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Sprachlos

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»Erik!« Melinas Herz machte einen Sprung und hämmerte dann doppelt so schnell wie zuvor. Ihre Augen versuchten, alles von ihm in sich aufzusaugen. Seine roten Haare, die in der Sonne glänzten und die er länger trug als damals. Die unendlich vielen Sommersprossen, die braunen Augen, die sie ungläubig anstarrten. Ihr Blick wanderte hinab. Die kleinen Fettpölsterchen, über die sich Daniel und sie lustig gemacht hatten, waren verschwunden und hatten einen wohldefinierten Körper hervorgebracht. Unter seinem engen Shirt zeichneten sich Muskeln ab. Sein Gesicht war kantiger als früher.

»Melina.«

Seine Augen zuckten über ihren Körper und sie spürte die ihr wohlbekannte Hitze ins Gesicht aufsteigen. Sie fühlte sich unwohl und hatte das Gefühl, dass seine Augen eindeutig zu oft auf ihren Armstulpen hängen blieben. Natürlich war das Schwachsinn, aber Melina konnte nichts gegen ihre Gefühle machen.

Erik trat einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, als müsste er sich davon überzeugen, dass sich die jungen Frauen nicht in Luft auflösten. »Melina.«

Sein Tonfall jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Er überwand den Abstand zwischen ihnen und bevor sie es ansatzweise realisierte, fand sie sich in einer Umarmung wieder. Kurz stockte sie, dann entspannte sie sich und legte ihre zittrigen Finger auf seinen Rücken.

Ein leises Räuspern hinter ihr brachte Melina zurück in die Gegenwart. Sie löste sich von Erik und bedachte ihn mit einem Lächeln.

Tammy unterbrach den Moment ruppig. »Tach, Erik. Wie gehts? Ich dachte, du studierst weiter weg?«

Er schien aus einer Trance zu erwachen. »Ja, das mach ich auch. Aber ich habe Semesterferien.«

Sie zupfte an Melinas Shirt. »Kommst du? Mama hat gekocht.«

Melina starrte weiterhin in Eriks Augen. Sie waren voller Fragen. Fragen, die sie ihm wahrscheinlich nie beantworten könnte. Ungeduldig zog Tammy an ihr und sie setzte sich rückwärts in Bewegung.

Erik verlagerte unruhig sein Gewicht aufs andere Bein. »Ich würde mich gerne mal mit dir treffen.«

Die beiden jungen Frauen entfernten sich immer weiter von ihm.

»Wie wäre es mit heute Abend? Hier am Brunnen? Um acht Uhr?« Er sah ihr hoffnungsvoll hinterher.

Melina wollte antworten, doch hatte sie einen dicken Kloß im Hals. Daher nickte sie erneut. Sie sah ein erleichtertes Lächeln über Eriks Gesicht huschen. Dann betrat sie den Wald und musste nach vorne schauen, um nicht irgendwo gegenzulaufen.

»Pfff, der ist doch eh wieder auf der Suche nach einer Neuen. Kann sich ja mit Daniel zusammentun.«

»Daniel ist auch hier?« Nach und nach klärten sich Melinas Gedanken.

»Ja, scheint Urlaub zu haben. Jetzt komm.«

»Warum bist du so negativ den Zweien gegenüber? Das war doch früher nicht so.«

Tammy lief dunkelrot an und Melina wusste Bescheid. »Hattest du was mit ihnen?«

»Mit Daniel. Aber auch nur ein paar Wochen.« Sie sah peinlich berührt zu Boden.

Melina fragte sich, warum dieser Umstand so beschämend war. Immerhin war gerade Daniel früher bereits ein Charmeur gewesen. Sie konnte nicht sagen warum, aber es erleichterte sie zutiefst, dass Tammy nicht Erik genannt hatte. Nachdenklich fixierte sie den steinigen Weg vor sich. »Ich weiß nicht, ob ich heute Abend zum Brunnen gehen soll.«

»Das fragst du noch? Natürlich nicht!« Damit war das Thema für Tammy beendet.

In Melina war Chaos ausgebrochen. Erik hatte etwas in ihr angestoßen, von dem sie gerne noch eine Weile verschont geblieben wäre. Es war, als ob ihre Mauer, die sie in den letzten Jahren um sich herum aufgebaut hatte, innerhalb der letzten Minuten zusammengebrochen. Wie sollte sie damit umgehen? Meinte Frau Petry das mit Vergangenheit aufarbeiten?

Der Tag verlief ruhig. Beim Abendessen stand Melina absolut nicht der Sinn nach einer Unterhaltung. Eriks Auftauchen hatte sie aus der Fassung gebracht. Sie war weggezogen, ohne dass sie ihm oder seiner Familie Bescheid gesagt hatte. Laut Tammy waren die zwei Brüder in den Herbstferien zu Melinas ehemaligen Zuhause gegangen und hatten sich über das leerstehende Haus gewundert.

Ihr war es schwergefallen, ohne ein Wort zu verschwinden, aber sie hatte keine Wahl gehabt. Sie spürte ein vertrautes Ziehen in ihrem Bauch. Ein bekanntes Gefühl. Es hatte sie die letzten vier Jahre lang verfolgt und ihr Leben in seine Bahnen gelenkt.

Sie hörte Tammy erst, als die sie anstupste. »Hey, Träumerin. Ich bin jetzt weg.«

Melina sah sie an und fragte sich, wo sie hinging. Langsam dämmerte es ihr. Stimmt, Tammy und Mike wollten gemeinsam ins Kino gehen. Ein Horrorfilm namens Blair Witch 2, bei dem sich Melina sofort ausgeklinkt hatte. Sie hatte in ihrem Leben genug Schrecken erlebt, da musste sie sich nicht freiwillig so einen Film antun.

Da Tammy sie mit einer Mischung aus Argwohn und Ungeduld ansah, riss sich Melina zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Viel Spaß.«

»Werde ich haben. Und du mach dir einen ruhigen Abend und schau was Fernsehen oder so.« Tammy sprang auf und zog sich im Flur ihre Schuhe an.

Melina schaute ihrer Freundin nach, die strahlend aus dem Haus verschwand. Draußen konnte man ein Auto auf dem Kies bremsen hören.

»Und, was hast du heute Abend vor?« Frau Lange schaute sie erwartungsvoll an.

»Keine Ahnung. Mal schauen.« Sie half ihr, den Tisch abzuräumen und ging ins Zimmer hinauf. Aus dem Dachfenster konnte sie dunkle Wolken sehen und kurz darauf prasselte ein starker Sommerregen auf das Dach. Sie seufzte. Das Wetter schien sich ihrer Laune anzupassen. Sie ließ sich aufs Bett fallen und verschränkte die Arme im Nacken. Nachdenklich starrte sie an die Decke.

Natürlich wollte sie ihn wiedersehen. Er hatte ihr viel bedeutet. Doch er würde nach einer Antwort verlangen. Sie konnte es ihm nicht erzählen, war nicht bereit dafür. Frau Petry hatte sie vorgewarnt, dass das geschehen konnte. Wie sie so da lag, spürte sie die alten, bekannten Gefühle in sich aufkommen. Pochender Hass gegen die Leute, die ihr das alles angetan hatten. Aber auch das bedrückende Gefühl, das sich ihre Kehle hocharbeitete und sich dort festsetzte. Sie spürte die Skepsis in ihrem Inneren, mit der sie jedem Menschen begegnete. Niemand außer ihr Eltern und Tammys Familie wussten Bescheid.

Melina spürte Tränen die Wangen herablaufen, sie fühlte sich verlassen und allein. Hilflos angelte sie aus ihrer Tasche das Handy, das ihr Vater extra für die Reise gekauft hatte. Es war ein brandneues Gerät, sogar mit integrierter Kamera. Allerdings hatte Melina es bisher nicht benutzt, wozu auch?

Sie tippte eine Telefonnummer ein und betätigte den Anrufknopf. Mit dem Handy am Ohr legte sie sich wieder hin. Als das Freizeichen ertönte, wischte sie sich schniefend die Tränen vom Gesicht und räusperte sich.

»Petry?«

»Hallo, hier ist Melina.« Mit einem Mal war sie sich nicht sicher, ob der Anruf eine gute Idee war.

»Oh, Melina. Wie schön, von dir zu hören. Bist du gut in Schäferhof angekommen?«

Bevor sie sich versah, hatte Melina alles aus den letzten beiden Tagen hervorgepresst. Normalerweise sprach sie nicht viel vor anderen, die sie nicht kannte. Umso erleichterter war sie gewesen, als sie einen guten Draht zu Frau Petry hatte aufbauen können. Sie war die dritte Psychologin gewesen, die man ihr zugeteilt hatte.

»Hm, ich verstehe«, sagte Frau Petry, nachdem Melina geendet hatte.

»Und du bist nun am überlegen, ob du zu dem Treffen hingehen sollst oder nicht. Was hält dich denn ab?«

Nachdenklich fixierte Melina einen Fleck oben an der Decke. Sie fühlte sich viel ausgeglichener, seitdem sie alles erzählt hatte. »Er wird mich auf jeden Fall danach fragen, warum ich damals verschwunden bin. Ich glaube nicht, dass ich bereit dazu bin, ihm alles zu erzählen.«

»Das musst du auch nicht, da zwingt dich keiner zu. Bleibt doch erst einmal bei der offiziellen Geschichte und entscheide nach Gutdünken, wie viel du ihm erzählen magst.«

Bei Frau Petry klang es immer höchst einfach. Meistens entwickelte sich eine Situation jedoch in eine andere Richtung. Diesen Zweifel versuchte Melina, auszudrücken. »Was ist, wenn er keine Ruhe gibt?«

»Dann sagst du ihm deutlich, dass du nicht dazu bereit bist und er dich nicht weiter auffordern soll.«

Da war es wieder. Genau wie viele andere ging Frau Petry davon aus, dass Melina die Stärke besaß, einer Person von Angesicht zu Angesicht ihre Meinung ins Gesicht sagen zu können. Doch das konnte sie nicht, hatte es nie gekonnt. Sie schluckte eine passende Antwort herunter.

»Du musst letztendlich selbst die Entscheidung treffen, Melina. Wäge einfach ab, ob die Vorteile eines solchen Treffen überwiegen.«

Sie beendeten das Telefonat und Melina starrte für eine Weile ins Nichts. Ihr Blick wanderte umher und fiel auf die Uhr an der Wand. Es war zwanzig vor Acht. Unruhe packte sie. Sie vermisste Erik schrecklich. Als sie ihn am Vormittag gesehen hatte, war etwas in ihr aufgebrochen, das sie seit Langem unter Verschluss hielt. Die tiefe Freundschaft, die die beiden verbunden hatte, konnte nicht verschwunden sein!

Mit einem Ruck setzte sich Melina auf warf das Handy aufs Bett. Sie wusste immer noch nicht, was sie Erik sagen sollte, aber sie musste ihn sehen. Schnell sprang sie auf ihre Beine und lief die Treppe hinunter. »Ich bin noch im Dorf. Bis später.«

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