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1.

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Mein Vater fuhr uns nicht direkt zur Kadettenanstalt in den Mechouar. Kaum waren die ersten Straßen von Tlemcen erreicht, fiel die Starre von ihm ab, und sein Fahrstil wurde nervös. Er beschimpfte die Fußgänger, bedrängte die anderen Autofahrer, und aus seinen Mundwinkeln quoll weißliches Sekret. Etwas in ihm war soeben zerborsten, und mit den Trümmern wurde die ganze Selbstbeherrschung hinweggeschwemmt, hinter der er so trefflich seine Risse verbarg. Eine unglückliche Kindheit war der Grund dafür, dass mein Vater stets die Fassade aufrechterhielt. Von ihm habe ich gelernt, gute Laune niemals für bare Münze zu nehmen, weil unechtes Lachen oft besonders schrill daherkommt, als Ablenkungsmanöver.

Mein Cousin auf dem Rücksitz rieb sich die Augen. Als er wissen wollte, wo wir waren, bekam er nur ein unwirsches Brummen zur Antwort. Der Wagen musste sich noch durch ein paar enge Gassen zwängen, die schwarz vor Müßiggängern und Arbeitslosen waren, kam dann vor einem gedrungenen, schmutzigen Wohnhaus zu stehen. Sergent Kerzaz, der uns auf dem Treppenabsatz in Empfang nahm, begrüßte meinen Vater mit kräftigem Händedruck und bat uns in die Wohnung. Mein Cousin und ich wurden zu einem niedrigen Tisch dirigiert, wo eine Mahlzeit auf uns wartete: Salat, eine Karaffe Wasser und eine Schüssel mit einem zähen Ragout, dessen Geruch mir auf der Stelle den Appetit verschlug. Mein Vater betrieb derweil mit dem Sergenten im Flur Konversation. Sein Schatten zeichnete verlegene Bewegungen an die Wand. Er sprach mit gedämpfter Stimme. Der Sergent, der uns den Rücken zukehrte, nickte mehrmals und wiederholte immer nur: »Jawohl, Herr Leutnant, sehr wohl, Herr Leutnant.« Nach einem knappen, gedämpften Gespräch knarrte die Tür einmal kurz, dann fiel sie leise ins Schloss. Mit ausdrucksloser Miene kam der Sergent zu uns herein. »Beeilt euch mit dem Essen«, ermahnte er uns, »wir müssen pünktlich sein.« Ich versuchte, einen Blick an ihm vorbei durch die Tür zu erhaschen, um zu sehen, ob mein Vater noch da war. Doch der Korridor war leer. Mein Vater hatte sich davongestohlen. Ohne uns auch nur einmal in den Arm zu nehmen. Ich hätte mir doch bloß gewünscht, dass er wenigstens einen Augenblick lang mit mir geredet, mir die Hände fest auf die Schultern gelegt oder mir übers Haar gestrichen hätte, ohne meinem Blick auszuweichen. Zwar nicht genug, um mich ernsthaft zu trösten, aber vielleicht genug, um mich kurzfristig aufzumuntern und mich, und sei es nur ein Lächeln lang, über den Moment dieser Trennung hinwegzutrösten, die einem Bruch, ja einer Zerreißprobe gleichkam.

Sergent Kerzaz war ein Mann, der es eilig hatte. Im Handumdrehen war er in seinen Drillich geschlüpft, hatte seine Stiefel gewichst und forderte uns auf, ihm zu folgen. Weder Kader noch ich hatten genügend Zeit, geschweige denn den Mut gehabt, auch nur ein Stück Brot anzurühren. Stumm trotteten wir hinter ihm her, hatten Mühe, den Anschluss zu halten. Unser Führer stammte aus Algeriens tiefem Süden und hatte den schnellen Schritt der Söhne der Wüste drauf. Kaum waren wir durch die ersten paar Gassen gekommen, merkten wir schon, dass wir beinahe hinter ihm her rannten. Nicht ein einziges Mal hat er sich nach uns umgedreht. Er machte nur noch immer längere Schritte, zog die Schultern ein und wirkte völlig unnahbar. Um uns herum gingen die Leute im turbulenten Alltagsgewirbel ihren Geschäften nach. Rund um die Auslagen der fliegenden Händler herrschte dichtes Gedränge. Verschleierte Frauen und Bauern mit Turban beherrschten das Bild. Die plärrenden, brabbelnden Kleinkinder, die Marktschreier mit ihren Rufen verliehen dem Ganzen die heitere Atmosphäre eines Volksfestes. Die Hitze, die sich in Grenzen hielt, umfing die Welt in einer balsamischen Umarmung, der etwas Gefühlvolles, beinahe Menschliches anhaftete. Es war ein schöner Tag, wie geschaffen, um einfach nur herumzuschlendern. Fast hätte man sich im Frühling gewähnt. Aber Sergent Kerzaz hatte keinen Sinn für die ausgelassene Stimmung ringsum. Ungerührt, ja beinahe verdrossen, bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Auf einem Platz kickte ein Trupp kleiner Jungs einen Stoffball mit schrillen Rufen durch die Gegend. Sie waren mit verbissenem Ernst bei der Sache, wild entschlossen, dem gegnerischen Tor so nah wie möglich zu kommen; traten einander in wüster Hektik vors Schienbein und ließen ihrer explosiven Freude freien Lauf, sobald sie den Gegner erfolgreich ausgetrickst oder einen Volltreffer gelandet hatten. Unwillkürlich blieb ich stehen, um das Spiel zu verfolgen. »Wir werden zu spät kommen«, mahnte der Sergent, der pausenlos weitermarschierte. Mein Cousin musste mich am Ärmel ziehen, um mich in die Realität zurückzuholen. Ich stieß ihn genervt zurück. Mir war, als hätte er mich aus einem fantastischen Traum gerissen. In meiner Brust hämmerte eine unbändige Lust, umzudrehen und mich in der Menge zu verlieren. Am liebsten wäre ich schnurstracks zu meiner Mutter zurückgelaufen, zu meinen vertrauten Gewohnheiten, meinen Nachbarn und Freunden. Der Sergent machte widerstrebend kehrt, packte mich mit einem Ruck, der mir durch und durch ging, beim Handgelenk und schleifte mich hinter sich her – bis vor das eiserne Portal einer monumentalen Festung mit gewaltigen, von Efeu überwucherten Mauern. Zwei Wachsoldaten öffneten uns einen Durchlass innerhalb des Tors und wechselten ein paar Grußworte mit dem Sergenten. Uns behandelten sie wie Luft. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie die Pforte sich unwiderruflich hinter den Autos und Häusern, den Menschen und Geräuschen schloss. Etwas sagte mir, dass die Außenwelt, die da vor meinen Augen verschwand, auch mich dahinschwinden ließ; dass ein ganzes Kapitel meines Lebens völlig willkürlich für immer und ewig zugeschlagen würde. Ich war so verwirrt, dass ich heftig zusammenzuckte, als der Soldat den Riegel vorschob.

Wir kamen einen Weg entlang, der zu beiden Seiten von ältlichen, hinfälligen Bauten gesäumt war. Die verblichenen Ziegel, das stellenweise löchrige Dach, die leeren Fensterhöhlen und die Fassade, die von deprimierender Blässe war, bewirkten, dass ich mir schon zu diesem Zeitpunkt wie im falschen Film vorkam. Die Gestalten, die hier und da herumliefen, teils in verwaschenen Arbeitskitteln, teils im Drillich, hatten so gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen aus meinem Viertel in Oran. Sie schienen alle sehr beschäftigt zu sein, blickten mürrisch drein und bewegten sich vorwärts, ohne auch nur eine Miene zu verziehen; ja sie grüßten noch nicht einmal. Nur ein korpulenter Korporal blaffte mit dem Waffengürtel in der Hand auf einen Trupp Häftlinge ein, die man an ihrer verwahrlosten Uniform und ihrem kahlrasierten Schädel erkannte. Letztere waren zum Arbeitsdienst eingeteilt; mit bloßen Händen sammelten sie den Abfall ein, um ihn in eine quietschende Schubkarre zu werfen, die ein weiterer, sehr schmächtiger Häftling unter größter Mühe über den schotterbedeckten Boden schob. Dahinter gelangten wir in einen riesengroßen Hof, der mit kolossalen Platanen bestanden war. Kleine Jungs in graugrünen Waffenröcken paradierten dort auf und ab. Sie hatten alle die gleichen Käppis auf, aber keineswegs die gleichen Schuhe an. Einige trugen Halbschuhe, andere Stiefel. In drei Züge aufgeteilt, übten sie sich im Gleichschritt, die Arme rhythmisch im Takt, den Rücken stocksteif, das Kinn vorgestreckt. Ihnen gegenüber posierte auf einem Steinquader ein ältlicher Hauptfeldwebel und gab mit Stentorstimme den Rhythmus vor. Mit Luchsaugen lauerte er auf das kleinste falsche Manöver, und mitunter entfuhr ihm ein höllischer Fluch. Als er uns herannahen sah, übergab er das Kommando einem Untergebenen, sprang zu Boden und kam auf uns zu. Verblüfft sah ich, wie er, nachdem er bei uns angelangt war, ein Gebiss aus der Jackentasche hervorzog und es geruhsam in seinem Mund zurechtschob. Während er sich mit dem Handrücken über die Lippen wischte, musterte er eingehend meinen Cousin und mich, dann erkundigte er sich beim Sergenten, ob wir wohl die Söhne von Oberleutnant Hadj seien. Der Sergent nickte zustimmend.

»Ich hatte sie eigentlich im Lauf des Vormittags erwartet, aber was soll’s. Du kannst ihnen ja schon mal ihre Betten zeigen, da können sie sich ein wenig ausruhen. Um diese Zeit ist der Frisör ohnehin nicht mehr frei. Sie bleiben am besten bei den neu eingetroffenen Rekruten. Morgen wird ihnen dann der Kopf geschoren, danach kommen sie unter die Dusche. Die neue Kleidung ist noch nicht geliefert. Sie müssen bis auf weiteres ihre Privatsachen anbehalten.«

»Zu Befehl.«

Der ältliche Hauptfeldwebel lächelte kurz in unsere Richtung, mehr aber auch nicht. Er war klein und lebhaft und hatte ein schwärzliches, ausgemergeltes Gesicht, das vom Leben als Partisan ganz verschrumpelt war. Obwohl er in seiner Uniformjacke nur so hing, konnte man spüren, dass er unerbittlich war und von einer unbezwinglichen Energie. Bevor er zu seinen Trupps zurückkehrte, nahm er noch sein Gebiss heraus und verstaute es wieder in der Tasche. Sein Mund fiel derart trostlos in sich zusammen, dass mich eine Gänsehaut überlief.

Der Sergent brachte uns in das Gebäude, das den Schulhof überragte, einen schäbigen, gestreckten Bau, an die hundert Meter lang, von dem der Putz bröckelte. Man betrat ihn durch eine brüchige Tür, hinter der sich ein dunkler, endloser Flur auftat, in dem es nach Pisse stank. Im Erdgeschoss befanden sich Klassenräume mit Reihen von Tischen und Bänken. Von den Wänden, die in bedrückendem Grau gehalten waren, hingen müde Stiche mit Fabelszenen nach La Fontaine. Und von der Tafel über dem Podest baumelte die Eselskappe, die für den größten Faulpelz der Stunde bestimmt war … Der Sergent ging weiter, stieg hoch in den ersten Stock, prüfte im Vorbeigehen die Tiefe der Risse im Geländer und warnte uns vor altersschwachen Treppenstufen. Kaum waren wir in einem großen Raum angelangt, in den durch ein primitives Fenster Licht einfiel, deutete er auf zwei freie Matratzen und fing sofort an, uns vorzuführen, wie man Betten so »baut«, wie es weltweit Brauch in jeder Kaserne ist. Mit unendlicher Sorgfalt breitete er die erste Decke über der Matratze aus, dann die beiden Laken, die er mit äußerster Behutsamkeit glättete, und als letzte Schicht eine zweite Decke, deren Enden er unter die Matratze stopfte, dann rückte er noch das Kopfkissen zurecht, klopfte mit geschickten Händen die Ränder des Schlaflagers glatt und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. »Wie eine Munitionskiste muss euer Bett aussehen«, bläute er uns ein, »die Ecken ganz exakt und die Oberfläche platt wie ein Brett, das obere Laken muss so und nicht anders umgeschlagen sein. Ich warne euch, wenn euer Ausbilder auch nur die kleinste Falte entdeckt, wird er alles zu Boden zerren und euch den Hintern versohlen, bis ihr es schafft, ihm ein bügelglattes Bett zu präsentieren.« Mein Cousin nickte artig, meilenweit davon entfernt, die Strenge des Protokolls mit allen Konsequenzen zu erfassen. Ich aber wollte nur noch nach Hause zurück.

Der Sergent setzte den Erkundungsgang durch »unser« künftiges Terrain fort, deutete auf den Gemeinschaftsraum hin, ohne uns näher zu erklären, was es damit auf sich hatte, da es momentan geschlossen war, und zeigte uns, bis wohin genau unser Sektor reichte, außerhalb dessen wir Gefahr liefen, uns ins Quartier der Soldaten zu verirren, was völlig inakzeptabel sei. Er klärte uns darüber auf, wie wir uns zu verhalten hätten, falls wir plötzlich allein da stünden, an wen wir uns wenden sollten, wenn etwas nicht ganz so lief, und woran man einen Ausbilder erkannte, damit wir uns nicht dem Erstbesten, der uns über den Weg lief, anvertrauten. Am späten Nachmittag brachte er uns in einen kleinen Hof, wo wir einen Haufen gelangweilter kleiner Jungs in Zivil vorfanden: die neuen, kurz zuvor eingetroffenen Rekruten. Die meisten waren Kriegswaisen, manchmal ganz ohne Angehörige und ohne Familiennamen. Man hatte sie auf der Landstraße aufgegriffen oder aus ihren Nachbarsfamilien herausgeholt, die zu arm waren, um sie mit durchschleppen zu können. Manche waren völlig zerlumpt, mit Druckgeschwüren und Schrunden an den Füßen. Andere hatten struppiges Haar, Triefaugen und wimmelnden Rotz an den Nasenlöchern. Doch bei allen lag eine schmerzliche Verstörtheit im Blick, als rechneten sie damit, gleich den Himmel über sich einstürzen zu sehen. Einer von ihnen, den unsere Kleidung schwer zu beschäftigen schien, kam auf uns zu, um uns aus der Nähe zu betrachten. Mit seiner rissigen, geschwollenen Hand strich er sanft über meine Jacke, betrachtete prüfend ihren Zuschnitt; dann trat er einen Schritt zurück und erklärte staunend, er hätte gedacht, Anzüge würden immer nur von erwachsenen Männern getragen, und überhaupt hätte er, außer dem französischen Dorfverwalter während des Kriegs, ja noch nie jemanden gesehen, der so gekleidet gewesen wäre, einen Araber sowieso noch nicht, geschweige denn ein arabisches Kind. Ein Jugendlicher entgegnete ihm, dass wir vermutlich Bürgersöhnchen seien. Ohne den Blick von uns zu lösen, kehrte der andere an seinen Platz zurück, außer Stande, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Kinder reicher Leute so tief fallen konnten. Sergent Kerzaz verabschiedete sich von uns, versprach aber, am nächsten Tag wiederzukommen. Verdutzt sahen wir ihm nach, wie er sich entfernte. Kaum war er hinter der Mauer verschwunden, ließ mein Cousin sich zu Boden fallen und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Dann begann er, fürchterlich zu schluchzen und nach seiner Mama zu rufen. Ich brachte es nicht fertig, mich zu ihm zu setzen oder mit ihm zu reden. Mir war selber so schwer ums Herz. Um ihn konnte ich mich nicht auch noch kümmern …

Von fern ertönte ein Pfiff. Kurz darauf erschien ein Junge in Uniform und kündigte an, dass es Zeit zum Abendessen sei. Die neuen Rekruten setzten sich in Trab.

»Geh doch mit«, riet ich Kader.

»Und du?«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Soll ich dir ein Stück Brot mitbringen?«

»Nicht nötig.«

Kader fragte nicht länger und lief schnell hinter den anderen her.

Ich blieb allein zurück. Die Sonne ging bereits unter, so verstohlen, als sei sie nun ihrerseits darauf aus, mich im Stich zu lassen. Ich setzte mich auf einen Steinquader, mit dem Rücken zur Esplanade und dem Geklapper der Gabeln, das alsbald vom Speisesaal erscholl. Meine Schultern sackten zusammen, lasteten bleischwer auf meinem ganzen Sein. Es fühlte sich an, als würde meine Seele erstarren. Langsam, um Hunger und Schwindel, die übermächtig wurden, zu dämpfen, drückte ich meine beiden Fäuste in die Magenhöhle und blickte der Nacht ins Auge …

Ein Jahr zuvor hatte mein Vater uns eine Kur in Bouhanifia spendiert, einem Badeort, nur wenige Kilometer von Mascara entfernt. Morgens bin ich immer an den Fluss hinunter, um den Urlaubern beim Schwimmen zuzusehen. Wie junge Götter bauten sie sich oben auf dem Felsen auf, stießen wilde Schlachtrufe aus und sprangen in die Tiefe. Ich war fasziniert von den fantastischen Sprüngen der waghalsigen Taucher. Und eines Abends, als ich am menschenleeren Gestade so vor mich hin träumte, näherte sich mir ein Mann. So um die dreißig mochte er sein und machte einen freundlichen, wohlwollenden Eindruck. Er deutete auf einen Baum, der weit über den Fluss ragte, und forderte mich auf, ihm zu zeigen, ob ich Mumm in den Knochen hätte. Ich könne doch gar nicht schwimmen, hatte ich erwidert, aber er versprach mir, er würde schon aufpassen, dass mir nichts passierte. Weil er nicht locker ließ, bin ich zuletzt auf den Ast geklettert. Das träge Gegurgel der schlammigen Fluten drei Meter tief unter mir machte mir schreckliche Angst, doch das herzliche Lächeln des Fremden war am Ende stärker. Ich schloss die Augen und sprang. Als ich nach einigem verzweifelten Herumgeplansche noch immer keinen sah, der mir zu Hilfe kam, geriet ich in Panik. Der Mann aber blieb ungerührt auf der Böschung sitzen, die Arme lässig um die Knie geschlungen; er lächelte und sah gelassen zu, wie ich am Ertrinken war. Nie werde ich sein fröhliches Gesicht vergessen, den amüsierten Ausdruck in seinen Augen angesichts meiner Not. Je verängstigter meine Schreie wurden, desto deutlicher prägte sich sein Lächeln aus. Ich hatte begriffen, dass er mir nicht helfen würde. Schon schloss sich das Wasser um mich zusammen, riss ein schwindelerregender Strudel mich fort. In dem Moment, in dem klar war, dass ich untergehen würde, stand der Mann auf und ging den Hügel hinauf, als wäre nichts passiert. Meinem Cousin Homaïna, der rein zufällig des Weges kam und meine Schreie gehört hatte, blieb gerade noch Zeit, nach meiner Hand zu greifen.

Als die Nacht mir am Ende dieses ersten Tages in der Kadettenanstalt ihre schwarze Kutte überwarf, fiel mir dieser Fluss wieder ein, der mich verschlingen wollte, und ich fühlte mich einsamer denn je. Erneut überschwemmte mich dieses Gefühl blanker Panik; ich spürte, wie ich tiefer und tiefer sank, dem Tode immer näher …

Ein Soldat blies zum Zapfenstreich. Jeder einzelne gellende Hornstoß durchfuhr mich, als wär’s ein Dolch.

»Bleib bloß nicht hier, Kleiner«, ermahnte er mich, während er sich sein Instrument schon wieder unter den Arm klemmte. »Lauf zu deinen Kameraden in den Schlafsaal und deck dich gut zu. Die Nacht wird frisch.«

Ich teilte den Schlafsaal mit etwa zwanzig anderen Jungen. Alle waren sie Überlebende von Massakern, und alle hatten sie einen unruhigen Schlaf. Kaum eingeschlummert, wurden sie von ihren Albträumen eingeholt. Manche weinten, die geballten Fäuste gegen den Mund gepresst, andere brüllten sekundenlang wie am Spieß und fielen gleich darauf zurück in den Tiefschlaf. Aber nicht das hielt mich wach. Ich musste an meine Mutter und meine Geschwister denken, an mein Viertel und den Händler an der Straßenecke, an meinen Hund Rex und die mir vertrauten Geräusche, und an mein geliebtes Versteckspiel. Stundenlang starrte ich zum Fenster hinaus. Draußen der Himmel war sternenübersät. Durchs Geäst tropfte Mondlicht und machte mir weis, der Baum sei verschnupft …

»Ich hasse es, mich zu wiederholen! Wenn ich ›Alle Mann aufstehen!‹ brülle, steht alles am Fußende der Betten stramm, bevor ich den Mund wieder zuklappen kann!«

Es gab ein gewaltiges Erdbeben. Ich merkte gerade noch, wie eine Druckwelle mich durch die Luft schleuderte. Über mir die Decke begann sich zu drehen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Gesicht auf den Fliesen, halb betäubt, und unter meiner Matratze begraben. Vor meiner Nase ragte ein Paar Kampfstiefel grotesk in die Höhe. Darüber tauchte das wutverzerrte Gesicht eines Soldaten auf:

»Du glaubst wohl, du sitzt noch immer bei deiner Mami auf dem Schoß, du Milchgesicht? Holla, raus da mit dir, wenn du nicht willst, dass ich dir meine Treter in den Hintern schiebe.«

Während er sich noch aufrichtete, machte er schon die nächsten Kadetten zur Schnecke, dann fegte er wie ein Orkan zur Tür hinaus. Mein Cousin kam mir zu Hilfe. Er schob das Metallbett, das mich regelrecht erdrückte, zur Seite, zog die Matratze weg und half mir unter den »Trümmern« hervor. Ringsherum die Kameraden legten schon letzte Hand an ihre picobello festgezurrten Decken an und wirkten völlig unbeteiligt.

»Was war denn los?«, fragte ich Kader.

»Der Soldat hat dein Bett umgeworfen.«

»Das ist ein ganz fieser Kerl«, erklärte mir ein fülliger Junge. »Wenn der in die Hände klatscht, darf keiner auch nur eine Sekunde länger im Bett rumtrödeln. Wer nicht auf der Stelle aus den Federn kommt, der kann sein blaues Wunder erleben.«

»Das wusste ich nicht.«

»Na, jetzt weißt du es. An deiner Stelle würde ich mich lieber schnell in die Klamotten werfen, statt Fragen zu stellen. In fünf Minuten heißt es ›Antreten zum Appell!‹«

Draußen war es noch stockdunkel, als das Horn zum Sammeln blies. Die Kadetten rasten zu den Treppen, stürzten die Stufen hinunter und liefen los, um sich in Reih und Glied im Hof aufzustellen, wo die Ausbilder schon gestiefelt und gespornt auf sie warteten. Da ich nicht wusste, wohin, suchte ich mir einen Platz in einem der Trupps. Doch nicht lange, da schubsten mich Ellenbogen von allen Seiten aus der geschlossenen Formation. Ich merkte, jeder hatte seinen festen Platz und keiner war bereit, ihn zu räumen. Schließlich entdeckte mich ein Korporal. Mit dem Zeigefinger dirigierte er mich zu einer Ecke hin, in der mein Cousin und ein Dutzend neuer Rekruten sich zu mir gesellten. Schon donnerten die Befehle los: »Achtung! Rührt euch! Stillgestanden! … Schluss mit dem Gehampel. Du da, Nummer 53, hör auf herumzuzappeln, sonst zieh ich dir mein Koppelschloss über! Anwesenheitskontrolle …« Die Ausbilder zählten ihre Reihen durch, richteten hier einen Nacken auf, stauchten dort einen Widerspenstigen zusammen, und brüllten dann der Reihe nach: »Erste Klasse, vollständig angetreten …! Zweite Klasse, vollständig angetreten …! Dritte Klasse, vollständig angetreten …! Vierte Klasse, vollständig angetreten …! Fünfte Klasse, vollständig angetreten!« Nicht einer fehlte, der Hauptfeldwebel klatschte einmal kurz in die Hände, da begannen die Trupps, auf der Stelle zu springen, die Knie bis zur Brust hochgerissen; danach hasteten sie reihenweise im Gänsemarsch in den Speisesaal, wo sie sich Butterbrote und dampfenden Kaffee einverleibten, bevor ich auch nur begriffen hatte, wo innerhalb des ganzen Gewusels ich mich eigentlich befand.

Nach dem Frühstück begleitete Sergent Kerzaz mich mit meinem kleinen Cousin in ein Rattenloch, das zum Frisiersalon umfunktioniert worden war. Ein Barbier in zerknitterter Schürze ließ mich auf einem Frisierstuhl vor einem völlig verstaubten Spiegel Platz nehmen und machte sich daran, mich vom Nacken bis zur Stirn kahl zu scheren, wobei er eine alte andalusische Melodie zu trällern begann. Sein zischender Akzent und sein marmorblasser Teint wiesen ihn als gebürtigen Tlemcener aus, der so emotionslos zu Werke ging wie ein Hirte, der ein Schaf schert. Aus seinem grau melierten Schopf kringelte sich seltsam geckenhaft eine Strähne, sein Profil war hager, sein Mund durch gelbverfärbte Zähne entstellt, durch die ein übel riechender Atem entwich. Für sein Schergerät schien er dieselbe Leidenschaft zu hegen wie der Bildhauer für seinen Meißel; alles andere – sein eigenes Ungeschick, mein Stöhnen, das die prompte Antwort darauf war – berührte ihn kaum. Doch wenn ich zusammenzuckte, das erboste ihn. Jedes Mal, wenn ein schmerzhafter Schnitt mich unwillkürlich zur Seite ausweichen ließ, hielt er mit einer gewollt kräftigen, autoritären Ohrfeige dagegen. Es lag auf der Hand, dass er Kinder unerträglich fand. Nach einem energischen Hin und Her sah mein Schädel schnell wie ein glatt geschliffener Kieselstein aus. Ich erkannte mich nicht wieder. Das war nicht mehr mein Kopf. Der Frisör band mir den Umhang ab, ohne sich die Mühe zu machen, die Haarkringel von meinen Schultern zu bürsten, zerrte mich vom Stuhl und wies Kader an, dort Platz zu nehmen. Mein Cousin blieb wie festgewachsen auf der Bank sitzen, vom Anblick meiner Glatze verschreckt. Er wehrte zunächst mit beiden Händen ab, dann klammerte er sich an seinen Sitz und versuchte, dem Arm des Sergenten zu widerstehen. Der Frisör packte ihn resolut beim Schlafittchen und beförderte ihn wie ein Stück Gepäck in den Sessel, während er mit der anderen Hand auch schon begann, ihm die Schläfen abzuschaben. Als wir den Salon verließen, blickten wir einander betrübt ins Gesicht, dann brach Kader in Tränen, ich in lautes Gelächter aus. Wie zwei Miniatursträflinge auf dem Weg ins Zuchthaus sahen wir aus. Sergent Kerzaz hielt es offenbar nicht für nötig, uns zu trösten. In den Tiefen seiner Pupillen glomm wohl ein Funke Mitleid für uns, doch er gab es nicht zu. Er hatte keine Kinder und vermutlich auch keine Ahnung, wie mit ihnen umzugehen sei. Schließlich wischte mein Cousin sich die Tränen ab und fuhr sich, anfangs ganz ängstlich, mit der Hand über die Kopfhaut, wo er bloß noch eine mit winzigen Piekshärchen gespickte Kugel vorfand. Ich grinste ihn an, versuchsweise, um ihn aufzuheitern. Erst verzog er nur das Gesicht, dann brach er zu meiner großen Erleichterung selbst in lautes Lachen aus und warf den Kopf in den Nacken, mit dem Finger auf den Bimsstein zeigend, der meinen Hals zierte. »Wie ein Dschinn siehst du aus!«, prustete er los. »Du auch«, revanchierte ich mich. Dann marschierten wir Hand in Hand hinter dem Sergenten her in den Duschraum, um nunmehr vermutlich all das loszuwerden, was zwei Tage zuvor noch Kinder wie alle anderen aus uns gemacht hatte.

Am Nachmittag rief man uns mit den neuen Rekruten in einem kleinen Hof zusammen. Dort trug man unsere Namen und Vornamen in ein Register ein, reihte uns der Größe nach auf, die Kleinen voran, und dann – wurden wir durchnummeriert.

»Von heute an nennt ihr eure Matrikelnummer, wenn man euch fragt, wer ihr seid«, erklärte uns ein Feldwebel, ein baumlanger Kerl mit Goldzähnen, der fortwährend die Kordel seiner Trillerpfeife knetete, während er uns argwöhnisch überwachte. »Keine Familiennamen und keine Spitznamen mehr. Keine Kungeleien und keine Extrawürste! Ab sofort seid ihr Soldaten und benehmt euch wie Soldaten. Viele von euch haben keine Familie, kein Heim und keine Stütze mehr. Die sind nun ihre Sorgen los. Von ihren Ausbildern bekommen sie alles, was der Krieg ihnen genommen hat. Die Armee wird darüber wachen, dass es ihnen an nichts fehlt. Und das gilt ganz genauso für die anderen. Ihr seid hier alle gleich, egal ob arm oder reich, Beduine oder Städter, Waisenkind oder Soldatensohn. Hier wird niemand auf Kosten seiner Kameraden bevorzugt. Dafür verlangen wir von euch Disziplin, exemplarischen Gehorsam und unverbrüchliche Aufrichtigkeit. Wir bilden hier Männer aus, tapfere Männer, die der algerischen Nation würdig sind, dieser Nation mit ihren anderthalb Millionen Märtyrern, die erst dann in Frieden ruhen werden, wenn wir ihnen bewiesen haben, dass ihr Opfer nicht vergebens war, sondern reiche Frucht trägt.«

Aus meinem Cousin wurde Matrikelnummer 122, aus mir die 129.

Zwei Tage später bekamen wir einen flaschengrünen Uniformrock, ein Barett, Trikots, Kampfstiefel für die großen und Kautschuksandalen für die kleineren Füße zugeteilt. Als wir uns vor einem Wandspiegel in Augenschein nahmen, entdeckten wir allerliebste kleine Bleisoldaten, die sich darin übten, lauthals ihre Identifikationsnummer zu skandieren, während sie in tadellosem militärischem Gruß die Hand an die Schläfe führten. Wir waren Nummer 19, Nummer 43, Nummer 72, Nummer 120 und sonst nichts. Wir hatten aufgehört, für uns selbst zu existieren. Wir waren zu Kadetten geworden – zu den Adoptivkindern der Revolution und der Armee.

Der Schreiber von Koléa

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