinfahren zu ihm, anläuten, und wenn er herauskommt, ihm eine Decke über den Kopf werfen und niederschlagen. Verdient hat er es.“
„Das können wir nicht machen, das geht nicht“, sage ich ihm, „aber das weißt du ja auch selbst. Obwohl – wer würde uns schon auf die Spur kommen? Wir sind in angesehenen Berufen, außer ein paar Parkdelikten kennt uns die Polizei nicht, und ein Motiv – wer will das schon auf uns beziehen? Aber wenn schon, Friedrich, wäre ich dafür, dass wir die Decke weglassen. Er soll sehen, wer gekommen ist und warum. Er soll uns spüren und wissen, dass wir es sind. Das wäre doch etwas.“
Wir spinnen dieses Gedankenspiel noch ein wenig weiter, lassen es jedoch nach einiger Zeit los und fühlen uns beide erleichtert.
„Wir fahren nicht nach Baumgarten“, sage ich, „wir bleiben hier und setzen uns lieber bei einem Heurigen zusammen, das erleichtert auch. Aber ich werde ihm eine Antwort schreiben, und ich werde sie dir ebenfalls schicken. Auch dem Abt, von dem er geschrieben hat, auch ihm werde ich meine Antwort schicken. Sie wird nicht christlich sein, aber menschlich.“
„Mach das, Wolfgang.“
Wenn du es eilig hast, mach einen Umweg.
Irgendwann habe ich dieses asiatische Sprichwort aufgefangen, und so setze ich mich jetzt nicht an den Arbeitstisch und schreibe, sondern sage meiner Frau, dass ich mit Rad in den Wald fahren werde, mich abzukühlen, den Wind zu spüren und allein zu sein.