Читать книгу Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi - Yasmina Khadra - Страница 8

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Ich höre, wie sich ein Wagen nähert.

Ist das mein Sohn Mutassim, der mit dem Konvoi zurückkommt?

Ich laufe hinaus auf den Korridor, stürze die Treppe hinunter.

Kein Mensch im Erdgeschoss. Schritte hasten zum Notausgang des Anwesens.

Im Hof steht knatternd ein als Privatwagen getarntes Fahrzeug. Endlich stellt jemand den Motor aus. Es ist ein Pick-up, in einem erbärmlichen Zustand: zersplitterte Windschutzscheibe, pulverisierte Scheiben, die Karosserie zersiebt, ein Reifen geplatzt, ein Rad quasi auf der Felge mit seitlich herabhängenden Gummifetzen.

Der Fahrer ist über dem Lenkrad zusammengesunken. Er öffnet den Wagenschlag, setzt mühsam einen Fuß ins Freie, lässt den anderen im Auto. Soldaten ziehen zwei Leichen vom Rücksitz herunter. Bei der einen ist der Schädel zertrümmert, bei der anderen sind die Augen verdreht und der Mund klafft weit auf. Auf dem Beifahrersitz stöhnt ein Mann.

Abu Bakr nähert sich dem Fahrzeug, Mansur im Schlepptau.

»Wo kommen die denn her?«

»Das ist der Spähtrupp, Herr General«, antwortet ihm ein Hauptmann.

»Trupp? Ich sehe nur ein Fahrzeug.«

»Die beiden anderen sind unter Raketenbeschuss geraten«, ächzt der Fahrer mit ersterbender Stimme. »Kein Überlebender.«

»Wie das, kein Überlebender?«, donnert Mansur. »Mach erst mal die Scheinwerfer aus, Blödmann! Glaubst du, du bist hier auf den Champs-Elysées?«

Der Fahrer schaltet die Lichter aus. Seine Bewegungen sind langsam und schwerfällig.

»Und Oberst Mutassim?«, frage ich ihn.

»Hat Punkt 34 überquert.«

»Hast du gesehen, wie er die feindlichen Linien durchbrochen hat?«

»Ja, Herr Präsident«, keucht der Fahrer, kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. »Wir haben ihn bis zur Distriktsgrenze eskortiert und ihm Deckung gegeben, als die Rebellen ihn stoppen wollten.«

»Nimm gefälligst Haltung an, wenn du mit deinem Präsidenten sprichst!«, herrsche ich ihn an.

Es fehlt nicht viel, und der Fahrer bricht ganz über dem Lenkrad zusammen. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte hebt er den Hals etwas an und stöhnt: »Ich kann mich nicht auf den Beinen halten, Herr Präsident. Ich habe zwei Kugeln in der Achselhöhle und einen Eisensplitter in der Wade.«

Mansur weist zwei Soldaten an, den Verletzten vom Beifahrersitz zu bergen.

»Was ist passiert?«, fragt Abu Bakr.

Der Fahrer windet sich, holt tief Luft und stößt dann in einem Atemzug hervor, als fürchte er, ihm könnten noch vor Ende seines Berichts die Sinne schwinden:

»Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass Oberst Mutassim außer Gefahr ist, hat der Unteroffizier zwischen Punkt 34 und 56 den Durchstoß in das gegnerische Gebiet versucht, um den aktuellen Frontverlauf zu bestimmen. Wir sind gut vier Kilometer in den von den Rebellen kontrollierten Sektor vorgedrungen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Bei der Rückfahrt gerieten wir dann in einen Hinterhalt. Infanteristen haben uns mit Raketenwerfern attackiert. Die beiden anderen Fahrzeuge sind explodiert. Keine Ahnung, wie ich es zurück geschafft habe.«

»Warum bist du überhaupt nach hier zurückgekehrt?«, schreie ich ihn an. »Und noch dazu, ohne deine Scheinwerfer zu löschen! Der Feind hat dich garantiert verfolgt. Jetzt kennt er unseren Standort, und alles nur wegen deiner Blödheit.«

Bestürzt antwortet der Fahrer:

»Aber wohin hätte ich denn gehen sollen, mit drei Verwundeten an Bord?«

»Zum Teufel, du Idiot! Es geht nicht an, dass du das Hauptquartier in Gefahr bringst. Ich warne dich, wenn wir jetzt auffliegen, lass ich dich erschießen.«

Der Hauptmann hilft dem Fahrer aus dem Wagen, legt einen Arm um seine Taille und schleift ihn zur Krankenstation.

Die anderen Soldaten bleiben reglos vor dem Pick-up stehen, starr wie Holzskulpturen.

Mansur Dao sitzt bang grübelnd im Sessel und mustert seine Fingernägel. Ab und zu verfällt er in Selbstgespräche und macht huschende Bewegungen wie ein Geisteskranker. Es ist nicht zum Aushalten, ihn förmlich dahinschwinden zu sehen. Da ist kein Unterschied zwischen dem, der sich dem Feind ans Messer liefert, und dem, der sich weigert zu kämpfen. Ich würde sogar sagen, der eine hat wenigstens noch den Mut, sich zu seiner Feigheit zu bekennen, während der andere überhaupt keinen Schneid mehr hat.

Mansur, dieser abgehalfterte Kerl, dieses willenlos dahintreibende Wrack, widert mich an. Für mich gehört er zum Abschaum der Menschheit.

Im Nebenraum, der uns für Krisensitzungen dient, studiert General Abu Bakr Yunis eine Generalstabskarte. Große Schweißflecken zeichnen sich auf seinem Hemd und unter seinen Achseln ab. Ich bin mir sicher, dass er nur eine Rolle simuliert, die er längst nicht mehr meistert. Von Zeit zu Zeit räuspert er sich, tut so, als würde er sich für ein Detail auf der Karte interessieren, beugt sich mit dem Gewicht seines ganzen Körpers über den Tisch, die Wange in die Hand gestützt, um mir zu zeigen, wie konzentriert er ist. Seinem Getue fehlt es an Glaubwürdigkeit, aber wenigstens bringt er mich nicht zur Weißglut.

Wir sind zu dritt im Raum und warten ungeduldig auf die Kuriere von Mutassim. So ganz ohne Nachricht vom Oberst lösen wir uns nachgerade auf. Mit jeder Minute, die verstreicht, werden wir uns selbst immer unähnlicher.

Meine Nerven liegen blank. Von der Welt abgeschnitten zu sein und ohnmächtig auf ein Lebenszeichen meines Sohnes zu warten, der quälend lange nichts von sich hören lässt, ist unerträglich. Mein Schicksal entscheidet sich – Kopf oder Zahl? – und die Münze schwebt weiter in der Luft, so scharfkantig wie ein Fallbeil.

Mansur hört endlich auf, seine Fingernägel zu beäugen. Er blickt nach rechts, blickt nach links, auf der Suche nach ich weiß nicht was, rutscht unruhig in seinem Sessel hin und her, scheint sich zu fragen, wo er eigentlich ist. Nachdem er sich orientiert hat, versinkt er aufs Neue im Sessel, umfasst seine Schläfen mit Daumen und Mittelfinger und schüttelt unmotiviert den Kopf.

Nach langem inneren Ringen wendet er sich dem General zu und erkundigt sich sarkastisch:

»Na, erkennst du etwas in deiner Kristallkugel?«

»Was für eine Kristallkugel?«, brummt der General, ohne sich umzudrehen.

»Deine Karte. Du hast sie seit einer halben Stunde in der Mangel, sie müsste schon längst alles ausgespuckt haben.«

»Ich bin dabei, die verschiedenen Möglichkeiten, uns in den Süden durchzuschlagen, zu studieren.«

»Ich dachte, die Route stünde seit heute Morgen fest. Wie auch immer, der Süden ist der einzige Ausweg, der uns noch bleibt.«

»Ja, aber die gegnerische Belagerungsposition wechselt von Stunde zu Stunde. Unseren Spähtrupps zufolge ...«

»Das nennst du Spähtrupps? Die zwei oder drei Patrouillen, die wir haben? Sie tappen im Dunkeln, wenn du meine Meinung hören willst.«

»Deine Meinung behalt besser für dich. Du wirst mir nicht beibringen, wie ich meine Arbeit zu machen habe.«

Mansur macht sich wieder daran, seine Fingernägel zu betrachten, die er noch nicht ganz abgenagt hat. Den Hals zwischen die Schultern eingezogen, murrt er:

»Wir hätten den Palast nie verlassen dürfen.«

»Ach, im Ernst?«, erwidert der General.

»Wir hatten es gut im Bunker. Wir hatten einen Schlafplatz und genug zu essen und waren in Sicherheit vor Luftangriffen und Artillerie-Beschuss. Sieh doch nur, wo wir jetzt sind. Ein einziger Hubschrauber würde genügen, uns mit Mann und Maus zu erledigen.«

Der General legt seinen Stift an der Tischkante ab. Er ahnt dunkel, dass der Chef der Volksgarde ihn provozieren will und vermeidet jegliche Konfrontation. Er war es, der die Idee gehabt hatte, den Palast zu verlassen. Er hat mich nicht groß überzeugen müssen – ich war ohnehin auch dieser Ansicht. Sämtliche Residenzen, die mir als mutmaßliches Versteck hätten dienen können, hatte die Luftwaffe der Alliierten ja schon dem Erdboden gleichgemacht, einschließlich der Wohnsitze meiner Familienmitglieder und meiner Kinder. Bei dieser grausigen Menschenjagd hat die NATO ja noch nicht mal gezögert, meine Enkelkinder gleich mit zu bombardieren und sie skrupellos, ohne das leiseste Bedauern, zu töten.

»Wie schnell hätten wir im Souterrain in der Falle sitzen können. Das war viel zu riskant«, wendet der General mit eisiger Ruhe ein.

»Glaubst du denn, hier sind wir außer Gefahr?«, beharrt Mansur.

»Hier finden sie uns wenigstens nicht. Außerdem haben wir hier einen größeren Manövrierspielraum, falls wir angegriffen werden sollten. Wenn wir im Keller des Palasts geblieben wären, hätten die Rebellen nur mit einem Presslufthammer oder Tunnelbagger ein Loch in den Stahlbeton bohren müssen. Dann hätten sie in aller Ruhe einen Schlauch in die Bresche einführen und einen Kompressor anschließen können, um uns zu vergasen.«

»Immer noch besser, als zerfetzt zu sterben, oder?«

Um ein Haar hätte ich mich auf den Chef meiner Volksgarde gestürzt und auf ihn eingedroschen, bis er platt am Boden läge. Aber ich bin erschöpft.

»Mansur«, mahne ich nur, »wenn man nichts zu sagen hat, hält man besser den Mund.«

»Der General ist überfordert ...«

»Mansur«, wiederhole ich mit dunkler Stimme, die die Wut, die in mir aufsteigt, verrät, »jazyk moj vrag moj,3 sagt das russische Sprichwort. Zwinge mich nicht, dir die deine mit einer Zange auszureißen.«

Plötzlich ertönt in der Ferne eine gewaltige Detonation.

Der General schnellt herum, aus seinem Gesicht ist alles Blut gewichen.

»Die Bombardierung der NATO hat begonnen!«

Mansur entfährt ein kleines höhnisches Lachen:

»Nur ruhig, mein Alter. Du bist voreilig.«

»Ach wirklich?«, erwidert der General erbost.

»Na weißt du«, stichelt der Chef der Volksgarde, »eine Bombenexplosion nicht von einer detonierenden Granate unterscheiden zu können, das ist schon ein bisschen schwach für einen General.«

Es juckt mich in den Fingern, nach der Waffe zu greifen und den Unverschämten auf der Stelle abzuknallen – aber seine leidenschaftslose Miene hält mich davon ab.

»Was ist es denn deiner Meinung nach?«, frage ich ihn.

Mansur antwortet derart unbeteiligt, dass ich jetzt wirklich bereue, meine Pistole oben im Schlafraum gelassen zu haben:

»Das ist nur Mutassim. Er sprengt das Munitionsdepot des Distrikts in die Luft, damit es nicht den Rebellen in die Hände fällt.«

»Wie kannst du das wissen?«, knurrt der Verteidigungsminister.

»Du selber, General, hast ihn doch mit dieser Operation betraut«, sagt Mansur verächtlich. »Ich nehme an, dass du dich in der Panik nicht mehr an die Befehle erinnerst, die du blindlings erteilst.«

»Halt die Klappe«, befehle ich dem Chef meiner Garde, einerseits verärgert über seine Haltung, andererseits erleichtert zu hören, dass es sich um falschen Alarm handelt. »Ich verbiete dir, es gegenüber meinem Minister an Respekt fehlen zu lassen. Während er von den Ereignissen überrollt wird und sich alle Mühe gibt nachzukommen, erschlägst du uns mit deinen Stimmungsschwankungen.«

»Aber ich verliere wenigstens nicht den Überblick. Aus den Rebellen sind Waffenschmuggler geworden. Sie verschachern unser Arsenal an AQMI4 und Konsorten. Nach den letzten Informationen sind die Revolutionsgeschwader, die wir jahrelang auf unserem Boden ausgebildet, beschützt, finanziert und ernährt haben, dabei, sich den Islamisten anzuschließen.«

»Übles Propagandageschwätz! Die Revolutionäre sind meine Kinder. Die Verräter machen doch regelrecht Jagd auf sie. Mein Sohn Saif al-Islam versucht, sie zurückzugewinnen, um eine gigantische Gegenoffensive zu starten, die in weniger als einer Woche diese Kasperarmee, die von den Kreuzfahrern nach Belieben manipuliert wird, hinwegfegen könnte.«

Mansur macht eine wegwerfende Handbewegung, während er aufsteht und mit verstockter, mürrischer Miene den Raum verlässt.

»Du darfst ihm das nicht verübeln«, erklärt mir Abu Bakr. »Er ist deprimiert.«

»Ich kann es nicht leiden, wenn man in meiner Gegenwart deprimiert ist. Eine Viertelstunde im selben Raum mit diesem Defätisten ist wie ein Jahr Zwangsarbeit. Er ödet mich an und treibt mich gleichzeitig noch in den Wahnsinn.«

»Ich verstehe, Herr Präsident. Er wird sich wieder fangen. Er hat nur eine schlechte Phase.«

»Ich werde ihn erschießen lassen, sobald die Situation sich normalisiert hat«, verspreche ich ihm ... »Gut, ich gehe wieder hoch in mein Zimmer. Schick mir Amira ...«

Bevor ich gehe, drücke ich dem General einen Finger gegen die Brust: »Behalt mir Mansur im Auge und scheu dich nicht, ihn zu liquidieren, wenn er Anstalten macht, sich zu verkrümeln.«

Der General nickt, den Blick zu Boden gesenkt.

Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi

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