Читать книгу Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi - Yasmina Khadra - Страница 6

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Ich gehe zu meinen Getreuen ins Erdgeschoss hinunter.

General Abu Bakr Yunis Jaber, mein Verteidigungsminister, blickt so düster drein wie eine Fahne auf Halbmast.

Noch vorige Woche hatte er mit der Faust auf den Tisch gehauen und geschworen, dass wir die Situation zu unseren Gunsten wenden und die wilden Horden im Handumdrehen davonjagen würden. Auf der Generalstabskarte zeigte er die strategischen Schwachstellen des Gegners auf, sprach von den internen Zerwürfnissen, die die Allianz der Verräter unterminierten, lobte die Tausenden von Patrioten, die in hellen Scharen zu uns stießen, die großartigen Gefechte, die sie nonstop führten und die die Festungswälle unserer letzten Bastion sicherten.

Mein Sohn Mutassim hörte ihm zu und nickte zustimmend, mit entschlossenen Fäusten und wildem Blick.

Ich hörte nur mit einem Ohr hin, mit dem anderen lauschte ich auf die Geräusche, die aus der Stadt heraufdrangen.

Der Enthusiasmus des Generals sollte rasch einen Dämpfer erfahren und wachsender Verunsicherung weichen. Manche meiner Offiziere sind desertiert, andere wurden gefangen genommen und öffentlich gelyncht. Ihre Köpfe wurden auf Lanzen aufgespießt, ihre Körper an die Anhängerkupplungen der Pick-ups gehängt und durch die Straßen geschleift. Einige habe ich gesehen, die man wie düstere Trophäen auf den Mauern der Stadt zur Schau stellte.

Seit drei Tagen schweigt Abu Bakr, während die Rebellen im Distrikt gegenüber uns das Leben schwer machen. Sein Gesicht wirkt wie eine Kugel aus Pappmaché. Er verweigert die Nahrungsaufnahme, sitzt schmollend in seiner Ecke und ist außerstande, seine Leutnants zur Ordnung zu rufen, er, dessen Gebrüll für gewöhnlich lauter als Kanonendonner tönte.

Ich weiß nicht, warum es ihm trotz seiner Ergebenheit nie so recht gelang, mich hundertprozentig von seiner Zuverlässigkeit zu überzeugen. Er war mit mir an der Militärakademie von Bengasi, noch dazu im selben Examensjahrgang, stand mir 1969 beim Staatsstreich zur Seite und gehörte zu den zwölf Mitgliedern des Revolutionsrats. Kein einziges Mal hat er mich enttäuscht, geschweige denn betrogen, und doch genügt ein Blick in seine Augen, um in ihm nichts als den armen Teufel zu sehen, das verschreckte Haustier, dem meine Protektion mehr bedeutet als sämtliche Privilegien, die ich ihm je zugestanden habe.

Abu Bakr fürchtet mich wie einen bösen Fluch, wohl wissend, dass ich ihn beim leisesten Verdacht ohne jeden Skrupel liquidieren würde – nicht anders, als ich es seinerzeit mit meinen einstigen Waffenbrüdern und all jenen, die an meiner Legende gestrickt hatten, machte, als sie anfingen, insgeheim an meiner Legitimität zu zweifeln.

»Woran denkst du, General?«

Er hat Mühe, sein Kinn zu heben.

»An nichts.«

»Bist du sicher?«

Er rutscht auf seinem Sitz herum, ohne zu antworten.

»Willst du dich auch aus dem Staub machen?«, fahre ich ihn an.

»Der Gedanke wäre mir im Traum nicht gekommen.«

»Weil dir tatsächlich mal Gedanken kommen?«

Er runzelt die Stirn.

»Entspann dich, Mann«, beruhige ich ihn. »War nur ein Scherz.«

Ich würde gern die Atmosphäre auflockern, aber es klappt nicht so recht. Wenn ich mal einen Spaß machen will, denkt alle Welt, es sei mir todernst. Allen voran der General. Ein Führer hat keinen Humor. Seine Anspielungen sind Anweisungen, seine Anekdoten Warnungen.

»Glauben Sie, ich sei imstande, mich davonzustehlen, Rais?«1

»Wer weiß?«

»Und wohin sollte ich gehen?«, murmelt er verärgert.

»Zum Feind. Viele meiner Minister haben sich schon freiwillig gestellt. Mussa Kussa, den ich an die Spitze des Außenministeriums gehievt habe, hat die Engländer um politisches Asyl gebeten. Und Abdel Rahman Shalgham, mein Aushängeschild, ist zu meinem eingeschworenen Verräter geworden: Emissär bei der UNO, mandatiert von den Verrätern und Söldnern ...«2

»Ich habe diesen Typen schon immer misstraut. Das waren immer nur Profiteure, die die eigene Mutter gegen jedes noch so winzige Privileg eingetauscht hätten. Ich aber liebe Sie mit jeder Faser meines Wesens. Ich werde Sie niemals im Stich lassen.«

»Und warum lässt du mich dann allein oben im ersten Stock?«

»Sie waren ins Gebet vertieft. Ich wollte Sie nicht stören.«

Ich hege keinerlei Misstrauen gegenüber Abu Bakr. Nichts kommt seiner Loyalität zu mir gleich, allenfalls sein Aberglauben. Ich weiß, dass er früher regelmäßig Kartenleserinnen befragte, um sicherzugehen, dass mein Vertrauen zu ihm noch intakt war.

Ich habe ihn aus reiner Verärgerung so angefahren.

Es hat mir nicht gefallen, dass er in meiner Gegenwart einfach sitzen blieb.

Normalerweise schlug er schon die Hacken zusammen, wenn er nur meine Stimme am Telefon erkannte, und brach in Angstschweiß aus, wenn ich ihm den Hörer hinknallte.

Dieser verfluchte Krieg! Er wirft nicht nur alle guten Sitten über den Haufen, er lässt sie mitunter belanglos erscheinen. Wenn ich beschlossen habe, über die schlechten Manieren des Generals hinwegzusehen, dann nur, weil ich in diesen Zeiten massiver Fahnenflucht einfach jemanden brauche, der mir sagt, dass er mich niemals im Stich lassen wird.

»Was ist das für ein blauer Fleck, den du da auf der Backe hast?«

»Keine Ahnung. Kann sein, dass ich mich an einer Wand gestoßen habe oder am Bettgestell. Ich erinnere mich nicht.«

»Zeig mal her.«

Er hält mir die ramponierte Seite seines Gesichtes hin.

»Das sieht nach etwas Ernstem aus. Du solltest einen Arzt zu Rate ziehen.«

»Nicht nötig«, erwidert er, während er sich die Wange massiert. »Außerdem tut es nicht weh.«

»Hast du Nachricht von Mutassim?«

Er schüttelt den Kopf.

»Wo steckt Mansur?«

»Ruht sich im Hinterzimmer aus.«

Ich gebe einem Soldaten Zeichen, den Kommandanten meiner Volksgarde zu holen.

Mansur Dao kommt in einem jämmerlichen Zustand zur Tür hereingewankt, in schludriger Kleidung, mit wildem Bartwuchs und struppigem Haar. Er hält sich nur mit Mühe aufrecht, grinst mir vage zu und sucht sogleich wieder Halt an der nächsten Wand. Er hat seit Tagen und Nächten kein Auge zugetan. Sein leerer Blick ist abgrundtief finster.

»Hast du geschlafen?«

»Wenn ich wenigstens mal für zwei Minuten einnicken könnte, Rais.«

»Weil du glaubst, dass du wach bist?«

Er bemüht sich um ein Mindestmaß an Haltung, vergeblich.

Sein Hemd ist nur noch ein Lappen; seine Hose, viel zu groß für ihn, schlottert ihm um die Beine. Mir fällt auf, dass er seinen Gürtel um etliche Löcher enger geschnallt hat.

Ich packe ihn bei den Schultern, warte, dass er den Kopf hebt, sehe ihm in die Augen.

»Lass dich nicht gehen, Mansur«, ermahne ich ihn. »Wir schaffen das, wir kommen hier heil heraus, das verspreche ich dir.«

Er nickt.

»Was war das für eine Bombe vorhin?«

Er zuckt die Achseln. Am liebsten würde ich ihm eine schallende Ohrfeige versetzen.

Abu Bakr blickt zu uns herüber. Er hat begriffen, dass die Haltung des Kommandanten der Volksgarde mir ebenso unerträglich ist wie das Geschützfeuer, das aus der Ferne herüberhallt.

»Gibt es Neues von Mutassim?«

Mansur schüttelt den Kopf, das Rückgrat bis zum Anschlag durchgedrückt.

»Und von Saif?«

»Er zieht seine Truppen im Süden zusammen«, erwidert an seiner Stelle der General. »Vermutlich bei Sebha. Nach unseren Informationen wird er in Kürze eine breite Gegenoffensive starten.«

Mein tapferer Sohn Saif al-Islam! Wäre er an meiner Seite, er hätte mich längst für all die bedrückten Mienen um mich herum entschädigt. Er hat mein Durchhaltevermögen und mein Draufgängertum geerbt und die unverbrüchliche Treue zum einmal geleisteten Eid. Um ihn mache ich mir offen gestanden die wenigsten Sorgen. Er ist gewitzt und ohne Furcht, und wenn er etwas verspricht, dann hält er Wort, das ist Ehrensache für ihn. Er hat mir versprochen, meine durch die Luftangriffe der NATO zersprengte Armee neu zu organisieren und dem hunnenhaften Vorwärtspreschen der Rebellen einen entscheidenden Gegenstoß zu verpassen. Saif hat Charisma. Er ist ein großer Menschenführer. Aus denen, die sich verkauft haben, würde er im Handumdrehen Hackfleisch machen.

Ein Leutnant erscheint zum Rapport. Sein Aufzug lässt zu wünschen übrig, aber sein Eifer ist intakt. Er wendet sich an den Verteidigungsminister:

»Unsere Späher melden, dass sich die feindlichen Infanteristen und Spähtrupps auf dem Rückzug befinden, Herr General.«

»Sie sind nicht auf dem Rückzug«, widerspricht Mansur genervt. »Sie bringen sich in Sicherheit.«

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Sie haben heute Nachmittag begonnen, ihre Vorposten zu räumen. Um uns zu isolieren. Ich denke, dass wir bald mit einem massiven Bombardement rechnen müssen.«

Ich verlange nähere Erklärungen.

Mansur bittet den Leutnant, sich zurückzuziehen, und wartet, bis wir drei wieder allein im Raum sind, bevor er uns anvertraut:

»Mein Funker hat verschlüsselte Nachrichten aufgefangen. Alles deutet darauf hin, dass die alliierte Luftwaffe den 2. Distrikt unter Beschuss nimmt. Der hastige Rückzug dieser Rebellenhunde bestätigt diese Möglichkeit.«

»Wo ist Mutassim?«

»Aufgebrochen, um Fahrzeuge zu requirieren«, erklärt Abu Bakr, während er sich erhebt. »Wir können uns nicht länger hier verschanzen und auf einen Knalleffekt warten, der uns befreit. Wir haben zu wenig Lebensmittel, zu wenig Munition und nicht genug Handlungsspielraum. Unsere Einheiten sind aufgerieben. Sirte ist quasi umzingelt und der Ring um die Stadt zieht sich von Stunde zu Stunde enger zusammen.«

»Ich dachte, Mutassim sei damit beschäftigt, seine Garnisonen zu verstärken. Was soll dieser plötzliche Sinneswandel?«

»Es war doch Ihre Idee, die Belagerung zu durchbrechen.«

»Nanu, habe ich plötzlich Gedächtnislücken?«

Bestürzt ob meiner Vergesslichkeit runzelt der General die Stirn, dann wird er deutlicher:

»Es wird keine Verstärkung geben, Rais.«

»Und warum nicht?«

»Saif al-Islam ist zu weit im Süden. Wir müssen so schnell wie möglich aus Sirte raus. Nur so haben wir eine Chance, nach Sebha durchzukommen, das von den Aufständischen komplett geräumt wurde, um uns neu zu organisieren und mit Saifs Unterstützung Misrata einzuschließen. Die Stämme im Süden sind uns treu geblieben. Sie werden die Logistik übernehmen.«

»Seit wann hast du deine Pläne geändert, General?«

»Seit heute Morgen.«

»Ohne dass ich davon erfahre?«

Der General reißt die Augen auf, wiederum verblüfft ob meiner Frage:

»Aber, Rais, wenn ich es Ihnen doch sage, dass Sie selbst es waren, der unseren Abzug aus Sirte vorgeschlagen hat.«

Ich erinnere mich nicht, ein derart gefahrvolles Manöver vorgeschlagen zu haben, aber um nicht das Gesicht zu verlieren, begnüge ich mich damit, zu nicken.

Mansur geht in die Hocke, eine Hand am Boden, die andere gegen seine Stirn gepresst. Es sieht aus, als würde er sich jeden Moment übergeben.

»Oberst Mutassim verfügt noch über zuverlässige Männer in diesem Sektor«, versucht der General mich umzustimmen. »Er wird einen großen Konvoi zusammenstellen, und um Punkt 4 Uhr werden wir versuchen, die gegnerische Aufstellung zu durchbrechen. Der Rückzug der Rebellen kommt wie gerufen. Dadurch haben wir zumindest ein wenig Spielraum. Die Milizen haben ihre Straßensperren an den Punkten 42, 43 und 29 geräumt. Wahrscheinlich, um sich in Sicherheit zu bringen, wenn man unserem Funker glauben darf. Wir werden uns in Richtung Süden bewegen. Wenn es Mutassim gelingt, vierzig oder fünfzig Fahrzeuge aufzutreiben, haben wir eine reelle Chance durchzukommen. Sollte es zu Gefechten kommen, werden wir uns in alle Richtungen zerstreuen. In der Stadt herrscht das blanke Chaos. Niemand weiß, wer wen kommandiert. Wir werden uns die Konfusion zunutze machen, um aus Sirte herauszukommen.«

»Und warum nicht jetzt gleich?«, frage ich. »Bevor die alliierte Luftwaffe auf uns eindrischt?«

»Weil Oberst Mutassim noch mehrere Stunden braucht, bis er die nötige Anzahl von Fahrzeugen zusammen hat«, erklärt Abu Bakr.

»Steht ihr in Kontakt mit ihm?«

»Nicht über Funk. Wir haben Kuriere.«

»Wo genau befindet er sich jetzt?«

»Wir warten auf die Rückkehr unserer Spähtrupps, um das zu erfahren.«

Mansur lässt sich an der Wand entlang zu Boden gleiten, bis er vollends auf der Erde sitzt.

»Ein wenig Haltung, wenn ich bitten darf!«, herrsche ich ihn an. »Glaubst du, du bist hier im Patio deiner Mutter?«

»Ich habe eine grässliche Migräne.«

»Na und? Du musst dich fangen, und zwar schnell.«

Mühsam rappelt Mansur sich wieder auf. Seine tiefen Wangenfurchen verleihen seinem Blick den tranceartigen Ausdruck eines mit dem Tod ringenden Tieres. Abu Bakr schiebt ihm einen Stuhl hin. Mansur lehnt ab.

»Glaubst du wirklich, dass sie uns bombardieren werden?«, frage ich ihn.

»Das ist offensichtlich.«

»Vielleicht ist es auch nur ein Ablenkungsmanöver«, bemerkt Abu Bakr, aber sehr viel mehr, um mit mir einer Meinung zu sein, als aus Überzeugung.

»Dann würden sie ihre Infanteristen aber nicht veranlassen, die vorgeschobenen Posten zu räumen.«

»Glaubst du, sie wissen, wo wir sind?«

»Niemand weiß, wo Sie sich aufhalten, Rais. Sie schlagen auf gut Glück zu und warten, dass wir uns verraten.«

»Nun gut«, erwidere ich. »Dann gehe ich wieder nach oben und ruhe mich aus. Sagt mir Bescheid, wenn es Neues gibt.«

Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi

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