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ОглавлениеAls ich mein Arbeitszimmer verlasse, ist draußen alles finster. Irgendwie habe ich die Zeit übersehen. Aus den Kindestagen habe ich mitgenommen, mich möglichst still zu bewegen, um niemanden zu stören. Das kann ich immer noch. Und so gehe hinauf ins Badezimmer, öffne und schließe unhörbar die Tür, stelle meine Zahnbürste an ihren Platz, gehe noch einmal auf die Toilette, öffne wieder die Tür, die diesmal offenbleibt, und trete leise ins Schlafzimmer der Kinder, um mit einem kurzen Blick mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Dann gehe ich ebenso leise ins Schlafzimmer, taste mich zum Bett, lege das Gewand daneben auf den Boden, drehe mich leise ins Bett hinein und angle mir vom Fußende das dünne Leintuch, mit dem ich mich zudecke. Mit den Füßen klemme ich es am Bettende noch einmal fest, ziehe es mit den Händen so weit als möglich zu mir heran, so dass es sich spannt, hebe es dann ein wenig hoch, um es langsam wie ein Segeltuch auf mich herabschweben zu lassen, und verliere mich kurz in diesem milden, sanften Gefühl.
Unter dem Leintuch falte ich meine Hände wie zum Gebet, bete aber nicht, sondern fühle, wie ganz langsam die Spannung abnimmt. Ich denke jetzt nicht an Gott, auch nicht an Pigasse, sondern warte auf die Müdigkeit und ihre Überwältigung. Noch höre ich das Schlagen der Zimmeruhr, ich zähle ihre Schläge. Elf Uhr. Und dann denke ich noch daran, dass damals, als ich im Internat war, in den ersten beiden Jahren die Lichter um dreiviertel neun ausgingen, später um halb zehn. Und ich sehe den Präfekten hereinkommen, mit seinem schwarzen Habit wie ein Bote der Nacht. Er blickte in die Runde, überflog sechsundzwanzig Köpfe in sechsundzwanzig Betten und setzte dem Tag ein Ende mit einem deutlichen „Gute Nacht!“, das wir wie aus einem Mund wiederholten. In den Anfängen kam es selten vor, dass wir uns danach noch irgendetwas ausdachten und aus den Betten stiegen, um in diesem riesigen Schlafsaal etwas zu unternehmen oder anzustellen. Leise blieb es dabei fast immer, wir wollten nicht, dass uns jemand hörte. Meist aber schliefen wir rasch ein, niedergestreckt von einem Tag, der uns fünfzehn Stunden fester Ordnung und Anforderungen abverlangte.
Noch im ersten Herbst meiner Internatstage überraschte uns an einem Abend der Erzieher. Als er sich an die Breitseite des Studiersaales stellte, von wo aus immer wichtige Ankündigungen erfolgten, war er nicht allein. Neben ihm stand eine schöne Gestalt, die überhaupt nicht hierher passte und fast einen Kopf größer war als der Präfekt unserer Gruppe. Wie eine Göttin aus einer fernen Welt.
„Ich muss euch etwas sagen. Ihr wisst ja, dass ich jetzt meine Erzieherausbildung mache. Dadurch kann ich nicht jeden Tag hier sein. Es wird ab sofort an einem Tag der Woche ein Hilfserzieher da sein, wenn ich meinen freien Tag habe. Und damit das auch für die nächste Zeit gut funktioniert, haben wir Hilfe bekommen von Baden, dort mache ich ja meine Ausbildung, an der dortigen Akademie. Drei Wochen lang wird Beate mithelfen, sie macht die gleiche Ausbildung wie ich. Das heißt, sie wird nicht immer da sein, aber doch öfter und am Dienstag den ganzen Tag. Wenn ihr da etwas braucht, dann ist sie dafür zuständig. Habt ihr Fragen dazu?“
Niemand fragte etwas. Den meisten ging es offenbar wie mir. Hingerissen von einer weiblichen Erscheinung in der gewaltigen, von meterdicken Mauern umgebenen Männer- und Bubenfestung, fiel uns nichts ein. Eine Frau, hier.
„Dann möchte ich dich bitten, dich vorzustellen“, wandte sich der Erzieher an Beate.
Was diese sagte, hörte ich zwar, aber ich verlor es sofort. Der Kontrast war es, der meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick an die letzte Klasse der Volksschule, als eine Unterrichtspraktikantin in unsere Klasse gekommen war und einige Tage unterrichtet hatte. Sie hatte einen auffälligen Minirock getragen, dunkelblau, war geschminkt gewesen, ein herrlicher Duft hatte sie umgeben und schönes glattes Haar ihr Gesicht eingefasst. Mir hatte sie gefallen. Doch was für ein Unterschied tat sich jetzt auf, ein Jahr später. Die Unterrichtspraktikantin hatte mir gefallen; Beate aber zog mich an. Ich hing meine Augen an sie und fragte nicht, ob das zu auffällig wäre. Sie stand vor mehr als fünfundvierzig Buben, die sich von ihren Schreibtischen aus ihr zugewandt hatten, und konnte unmöglich meine Augen aus dieser Schar herauslösen. Ich sah sie an mit einem Begehr, das schon ein wenig hinüberstieg über die Sprossen der puren Schönheit in eine unbekannte Welt, ein weites, noch dunkles Land, das verlockte, ohne etwas gesagt zu haben, und Ahnungen beflügelte, die nirgends noch landen konnten.
Wenige Minuten später versank ich wieder im Studieralltag. Beate hatte mit dem Erzieher den Studiersaal verlassen. Nach kurzer Zeit, als da und dort Flüstern zu hören war, kam der Erzieher allein aus dem Nebenzimmer des Saals, blickte scharf über uns hinweg, und sofort wurde alles stumm. Nur dann und wann ein Seufzer, Zettelgeräusche, Räuspern.
Beates Praktikum dauerte einen Monat. Nicht erst an dem Tag, als sie uns im November wieder verließ, wurde mir ein wenig leid um sie. Ich vermisste den Kontrast schon, als ich ihn noch vor mir hatte, eine Frau in der Buben- und Männerwelt, die Männerwelt durchwegs schwarz gekleidet; diese Männer steckten in Frauengewändern, die ihnen etwas Seltsames, ja Verrücktes gaben. Bodenlange Röcke, um die Bäuche Gürtel, darüber ein hinten und vorn abfallendes Tuch, gehalten durch den Halsausschnitt, den ein weißer Kragen mit talgigen Farben abschloss. Zwei Nadeln zeigten ihre Köpfe an der vorderen kleinen Kragenöffnung. Diesen Anblick war ich zwar gewohnt geworden, aber Beate riss mich aus dieser dumpfen Wahrnehmung heraus, die mich jetzt befremdete.
Noch etwas dankte ihr. In ihren Methoden unterschied sie sich vom Erzieher. Ihren tiefen, großen Augen glaubte ich, sie deuteten mir, was möglich und erlaubt war und was die Grenzen überstieg. In den kleinen, fleischigen Augen des Erziehers, versteckt hinter einer dicken Hornbrille, fand ich keine Botschaften, auf dem Gesicht lag eine Art von Hässlichkeit, die ich später häufig bei Priestern wiederfand. Waren sie Priester geworden, weil sie hässlich waren? Oder machten sie sich hässlich, weil sie nun einmal Priester geworden sind? Bei ihm walteten Füße und Hände. Manchmal kam er ganz nahe an mich heran, trat mir mit seinen Schuhen auf die offenen Zehen, belastete diese mit seinem beträchtlichen Gewicht und fragte irgendetwas in mein Gesicht hinein, das ich kaum hören konnte, während mir die Häme des Blicks stecken blieb. Oder er stellte sich an meine Seite, fragte, was ich da wieder getan hätte; irgendeine Banalität zwischen Buben war das meist. Dann riss er eine kleine Ledertasche, in der seine Schlüssel steckten und die er irgendwie in seiner Hand hielt, mit derartiger Schärfe über den Hinterkopf, dass im aufheulenden Schmerz mir schien, als hätte er eine ganze Haarschneise gelegt, die irgendwo über mir auseinanderfiel. Und ich krümmte mich und hielt mir die Stelle fest mit den Händen zu, während der ein wenig nachlassende Schmerz mir langsam Tränen in die Augen trieb. Dann war ich entlassen und setzte mich auf meinen Platz. Später erfuhr ich, dass dieser Erzieher von Existenzängsten gejagt war und sich vor seinem eigenen Körper wie vor einem Todfeind gefürchtet hatte, und sah ihm einiges nach.
So ging das erste Jahr hin, wie es begonnen hatte. Man wurde rasch an den rauen Ton gewöhnt wie ein Hund, den man abrichtete. Und da wir die Jüngsten waren, warteten auf uns auch die Hände derer, die ein Jahr älter als wir waren und mit denen wir die gemeinsamen Räume zu teilen hatten.
Schon an meinem ersten Tag widerfuhr mir eine Begegnung, die sich wie ein Auftakt zu acht Jahren eingebrannt hatte. Es war Mittwochnachmittag, später Nachmittag. Der erste Tag im Internat. Ich saß auf meinem frisch gemachten Bett und sah mich um, neugierig, auch ein wenig verschreckt, denn ich kannte niemanden. Das Bett hatten meine Eltern noch gemacht. Links neben mir ein Bauernbub mit Namen Karl, hoch gewachsen mit mädchenhaftem Gesicht. Die Nachbarschaft bestimmte das Alphabet unserer Namen. Wir fragten einander nach Herkunft, Familie, Geschwistern und ein paar Dingen, die uns nahe waren und die wir seit heute zurückgelassen hatten. Rasch hatten sich die ersten Wurzeln einer Freundschaft zwischen Karl und mir ausgestreckt. Zur Rechten war das Bett leer, es gehörte einem Schüler der zweiten Klasse.
Während wir ein wenig mitsammen redeten, gingen nach und nach ein paar Schüler der zweiten Klasse durch den Schlafsaal und schauten sich um. Einer von ihnen blieb am Fußende meines Bettes stehen. Schwarzes Haar, mausähnliches Gesicht, gut gewachsen, seiner eigenen Wirkung bewusst. Solche Leute hatten mich immer verschreckt und eingeschüchtert. Auch wenn ich zu den Körpergrößten meines Jahrgangs zählte, schrumpfte ich neben solchen Burschen immer ein.
„Wie heißt du?“ fragte er mit scharfem Ton, der von vornherein auf klaren Verhältnissen bestand.
„Ich?“, fragte ich blödsinnig zurück und hoffte, Zeit zu gewinnen, ohne zu wissen, wozu eigentlich.
„Ja, du. Sitzt da ein anderer?“
„Nein.“
„Na also. Wie heißt du?!“ Er meinte es ernst mit seiner Frage.
„Wolfgang…“
„Ich auch“, erwiderte er sofort, „das ist zu wenig.“
Was für ein Namensvetter. Mir war sofort klar, dass mit ihm keine Gemeinsamkeiten wachsen würden.
„Sattler.“
„Wie? Sattler?“, fragte er nach und beugte dabei sein linkes Ohr in meine Richtung.
„Ja, Sattler; habe ich doch gesagt.“
„Und wie noch?“
„Was – wie noch?“
„Sattler … und?! …“
„Wolfgang, hab ich auch schon gesagt.“
„Pass auf, wenn du blöd wirst, können wir anders reden“, drohte er mir unverhüllt. „Also, noch einmal: Wie heißt du?“
„Wolfgang Sattler.“
„Siehst du, geht doch, oder? Und du?“
„Karl Mayr“, gab mein Nachbar wie gefordert seinen Namen preis.
Nachdem der Zweitklässler abgezogen und außer Hörweite gekommen war, wandte ich mich zu Karl, tippte auf die Stirn und sagte: „Der spinnt doch.“
„Es ist besser, wir legen uns mit ihnen nicht an“, sagte Karl, „die sind so komisch…“
Nach kurzer Zeit stand wieder einer vor meinem Bett. Ich sah ihn an. Schon wieder dieser Wolfgang. Und wieder fragte er die gleiche Frage.
„Ich habe dir schon gesagt, wie ich heiße.“
„Du hast mir noch überhaupt nichts gesagt. Bist du blöd?“
„Oh ja, du warst eben hier, und ich habe dir meinen Namen gesagt. Er auch.“ Ich deutete auf Karl.
Da trat dieser Schüler an meine Seite, griff nach meinem Hemd, machte eine halbe Drehung mit der Faust, und ich spürte, wie mich das Gewand begann ein wenig einzuschnüren.
„Pass auf, Rotschädel, wenn du hier gesund weiterkommen willst, dann sag mir, wer du bist“, zischte er mich an.
Ich sagte ihm meinen Namen wie ein Geständnis.
Wo war ich da hingekommen?
Für Karl interessierte er sich nicht. „Ich glaube, das wird hart hier“, sagte Karl.
Tage später stellte sich heraus, dass ich mit zwei Brüdern zu tun gehabt hatte, die zwar ein Jahr unterschied, die jedoch auf den ersten verschreckten Blick einander glichen. Diese beiden hatten mich rasch in die Atmosphäre hineinversetzt, die mich künftig umgeben würde.
So lernten wir auch eine Sitte kennen, die sich womöglich seit dem Krieg erhalten hatte und an seine Stelle getreten war, wobei ich mich nicht selten darüber wunderte, dass das in dieser Form ausgeübt werden konnte. In unregelmäßigen Abständen brachen über uns, die Jüngeren, sogenannte Schlägertage herein. Ein Teil der kräftigeren älteren Internatsschüler machte sich organisiert über uns her, wohl zu Zeiten, da der Erzieher nicht zugegen war. Wie beneidete ich die schwachen Älteren, die sich daran nicht beteiligten und auch nicht verdroschen wurden, sondern in diesem Tumult an ihren Studiertischen hockten oder Tischtennis spielten und von nichts berührt schienen. Über uns aber brachen Hände, Fäuste und Füße herein, deren Absicht rasch klar war. Wir hatten nichts getan, es ging nicht um Vergeltung. Es ging einfach um den Ausbruch losgelassener Gewalt, die sich an den Jüngeren verwirklichen und fühlen wollte. In diesen Rudeln der Zweitklässler wurden auch die stark, die einen Kopf kleiner waren als ich, und wir wurden in genau gleichem Maß schwächer, niedergehalten von Furcht und in Erwartung von Schlägen, Tritten und Stößen, deren Wirkungen nicht vorwegzunehmen waren. Dazu werkten einige auch mit Linealen und Handtüchern, in die sie Knoten gebunden hatten.
Für solche Schlägertage holte man sich irgendeinen Anlass. Einmal stand ich in seinem Epizentrum. Vier oder fünf Buben fassten mich und schoben mich vor eine Kastentür im Studiersaal. Oben an der Tür waren auf dem schwarzen Klebeband drei eingeprägte Buchstaben zu lesen: L, Ö, W. Der Name eines Zweitklässlers. Ein irrwitziges Verhör begann, ich behielt nicht in Erinnerung, wer was fragte, mir war, als fragten mich alle gleichzeitig wie aus einem Mund.
„Was liest du da?“ hörte ich, von zwei Händen an den Oberarmen gehalten.
„Da oben?“
„Ja. Wo sonst?“
Da ich eine Falle vermutete, versuchte ich sie irgendwie zu umgehen und sagte: „Diese drei Buchstaben?“
„Ja! Lies!“
Ich besann mich kurz. Was soll ich machen? Was wollen sie? Schritt für Schritt. Vielleicht kommt man ja noch einmal aus ihren Händen. Ich buchstabierte: „L, Ö, W.“
„Das heißt nichts“, sagte einer und ich spürte einen Schlag auf meinem Hinterkopf, nicht besonders fest, aber unangenehm genug.
„Ich weiß, das sind Buchstaben, und diese Buchstaben stehen da.“
„Bist du wirklich so vertrottelt?“ fragte mich Franz, ein kleiner, kerniger Bub, der nur in der Gruppe stark sein konnte, und blitzte mich gefährlich an. „Lies!“
Du bist in der Falle, sagte es in mir. Ich gab mir einen inneren Stoß und sagte:
„Löf.“
Alle lachten. „Habt ihr gehört? Löf hat er gelesen. Dieses Baby kann nicht einmal lesen.“ Und dann rief einer nach Löw, dass er komme. Und Löw kam, ein fescher Bursch, braune Haut, dunkles, welliges Haar. Irgendetwas Edles hatte er in sich, das mir sagte, vor ihm brauche ich mich nicht zu fürchten. Und Franz sagte zu ihm:
„Dieser Trottel hier kann deinen Namen nicht lesen. Kannst du ihm deinen Namen sagen?“
„Ja, ich heiße Löf.“
„Siehst du, er heißt … Löf“, wiederholte Franz.
Und plötzlich schlugen Fäuste auf mich ein, Hände zischten in mein Gesicht, Knietritte, die berüchtigten sogenannten Eisenbahner, sollten mich umwerfen, und ich schrie wie um mein Leben. Doch ich konnte mich auf meinen Beinen halten und explodierte mit einem Furor, der diese Burschen auseinandertrieb. Sie liefen zum Studiersaal hinaus. Ich blieb zurück, allein mit meinen Schmerzen und zwei Zweitklässlern, die an ihren Tischen hockten. Erst jetzt bemerkte ich, dass einer von ihnen Löw war.
Die Davongelaufenen wüteten nun in den Spielzimmern und in den Gängen. Wer von uns Jüngeren rasch genug war, versteckte sich in einem Kasten oder sperrte sich in eine Toilette. Mutigere verließen unseren Bereich und liefen über eine Brücke in einen anderen Teil des Internats.
Solche Schlägertage kannten keine Fristen. Selten dauerten sie bis zur absehbaren Rückkehr des Erziehers. Man fürchtete Sanktionen. Zu Ende kamen sie, wenn die Kleinen, also wir, irgendwo kauerten und wimmerten und die Älteren Kraft und Lust verloren hatten, weiterzumachen mit ihren kleinen Gewaltfesten.
So blieben die Jahrgänge meist unter sich.
Einige von uns Anfängern verließen nach ein paar Wochen oder Monaten das Internat, wenn sie an Heimweh erkrankten oder, abgetrennt von zu Hause, nicht gut lernen konnten. Für sie reichten die vierzehntägigen Wochenenden zu Hause nicht aus. Blieben wir im Internat, wanderten wir, wenn es das Wetter zuließ, in der Gegend herum, besuchten Bergkirchen und Waldgräben, sangen oder beteten auf den Wegen irgendetwas, bereiteten fallweise die Sonntagsmessen vor und drückten an der Zeit herum, damit sie irgendwie verging. Den Sonntag unterschied das Frühstück von den anderen Tagen: Man setzte uns Honig aus der eigenen Imkerei vor, die wir gerne mit Butter verrührten. Zu Kakao gab es auch noch einen dunkelbraunen Tee, dessen Geschmack ich nie enträtseln konnte. Unvergesslich waren die zähen Semmeln, die sich zusammendrücken ließen wie Gummi und träge wieder in ihre alte Form zurückquollen. Ich konnte sie kaum schneiden, weil die Messer stumpf waren und nur eine Furche in dieses teigige Stück legten. So riss ich sie einfach auf und schmierte den Butter-Honig-Brei hinein. Zu Mittag gab es häufig Rindfleisch, das wir Lederhosen nannten, fallweise Hühner, dazu Reis, Salat. Dieses Rindfleisch war so zäh, dass wir uns Suppe aufhoben, das Fleisch in die Suppe legten und von dort aus aßen. Man ließ uns. Es gab jedoch auch andere Speisen, die sich nicht einmal mehr essen ließen. So scheiterte über ein paar Jahre hin der Zwetschkenröster an der Ästhetik, den man schließlich aus dem Speisenplan des Herbstes herausnahm. Wenn in den weißen Emailschüsseln für jeden der etwa zwanzig Tische dieses Essen auf den Servierwagen aus der Stiftsküche gefahren und dann nach und nach ausgeteilt wurde, konnte niemand sich überwinden, in etwas den Löffel zu stecken, das wie der eingedickte Rest einer Senkgrube aussah. Anfangs brüllte mancher Erzieher. So taten wir, was wir konnten, langten einmal mit dem Löffel in die Brühe, beschmierten damit die Teller und stellten sie an den Tischrand, damit man sie wieder abserviere. Sonntagessen war das jedoch nie. Wurde es Sonntagabend, so legte man häufig kalte Platten auf, dünn geschnittenes Fleisch fetter Schweinsbratenstücke, Extrawurst, Blutwurst, ein paar Käseschnitten. Wir aßen davon, meist hungrig nach den Ausgängen oder dem Sport, den wir ausgeübt hatten.
Das Jahr ging über den Winter hinweg, der uns einiges abverlangte, weil die Heizung selten gut funktionierte. Wer in der Nacht auf die Toilette musste, hatte es eilig. Denn im Jänner stieg die Eiseskälte durch die einglasigen Gangfenster und streckte die etwa dreißig Meter vom Schlafsaal zur Toilette in eine unangenehme Länge, gegen die unsere Pyjamas nicht halfen. Im Frühling trieben starke Winde dunkle Wolken über die westliche Hügelkette und warfen den Regen gegen die Fenster. Manchmal hörten wir nachmittags, wie man quickende Schweine aus dem Stall des Stiftes trieb, gebrochen durch das Echo der Häuser. Und wenn ein wenig Zeit war, hockte ich mich auf das tiefe Fensterbrett der Toilette und sah nach Osten hin, zum Horizont, hinter dem irgendwo das Elternhaus stand. Mit meinen Gedanken zog ich eher selten nach Hause, eher nur hinaus in die weiten Flächen, die uns alle Tage verboten waren. Nur einmal in der Woche durften wir das Internat für eineinhalb Stunden verlassen. Die erlaubten Routen waren eng abgesteckt. Ich nahm dann gerade so viel von draußen wahr, dass das, was ich in mir behielt, als ich zurückkam, wie ein ferner, leiser Ruf nach etwas ganz anderem nachhallte.
Als ich Ende Juni mein erstes Jahreszeugnis in den Händen hielt und bepackt mit Koffer und Wäschesack im Einfahrtsbereich des Stiftes lange auf meinen Vater warten musste – meist gehörte ich zu den letzten, die geholt wurden –, war ich mir doch halbwegs sicher, hier meinen Weg machen zu können. Im nächsten Jahr würde ich zu den Zweitklässlern gehören. Doch niemand aus unserem Jahrgang empfand Lust, die Schlägertage zu übernehmen. Ich war erleichtert, darüber hinweggekommen zu sein. Und wer weiß, vielleicht zieht im nächsten Jahr wieder ein guter Mensch ins Internat herein, der uns nur mit seinen Augen und einem stummen Verständnis begleitet und dessen Hände sich nie zu Fäusten ballen werden, sondern uns helfen wollen. Als ich so dasaß und die Beine vom Geländer der Brunnenumzäunung baumelten, während ich auf meinen Vater wartete, war mir Beate wieder eingefallen, ihr Gesicht, ihre Augen. Wie gern hätte ich sie noch einmal gesehen.