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Inishturk liegt mitten im Atlantik, ziemlich weit draußen vor der Westküste von Irland. „Inish“ heißt „Insel“ und „turk“ heißt „wildes Schwein“, obwohl es schon lange keine Wildschweine mehr gibt auf Inishturk, nur noch ein paar Kühe und ein paar Ziegen und jede Menge Schafe. Und natürlich den alten Esel von meinem Großvater, der immer im Gemüsebeet rumtrampelt und den Salat frisst.

Ein paar Menschen leben auch auf Inishturk, klar, ich zum Beispiel und mein Vater und meine Mutter und meine beiden Brüder Owen und Brendan und noch genau vierundfünfzig andere, und jeder ist irgendwie mit jedem verwandt, nur nicht mit Maureen, die meine Lehrerin ist und vom Festland kommt. Aber im Moment sind Ferien und deshalb ist Maureen nicht da. Macht Urlaub bei ihren Eltern.

Außerdem gibt es auf Inishturk noch vier Fischkutter, eine Kneipe, einen Laden und ein Telefon, das steht bei der alten Mary Catherine auf dem Küchentisch. Natürlich haben weder der Laden noch die Kneipe ein Schild über der Tür, weil sowieso jeder weiß, wo er sein Guinness oder seine Kartoffeln bekommt. Also wäre es völlig idiotisch, extra ein Schild aufzuhängen.

Es gibt übrigens auch keine Autos auf Inishturk. Kein einziges. Kein richtiges jedenfalls. Nur einen alten Landrover ohne Kupplung und ohne Bremsen, aber mit dem kann niemand fahren. Owen hat es zwar mal versucht, ist aber nichts bei rausgekommen, hat nur ziemlichen Ärger mit Vater gegeben.

Aber seit zwei Tagen liegt Owen sowieso mit Grippe im Bett.

Vater hat ein Auto auf dem Festland, einen ziemlich klapprigen Kombi mit einer verbeulten Beifahrertür, damit bringt er manchmal ein paar Hummerkisten von Roonah Quay nach Westport oder besucht Paddy Hopkins, seinen alten Freund. Meine Mutter sagt, der Kombi wäre zum Kotzen, erstens weil er nach altem Fisch stinkt und zweitens weil man zur Beifahrertür nicht rauskommt, sondern immer erst einer von außen aufmachen muss. Und drittens weil mein Vater eindeutig besser Fischkutter fahren kann als Auto.

Mir ist das ziemlich egal. Hauptsache ich darf mit, wenn Vater nach Westport fährt. Da gibt es nämlich einen Laden mit Softeis und für nur zwanzig Pence mehr bekommt man einen Schokoladenriegel oben ins Eis gesteckt, der ist fast schwarz und schmeckt ein bisschen nach Lakritze.

Im Laden auf Inishturk gibt es keine Lakritze und erst recht kein Softeis. Nur Säcke mit Mehl oder Kartoffeln oder Kraftfutter für die Kühe und ein paar Konserven, weiße Bohnen in Tomatensoße und solche Sachen. Und manchmal noch bunte Lutscher. Ist ja aber auch eigentlich gar kein richtiger Laden, nur ein Raum mit Regalen neben der Küche von Helen, die mit Kevin verheiratet und außerdem auch noch die Krankenschwester von Inishturk ist.

Ihre Arzneimittel hat Helen in einem grau gestrichenen Blechschrank mit einem roten Kreuz darauf und einem großen Vorhängeschloss an der Tür. Und der Schrank steht im Anbau der Inselkirche, die eigentlich auch gar keine richtige Kirche ist, sondern eher ein großer Saal mit ein paar Holzbänken an der Wand. Weshalb wir auch „Gemeindesaal“ sagen und nicht „Kirche“. Es gibt natürlich auch keinen Turm, aber dafür ein Jesusbild mit einem blutenden Herzen, und im Anbau steht ein Bett, falls mal jemand eine Krankheit hat, die sehr ansteckend ist.

Einmal hat der alte Paddy O’Toole da geschlafen, als er nämlich zu viel getrunken hatte und sich nicht nach Hause traute. Und als Pegeen, seine Frau, am nächsten Morgen Paddys Schuhe im Kuhstall fand und sonst gar nichts, dachte sie, die Kuh hätte den armen Paddy einfach mit Hemd und Hose aufgefressen. Wie die Schuhe in den Kuhstall gekommen sind, weiß keiner, aber jedenfalls haben sie Paddy dann laut schnarchend im Krankenzimmer gefunden!

Owen muss nicht ins Krankenzimmer, obwohl er Grippe hat. Helen hat gesagt, Grippe sei zwar ansteckend, aber noch lange kein Grund fürs Krankenzimmer. Schade eigentlich, denn sonst hätte ich vielleicht für ein paar Tage in Owens Zimmer ziehen dürfen, mit dem kleinen Dachfenster, durch das man genau auf den Hafen blicken kann. Stattdessen muss ich mich weiter mit Brendan herumärgern, der erst sechs ist und alles durcheinander bringt und nie aufräumt und nachts im Schlaf immer irgendwelchen Blödsinn erzählt.

Aber wenigstens klettert er nicht aufs Dach dabei, sondern setzt sich nur hin. Und einmal hat er sich ans Fenster gestellt, aber als ich gesagt habe: „Da ist nichts, leg dich wieder hin“, hat er sich wieder hingelegt. Überhaupt ist er eigentlich ganz nett, für einen kleinen Bruder jedenfalls, und dumm ist er auch nicht. Ist neulich auf den einzigen Baum der Insel geklettert, bis ganz nach oben, und hat ganz still da gesessen und die Arme ausgestreckt, bis sich ein kleiner Vogel draufgesetzt hat. Weil er dachte, Brendans Arm wäre ein Ast.

Trotzdem mag ich Owen lieber, aber das ist ja auch klar, Owen ist nämlich schon sechzehn und kann ein Stück Treibholz mit der flachen Hand durchschlagen, sogar wenn das Holz so dick ist wie sein eigener Arm. Aber letzte Woche hat er die ganze Küche voll gekotzt, weil er nämlich bei John Joe wieder heimlich Zigarren geraucht hat, das war gar nicht schön und eine ziemliche Schweinerei.

John Joe wohnt ganz am Ende der Insel, wo eigentlich keiner mehr wohnt und wo nur noch Klippen sind und kreischende Möwen und wo die Gischt hoch aufspritzt, wenn die Wellen gegen die Felsen anrennen. Früher war John Joe ziemlich berühmt, weil er der Einzige war, der Steinmauern bauen konnte, die hundert Jahre lang hielten. Deshalb hat er auch fast alle Häuser auf Inishturk gebaut und in New York war er auch schon mal. Aber das ist lange her und er redet nicht gerne darüber, sondern sagt nur: „Völlig verrückt da. Und die Leute: alle plemplem.“ Und dass er froh wäre, wieder auf Inishturk zu sein und nie wieder weggehen würde.

Ich bin auch froh auf Inishturk zu sein. Jedenfalls gibt es hier keine Räuber und keine Einbrecher und auch keine Polizei, und deshalb braucht auch keiner die Haustür abzuschließen. Und passieren kann einem auch nichts, höchstens dass man von der Klippe fällt, aber das tut keiner, nur manchmal ein paar Schafe. Im Winter, wenn Sturm ist und der Regen so prasselt, dass es wehtut auf der Haut und man kaum noch die Hand vor Augen sieht.

Ich glaube, wenn es nicht so viel regnen würde, wäre Inishturk wahrscheinlich der beste Platz auf der ganzen Welt. Weil jeder jeden kennt und weil alle helfen, wenn einer ein Problem hat. Und weil alle genug zu essen haben und es eigentlich auch gar keine Probleme gibt, außer dass Großvaters Esel immer im Salat herumtrampelt. Er kann nämlich den Riegel vom Gatter mit den Zähnen aufschieben! Deshalb habe ich gestern auch einen Strick drumgebunden, da hat der Esel ganz schön blöd geguckt.

Als Großvater noch gelebt hat, hat er Geige gespielt und mein Vater tin whistle, Blechflöte. Sie konnten wunderschöne Musik machen, wenn sie nur wollten. Und wenn sie genug schwarzes Bier getrunken hatten. Samstagabends haben sie manchmal im Gemeindesaal gespielt, Großvater hatte ein rotes Tuch um den Hals und Vater seine schwarzen Lederschuhe an, die er vorher auf Hochglanz poliert hatte. Und alle Leute tanzten und sangen und erzählten sich Geschichten und die Kinder durften bis nach Mitternacht aufbleiben, sogar Siobhán, das Baby von Helen, das sonst immer nur schreit.

Aber wenn Großvater und Vater Musik machten, war Siobhán ganz still. Und gluckste nur ein bisschen vor Freude. „Weil die Musik so schön war, dass ich immer gedacht habe, eines Tages werden sogar die Fische aus dem Wasser springen um mitzutanzen“, hat Mary Catherine gesagt und sich heimlich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln gewischt, als sie an Großvater denken musste. Ich glaube, sie hat ihn sehr gerne gemocht. Vielleicht, weil er ihr großer Bruder war. Aber jetzt ist Großvater tot und Vater hat gesagt, dass er noch ein bisschen Zeit braucht, bevor er wieder Lust hat Musik zu machen.

Dabei fällt mir ein, dass ich Mary Catherine eigentlich mal wieder besuchen könnte. Mary Catherine macht nämlich den besten Kakao auf der Welt! Und heißer Kakao wäre gar nicht schlecht bei dem Mistwetter und vielleicht gibt es ja auch was Neues. Mary hat nämlich auch die Poststelle von Inishturk und einmal in der Woche kommt der Kutter mit der Post vom Festland und bringt Briefe und Ansichtskarten und manchmal sogar ein Paket. Und weil Mary immer alle Ansichtskarten liest und manchmal auch die Briefe, weiß sie natürlich auch immer über alles und das Allerneueste Bescheid.

Ich ziehe mir also meine Regenjacke über und pfeife nach Dog. Dog ist mein Hund, ein echter Hütehund, schwarzweiß gefleckt und der klügste Hund auf der ganzen Insel. Passt auf, dass die Ziegen nicht abhauen und dass Brendans Kater und die anderen Katzen nicht ins Haus kommen. Sollen sie nämlich nicht, sie sollen lieber draußen bleiben und Mäuse fangen.

Dog und ich sind die besten Freunde überhaupt. Und manchmal machen wir den ganzen Tag nichts weiter, als auf der Wiese herumzuliegen und in den Himmel zu gucken. Bis uns ganz schwindlig im Kopf wird und wir nicht mehr wissen, ob sich die Wolken bewegen oder wir selber mit der ganzen Insel oder alles durcheinander.

Manchmal sitzen wir auch einfach nur auf einer Klippe und starren aufs Meer und malen uns aus, was wohl hinter dem Horizont sein könnte. Obwohl wir natürlich ganz genau wissen, dass da erstmal eine ganze Weile gar nichts kommt, nur Wasser, und dann Amerika. Das heißt, ich weiß das, ob Dog es auch weiß, ist nicht ganz sicher. Könnte aber sein.

Ich pfeife noch einmal. Da, jetzt höre ich Dog kläffen, oben am Berg. Aha, die Ziegen sind wieder abgehauen und fressen wilde Brombeeren. Und Großvaters Esel hat den Strick am Gatter durchgekaut und trampelt schon wieder im Salat herum. Klar, dass Dog nicht weiß, worum er sich zuerst kümmern soll! Heute geht aber auch alles schief, denke ich und jage Großvaters Esel aus dem Gemüsebeet. Und dann helfe ich Dog die Ziegen zurückzuholen. Dann können wir uns endlich auf den Weg zu Mary Catherine machen.

Unterwegs gehe ich noch schnell bei Helen vorbei, bloß um zu fragen, ob es vielleicht gerade wieder bunte Lutscher gibt. Gibt es aber nicht. „Gibt keine bunten Lutscher“, sage ich, kaum dass Mary Catherine die Tür aufgemacht hat. „Aber ist ja auch egal. Machst du mir Kakao?“, frage ich und setze mich falsch herum auf Mary Catherines einzigen Küchenstuhl. Und Dog schüttelt sich das Regenwasser aus dem Fell und legt sich unter den Tisch.

Mary Catherine stellt einen Topf Milch auf die heiße Ofenplatte. Und sagt: „Wir kriegen Gäste.“ Sagt es so, als wäre es gar nichts Besonderes und als würden wir jeden Tag Gäste kriegen auf Inishturk.

„Nun red schon weiter“, drängele ich, „wer ist es?“

„Rate mal“, sagt Mary Catherine.

„Ich weiß nicht“, sage ich, „Seamus vielleicht!“, rufe ich dann, denn Seamus war schon lange nicht mehr da und es wird Zeit, dass er sich endlich mal wieder blicken lässt, das meinen alle auf Inishturk, vor allem Maureen, die nämlich immer noch ein bisschen verliebt ist in Seamus.

Seamus ist Mary Catherines Sohn und vor ungefähr einem Jahr ist er nach Deutschland gegangen um Geld zu verdienen. Jetzt hat er in irgendeiner Stadt eine Kneipe. Eine irische Kneipe. Wo er jeden Abend Musik macht und nur irisches Bier verkauft und irische Kartoffelchips dazu. Einmal hat er eine Postkarte geschickt, auf der stand: „Schickt mir alte Fotos und Bilder und allen Kram, den ihr nicht mehr braucht. Ich kann alles gebrauchen.“ Und „alles“ war dick unterstrichen.

Da haben wir ihm alte Fotos und Bilder geschickt und das rostige Nummernschild vom Landrover und Owen hat noch ein Stück blau gestrichenes Holz dazugelegt und ich ein paar besonders schöne Muscheln vom Strand und eine Krebsschere. Ein richtig großes Paket ist es geworden und Seamus hat auch gleich geantwortet.

„Danke“, hat er geschrieben, „die Leute hier sind begeistert und finden meine Kneipe ‚sehr‘ irisch. Und trinken jeden Abend so viel Bier, dass ich bestimmt bald nach Hause kommen kann und dann bringe ich für jeden von euch was mit.“ Ein paar Fotos hatte er auch dazugelegt, da konnte man ihn in seiner Kneipe sehen und das Nummernschild vom Landrover hing in einem Bilderrahmen an der Wand und auf der Theke lagen meine Muscheln.

„Ich sag’s doch“, hat John Joe gesagt, als er den Brief gelesen hat, „wie in New York: alle plemplem.“ Aber ich möchte natürlich wissen, was Seamus mir wohl mitbringt aus Deutschland, und deshalb hoffe ich, dass es Seamus ist, der zu Besuch kommt.

„Falsch“, sagt Mary Catherine und stellt einen Becher dampfenden Kakao vor mich. „Völlig falsch.“

„Dann weiß ich nicht“, sage ich.

„Fremde“, erklärt Mary Catherine und tut sehr geheimnisvoll. „Touristen. Leute, die hier Urlaub machen wollen.“

„Touristen?“, frage ich verblüfft, denn es ist noch nie ein Tourist auf Inishturk gewesen. Nur mal Paddy Hopkins aus Westport, mit seinem Segelboot, und Paddy Hopkins ist natürlich kein richtiger Tourist, weil er sowieso alle Leute auf der Insel kennt und mit Vater zusammen auf der Schule war. Und einmal war ein Professor von der Universität da. Der hat Steine gesammelt und Fotos gemacht. Aber nur zwei Tage lang, dann hatte er Schnupfen und musste wieder nach Hause.

„Touristen“, sagt Mary Catherine noch mal, „zwei Männer. Mr. McArthur und Mr. Gibbs. Aus Dublin. Sie werden in Seamus’ Zimmer wohnen und zahlen eine Menge Geld dafür.“

„Und was wollen sie hier machen?“, frage ich.

„Was man eben so macht als Tourist“, antwortet Mary Catherine, „ein bisschen wandern vielleicht. Oder angeln, oben im See.“

„Aha“, sage ich und wundere mich. „Und wann kommen sie?“

„Dein Vater bringt sie morgen mit dem Boot rüber.“

„Waaas?! Morgen schon?“, rufe ich und verschütte vor Aufregung fast meinen Kakao. „Das muss ich sofort den anderen erzählen.“

„Das wissen schon alle“, sagt Mary Catherine lachend und zeigt ihre Zahnlücken, „nur du mal wieder nicht!“

Es stimmt schon, manchmal kriege ich wirklich nicht alles mit, weil ich nämlich auch gar nicht hinhöre, wenn mir jemand was erzählt, sondern viel lieber von irgendwelchen Abenteuern träume. Aber jetzt rufe ich: „Owen weiß auch nichts davon, weil er nämlich im Bett liegt und Grippe hat!“

„Ich weiß“, antwortet Mary Catherine, aber da bin ich schon aus der Tür und weg. Und Dog fröhlich kläffend hinterher.

Giftiges Gold

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