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Das Geheimnis der alten Schlange

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Die Frage, was ein Drache zumindest im frühgeschichtlichen Zusammenhang ist, konnte zunächst mit dem Kampf zwischen der chaotischen Natur und dem kulturschaffenden, dem seine Umwelt formenden Menschen, beantwortet werden. Aber es ist eben nur eine Antwort, die sich aus der Betrachtung des vorderasiatischen Drachen ergeben hat. Seit dem Mittelalter orientierte sich die westliche Forschung an der Heiligen Schrift. Die Bibel war neben den Überlieferungen der griechischen klassischen Antike die archäologische Landkarte der Forscher des 19. und teilweise auch des 20. Jahrhunderts. Nach Babylon oder anderen vorderasiatischen Städten suchte man nicht primär wegen ihrer eigenständigen kulturellen Bedeutung, sondern als Teil der biblischen Geschichte. Auch das Enûma elîsch war weniger als Dokument zum Verständnis der babylonisch-sumerischen Kultur und Kulturgeschichte interessant, sondern als Grundlage der Diskussion über die Ursprünge der biblischen Schöpfungsgeschichte und Gottesvorstellung. Noch heute findet man Abhandlungen über den vorderasiatischen Drachen vor allem in Büchern oder auf Internetseiten zur Bibelforschung. Und bei genauerer Betrachtung ist es auch das geistige Koordinatensystem der Bibel 9 , das den Drachen im westlichen Verständnis als zerstörerisch und böse erscheinen lässt.

Erst in den letzten Jahrzehnten hat hinsichtlich des historischen Wertes der Bibel ein Umdenken in der westlichen Archäologie stattgefunden. Dazu haben nicht nur bessere Datierungs-, Erkundungs- und Untersuchungsverfahren beigetragen, die viele aus der Bibel heraus begründete Fundinterpretationen unhaltbar gemacht haben. 10 Auch überraschende Funde außerhalb der klassischen Region der biblischen Archäologie, in Mesopotamien, der Levante und Ägypten, zwangen insgesamt zu ganz neuen Überlegungen hinsichtlich der Bewertung kulturgeschichtlicher Prozesse. Und losgelöst vom Fokus auf die biblische Archäologie gelangt auch die Drachenforschung zu neuen Ansatzpunkten und Erkenntnissen.

Auf den vorderasiatischen Abbildungen, die vor allem von Rollsiegeln bekannt sind, sind die chaotischen Gegner der jeweiligen siegreichen Wettergötter überwiegend als Schlangen dargestellt. Es finden sich aber auch sogenannte Schlangenhalsdrachen mit vierbeinigen Körpern oder vierbeinige Löwenkopfdrachen mit Schlangenkörper.


Sumerisches Rollsiegel mit löwenköpfigen Schlangenhalsdrachen, Uruk 4100 bis 3000 vor Chr.

Die Schlange, so scheint es, ist aus dem Bild, das sich die Menschen vom Drachen machten, nicht wegzudenken. 12 Aber auch Elemente von anderen Tieren finden sich unter den Drachendarstellungen, deren spektakulärste im vorderasiatischen Raum zweifellos am babylonischen Ishtartor prangt.


Ishtardrache, der babylonische Drache auf der Originalmauer Babylons.

Die Rekonstruktion des im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung errichteten Tores ist heute im Berliner Pergamonmuseum zu bewundern. Der Drache, der dort als farbiges Mosaik aus glasierten Kacheln an der blauen Stadtmauer entlangstreift, lässt sich gut beschreiben: Das Haupt des schlangenartigen geschuppten Körpers ist einem mit Hörnern bewehrten Krokodilskopf entlehnt. Der Schwanz mündet in einen Skorpionstachel. Die Vorderfüße bilden kräftige Löwentatzen, die Hinterbeine laufen in den Krallen eines mächtigen Adlers aus. Nur Flügel sucht man vergeblich.

Eine wilde Mischung aus verschiedenen realen Tieren ist übrigens auch der ebenfalls flügellose chinesische Drache. Er vereint seit der Han-Zeit im 2. Jahrhundert nach Chr. die Attribute von neun verschiedenen Tieren: Hirsch, Kamel, Rind, Dämon (!), Schlange, Karpfen, Adler, Tiger und Seeungeheuer.

Die Entwicklung des chinesischen Drachen lässt sich relativ plausibel nachvollziehen. Die ersten Zeugnisse von Drachendarstellungen in China stammen etwa aus dem 4. Jahrtausend vor Chr. Vermutlich stehen sie hier in einem älteren totemistischen Zusammenhang und hatten unter anderem die Funktion von Schutzgottheiten im Rahmen einer Stammeskultur. Anfangs überwiegen Darstellungen von Totemtieren, wie Hirsche, Fische, Schlangen und andere, die sich beispielsweise eingraviert in Steinstelen finden. Im Laufe der Zeit und im Rahmen von Stammeszusammenschlüssen und Unterwerfungen, so die Theorie12 , wurden die verschiedenen Totemtiere miteinander vereint, bis schließlich der chinesische Drache etwa im 2. vorchristlichen Jahrtausend begann, seine bis heute gültige Gestalt zu entwickeln. Aus dem 2. Jahrtausend vor Chr. stammen schließlich auch die markanten sogenannten Jinwen-Formen des chinesischen Schriftzeichens ›Drache‹ (Shang- und Zhou-Zeit, 16. bis 11. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), die den Schlangencharakter des mächtigen Wesens herausstellen.

Der kurze Ausflug in die chinesische Drachenkultur ist nicht zufällig unternommen worden; hier findet man eine Drachentradition, die von biblisch-christlichen Einflüssen weitgehend unberührt ist und somit bei der Suche nach der ursprünglichen vorderasiatischen Drachenkultur helfen kann. Und so kehren wir wieder zurück nach Vorderasien und gehen der Frage nach, ob sich auch hier eine totemistische Vorgeschichte des Drachen nachweisen lässt. Lange Zeit gab es für diese Möglichkeit keine wirklichen archäologischen Indizien. Lediglich die Darstellung des Ishtartor-Drachen in Babylon als aus verschiedenen realen Tieren zusammengesetztes Wesen deutet darauf hin. 1994 jedoch erkannte der Archäologe Klaus Schmidt die außergewöhnliche Bedeutung von Göbekli Tepe, nahe der Stadt Urfa im Südosten der Türkei. Göbekli Tepe kannte man bereits seit Anfang der 1960er Jahre als archäologische Stätte. Dass es sich aber, wie Schmidt nahe legte, um eine der ersten monumentalen Kultstätten der Menschheit überhaupt handelt 13 , ahnte damals niemand. Was die Archäologen dort ausgegraben und 2007/2008 als Vorabergebnis im Rahmen einer Ausstellung und mehrerer Publikationen der Öffentlichkeit präsentiert haben, ist nicht nur in Bezug auf die Kulturgeschichte des vorderasiatischen Drachen faszinierend. Die rund 12.000 Jahre alten Monumente entpuppten sich nämlich als gewaltige Kultanlage mit zahlreichen plastischen, reliefartigen und sehr realistischen Darstellungen von Tieren, mehr oder weniger abstrahierten Menschenfiguren und Mensch-Tier-Kombinationen. 14


Chinesischer Drache im kaiserlichen Sommerpalast in Peking. Deutlich erkennbar ist der zusammengesetzte Leib und, dadurch ausgedrückt, der komplexe Charakter des Drachen.

Da sieht man Füchse, Eber, Vögel, Tausendfüßler und Skorpione, krokodilähnliche Figuren und Raubtiere und immer wieder auch Schlangen. Nicht die mächtigen Schlangenmonster der späteren Chaoskampf-Zeiten, aber in großer Zahl und durchaus an prominenter Stelle. Der Ausgräber von Göbekli Tepe, Klaus Schmidt, warnt zu Recht davor, die zweifellos in religiös-kultischem Zusammenhang stehenden Bilder als Beginn einer mythologischen Tradition zu sehen, die in die Schöpfungsgeschichten der mesopotamischen Hochzivilisationen mündet 15 . Für eine solche Annahme fehlen nicht nur die archäologischen Bindeglieder zwischen Göbekli Tepe und beispielsweise der babylonischen Bilderwelt. Es ist auch sehr unrealistisch anzunehmen, dass die viel älteren Bilder der gerade sesshaft werdenden steinzeitlichen Jäger- und Sammlerkultur von Göbekli Tepe die gleichen Geschichten erzählen und die gleichen Vorstellungen von der Welt vermitteln, wie die gleichen Bilder der bronzezeitlichen städtischen Hochzivilisation Babylon. Spätestens mit der Ausbildung einer Schrift und der damit verbundenen kultur- und herrschaftsspezifischen Dokumentation von Geschichte, Mythologie und Religion ist ein Traditionsbruch geradezu zwingend. Und dennoch gibt es Zusammenhänge, die eine Ableitung des Drachen aus der totemistischen Geisteswelt 16 rechtfertigen, die bis in die Jungsteinzeit zurückreichen. Und auch wenn wir diese Ursprünge kulturell kaum noch fassen können, die Babylonier haben uns mit dem Enûma elîsch und den zahlreichen Abbildungen von Göttern und Drachen scheinbar zuverlässige schriftliche Quellen über ihr kulturelles Verständnis des Drachen hinterlassen. Der Drache repräsentiert das Chaos und wurde von dem mächtigen, Ordnung schaffenden Gott Marduk besiegt. Daher, so interpretieren wir, stellt der Drache der Abbildungen auf Reliefs und Rollsiegeln das Symboltier Marduks dar, das an die kulturheroische Leistung des Gottes erinnern soll.

Eine andere Interpretationsmöglichkeit eröffnet der chinesische Drache. In China vermissen wir eine den orientalischen Schöpfungsmythen entsprechende vollständige Geschichte. Trotz allem aber gibt es in den bruchstückhaften Überlieferungen immer wieder ein vergleichbares Prinzip: das Schaffen von Ordnung aus dem Chaos. Das Chaos wiederum ist bekanntlich eng mit den Naturkräften verbunden, verkörpert durch den Drachen. Während aber in den orientalischen Kulturen die Drachen in der Regel getötet oder wenigstens besiegt werden, haben die chinesischen Drachen nach den Überlieferungen persönlich das Kaiserreich und die kosmische und staatliche Ordnung geschaffen. Schon in mythologischer Vorzeit treten uns die Drachengötter als kaiserliche Staatsbeamte entgegen. Der mythische Gottkaiser Huang Ti war beispielsweise ein leibhaftiger Drache von gelber Schuppenfärbung. Er machte das Land urbar und führte die Viehzucht ein, ein Kulturheroe wie der babylonische Gilgamesch oder eben auch Marduk. Nach chinesischer Vorstellung bewacht der Gelbe Drache den Himmel und von ihm hängt es ab, ob die Sonne scheint oder nicht. Er wacht über Wind und Regen und ist letztendlich für Gedeih und Verderb der Ernte zuständig. Die chinesische Drachenwelt ist staatlich organisiert, ein Abbild der menschlichen Welt. Drachen sind hier die Schöpfer und Garanten der Ordnung. 17 Die chinesische Kultur hat es damit geschafft, ohne nachweisbaren Drachenkampf das Chaos selbst als Ordnungskraft zu interpretieren. Ein Denkmodell auch für den orientalischen Drachen der Frühgeschichte? Unserem kulturellen Verständnis entspricht diese Interpretation sicher nicht. Aber das ist für das tatsächliche Wesen der orientalischen Hochkulturen genau so unmaßgeblich wie die Vorstellungen der gerade sesshaft werdenden Jäger- und Sammler von Göbekli Tepe, deren Bilder sie übernommen haben.

Andre Zeiten, andre Drachen

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