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Vorbemerkung

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Seit wenigstens 5.000 Jahren gehören die Drachen zur Vorstellungswelt der menschlichen Kulturen nahezu überall auf der Erde. Heute erscheint uns vor allem die Fantasywelt in all ihren verschiedenen Ausprägungen als Lebensraum des mythologischen Ungeheuers. Spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg von Harry Potter findet auch wieder in der Breite eine Auseinandersetzung mit dem faszinierenden Fabeltier statt. Drachologie ist der Begriff, unter dem sich die phantastische Drachenforschung versammelt und über Gestalt, Eigenschaften, Züchtung, biologisch-physikalische Grundlagen, Charakter und Herkunft diskutiert und spekuliert. In Harry Potters Welt gibt es für diese Art der Drachenforschung sogar eine Institution: das ›Amt für Drachenforschung und Drachenzähmung im Zaubereiministerium‹.

Ganz so gut organisiert ist die wissenschaftliche Drachenforschung 1 , die Dracologie, nicht. Und der Unterschied liegt nicht nur in der Begrifflichkeit: Die wissenschaftliche Drachenforschung befasst sich mit der Geschichte der menschlichen Kultur, die nicht nur die Kunst, sondern alle Lebensäußerungen menschlicher Gemeinschaften, von der Technologie über Politik und Wirtschaft bis hin zur Philosophie und der gesellschaftlichen Organisation umfasst.

Die Fantasyliteratur mit ihren Drachen ist ein Teil dieser kulturellen Lebensäußerungen, ebenso wie Volks- und Kunstmärchen, Mythologien, Epen, Sagen oder Legenden, Chroniken, politische Pamphlete oder Gesetzestexte. Es sind vor allem die literarischen Ausdrucksformen von Kultur, die uns über die kulturgeschichtliche Existenz des Drachen in allen gesellschaftlichen Bereichen informieren. Je mehr sich aber die Tradierungen von Sagen und Märchen der Gegenwart nähern, desto weniger Informationen liefern sie über konkrete Drachenvorstellungen und -funktionen in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit. Allein die Notwendigkeit eine alte Geschichte sprachlich immer wieder so zu überarbeiten, dass sie von den nachfolgenden Generationen überhaupt verstanden werden kann, bedeutet schon den Verlust eines Teils des kulturgeschichtlichen Hintergrunds des Originals. Und dass bei der Überarbeitung auch gleich die zeitgenössischen Drachenvorstellungen des ›Übersetzers‹ mit einfließen, versteht sich von selbst.

Die Ursprünge der Drachenvorstellungen lassen sich wissenschaftlich in die Frühgeschichte zurückverfolgen. Sie haben sich offensichtlich weltweit in mehreren Zivilisationszentren zunächst unabhängig voneinander entwickelt, von dort aus verbreitet und in unterschiedlichem Maße gegenseitig beeinflusst. Ebenso unterschiedlich wie die Zivilisationen in denen die Drachenvorstellungen entstanden sind, sind auch das Erscheinungsbild und die Charaktereigenschaften des Drachen. Der in seinem Aussehen recht einheitliche ost- und südostasiatische Drache gilt allgemein als freundlicher, glücksbringender Hüter des Universums. Tatsächlich ist sein Wesen jedoch sehr viel komplexer. Nicht zufällig hat Quiguang Zhao, Professor für chinesische Sprache und Literatur, nahezu ein Jahrzehnt recherchieren müssen, um 1992 sein Standardwerk ›A Study of Dragons, East and West‹ zu publizieren, in dem die unterschiedlichen Ideen, die dem asiatischen Drachen zugrunde liegen, analysiert werden. 2

Das folgende Beispiel mag die komplizierten kulturellen und interkulturellen Beziehungen allein des asiatischen Drachen veranschaulichen. Der japanische Drache ist auf den ersten Blick vom Chinesischen kaum zu unterscheiden: Tatsächlich aber verfügt der japanische Drache über maximal vier Klauen pro Bein. Der chinesische Drache besitzt als einziger ostasiatischer Drache fünf Klauen, vorausgesetzt, es handelt sich um einen kaiserlichen Drachen. Nur der kaiserliche chinesische Drache darf mit fünf Klauen dargestellt werden, einem Zeichen des universellen Herrschaftsanspruchs der göttlichen chinesischen Drachenkaiser, das ganz offensichtlich bei den anderen ostasiatischen Kulturen anerkannt wurde.

Der ›westliche‹ Drache, dessen zivilisatorische Ursprünge sich in Mesopotamien und der Kaukasusregion finden, kann von Ort zu Ort recht unterschiedlich aussehen, scheint sich in seinem Wesen jedoch sehr zu ähneln. Aber auch hier sind zahlreiche kulturelle Besonderheiten, Eigenschaften und Charaktere zu finden, wie die griechischen, nordischen oder keltischen Drachenvorstellungen belegen. Und auch innerhalb der einzelnen Regionen gibt es zahlreiche inhaltliche und formale Drachenvariationen, abhängig beispielsweise von Migrationshintergründen oder politischen Beziehungen zwischen den einzelnen Gemeinschaften in einer von uns heute als zusammengehörend wahrgenommenen Kultur. Der Vollständigkeit halber seien hier noch die süd-, mittel- und nordamerikanischen Zivilisationszentren genannt: Zu den bekanntesten Vertretern der vielfältigen und in ihrer Bedeutung noch weitgehend unerkannten Drachenwelt des amerikanischen Doppelkontinents gehört sicherlich die ›gefiederte Schlange‹ der Olmeken.

Allen Drachen gemeinsam ist aber ihre göttliche Abstammung und die zentrale Rolle, die sie in den mythologischen Entstehungsgeschichten der jeweiligen Kulturen spielen.

Eine halbwegs vollständige kulturgeschichtliche Darstellung der Drachen dieser Welt würde mehrere umfangreiche Bücher füllen. Im Rahmen dieser Publikation habe ich mich daher auf den ›westlichen‹ Drachen beschränkt und nur die Hauptstränge dieser Drachenwelten entwickelt. Das bedeutet aber immer noch eine Reise durch 10.000 Jahre Kulturgeschichte Europas und Vorderasiens.

Andre Zeiten, andre Drachen

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