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Immer seltener werden in dieser Welt

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Immer seltener werden in dieser Welt der selbstverständlichen Tatsachen und der errechenbaren Konsequenzen die merkwürdigen Schicksale, denen man, wenn man den überlieferten Erzählungen glauben will, vor Jahr und Tag auf Schritt und Tritt hat begegnen können. Immerhin offenbaren sich auch heutzutage dem sorgfältigen Sucher besonderer Menschen und Fügungen von Zeit zu Zeit gewisse Ereignisse, die nicht von einer blinden Willkür geformt zu sein scheinen, sondern von irgendeiner literarischen Gewalt, die das Schicksal der Welt manchmal zu lenken scheint.

Unter den Menschen, die in meiner unmittelbaren Nähe gelebt haben, hatte wohl keiner ein so merkwürdiges, so heiter-tragisches, so gewollt- ungewolltes Schicksal gehabt wie der Mann, von dem ich in den folgenden Blättern zu erzählen gedenke und dessen Familiennamen ich sorgfältig verschweigen will, nicht nur weil sein Träger noch heute zu meinen Bekannten gehört, sondern auch weil ich überzeugt bin, daß ihm noch ein besonderes, ein unerwartetes, ein seltsames Geschick bevorsteht, dessen Gang ich durch die grobe Nennung einer groben Realität zu stören fürchte.

Am 3. November des Jahres 1918 faßte Heinrich P. den Entschluß, sein tägliches Brot mit der Schriftstellerei zu verdienen.

Es war einer jener ersten Tage der Revolution, in denen man zu wissen glaubte, daß der einzelne zwar auf den großartigen Lauf der öffentlichen Dinge keineswegs einen Einfluß zu nehmen imstande sei, wohl aber in irgendeiner Weise zu ihnen in eine bestimmte Stellung zu treten habe. Heinrich P. war wie die vielen Millionen in den Krieg gegangen und wie nur wenige heil und gesund aus dem Krieg zurückgekommen. Aus einem Offizier der österreichischen Armee war er durch den Zusammenbruch der Monarchie plötzlich ein ziviler Staatsbürger des neuen tschechischen Staates geworden.

Am 1. November 1918 war er in seine Heimatstadt Brünn zurückgekehrt. Alles, was er da sah, die Revolution in der kleinen Hauptstadt des ehemaligen Kronlandes, den Umher zug der Militärkapelle, die in den alten kaiserlichen Uniformen jetzt ein neues nationales Revolutionslied spielte, die tschechischen Mannschaften, die von den Mützen der Offiziere die alten Kokarden herunterrissen, die törichte Freude der befreiten Nation, schien Heinrich P. einer akuten literarischen Formulierung zu bedürfen und eines literarischen Formers. Passiv, wie er von Natur war, erlebte Heinrich P. diese Revolution bereits aus einer Art historischen Perspektive. Er bildete sich ein, »Studien zu machen«, und die rasche Buntheit der Ereignisse ließ ihm keine Zeit, sich über sein privates Schicksal und seine nächste Zukunft Sorgen hinzugeben. Nur weil es die anderen in die Stadt heimgekehrten Offiziere ebenfalls taten, ging er eines Morgens zur Kommandantur, in der man schon Tschechisch sprach, jene zweite Landessprache, die ihnen beinahe so geläufig war wie ihre deutsche Muttersprache. Man sagte ihm, daß die neue Regierung es ihm freiließe, in die neue Armee einzutreten, in der man Offiziere brauchte. Er erklärte, es sich noch überlegen zu wollen, bekam sein letztes Monatsgehalt ausbezahlt und verlangte eine Marschroute nach Prag. Dann ging er auf den Bahnhof, bestieg den Zug, suchte in mechanischer Gewohnheit nach einem Platz in der zweiten Klasse, mußte feststellen, daß der Zug aus lauter Wagen dritter Klasse bestand und nahm schließlich auf einer der vielen gelben und harten Bänke Platz, die von sogenannten Mannschaftspersonen zum größten Teil besetzt waren.

Unterwegs erlebte er noch eine jener fliegenden und plötzlichen Untersuchungskommissionen, die im ersten revolutionären Eifer nach Gleichgültigem, ja sogar Überflüssigem, Beschäftigung suchend, die gleichgültigen Züge zu kontrollieren pflegten, in denen nichts zu kontrollieren war. Und als hätte es erst der tschechischen Sokol-Uniform und der Untersuchungskommission bedurft, Heinrich P. in die neue Wirklichkeit zurückzurufen, und als hätte ihn erst eine ganz deutliche unzweideutige Änderung einer Äußerlichkeit auf die Veränderung seiner privaten Situation aufmerksam gemacht, begann Heinrich P. erst jetzt, an seine nächste Zukunft zu denken und sich mit den materiellen Sorgen zu beschäftigen, die zweifellos bald seine Existenz zu bedrohen anfangen sollten.

Noch hatte er Geld. Ein paar tausend Mark hatte er von dem Offiziersgehalt sparen können, nun begann er, sich Vorwürfe zu machen, daß er das Angebot, in die neue Armee einzutreten, nicht angenommen hatte. Was konnte ein Mensch von seiner Passivität in dieser offenbar sehr aktiven Zeit beginnen? Er trieb sich, das fühlte er, an der Peripherie, nicht im Zentrum der Ereignisse herum, und er war ebensoweit davon entfernt, sie zu bestimmen, wie von ihnen bestimmt zu werden. Vorausgesetzt, daß er das Talent besaß, sie zu beschreiben, wollte er versuchen, sich mit ihnen von jener Perspektive aus auseinanderzusetzen, die allein dem Schriftsteller angemessen ist, aber – – – – wußte er, daß er die Fähigkeit besaß zu schreiben? Der Rektor seines Gymnasiums fiel ihm ein, der für das Stadtblatt Theaterkritiken zu schreiben pflegte. Lebte der alte Ritter von Hauer noch? Heinrich P. kam auf dem Bahnhof in Prag an, wurde von einem Soldatenrat empfangen, ließ seine Papiere prüfen und erlebte die ehrliche Freude, in dem Kommandanten des Soldatenrates den alten Pedell seines Gymnasiums zu erkennen. Er fuhr in die Wohnung seiner Tante.

Sie gehörte zu jener Art von Verwandten, die das Wiedersehen mit männlichen Mitgliedern der Familie ebenso zu einer freudigen Begeisterung anregt wie zu Wehklagen über die miserablen Zeiten. Heinrich P. schenkte ihr das Geld, was sie im Augenblick zu brauchen vorgab, und ging in die Stadt. Er begab sich zum alten Rektor Hauer, feierte mit diesem ein ebenso sentimentales wie durch die Fülle und die Plötzlichkeit der politischen Ereignisse gestörtes Wiedersehen und bekam eine Empfehlung an die Redaktion des Tagblattes. Dort lieferte Heinrich seine niedergeschriebenen Revolutionserlebnisse ab. Am nächsten Tag erschien der Artikel, und es war Heinrich, als er ihn las, als hätte er die Revolution, die Heimfahrt, die Erlebnisse auf den Bahnhöfen erfunden. Er mißtraute sich selbst. Es schien ihm, daß er die Begeisterung sowohl als auch die Verwirrung übertrieben dargestellt hätte und daß zwischen der Wirklichkeit dieser Revolution und seiner Darstellung der Unterschied mindestens so groß geblieben war wie zwischen dem Krieg und ihr. Er hatte von Betrunkenen und Taumelnden geschrieben und in Wirklichkeit doch nicht mehr Betrunkene und Taumelnde gesehen als etwa an einem Sonntagnachmittag zu Friedenszeiten.

Während er noch also über seinen Artikel nachdachte, meldete sich ein Mann bei ihm, der sich als Detektiv legitimierte und ihn zu einem Herrn Dr. Slama in die Polizeidirektion führen zu müssen behauptete. Dr. Slama war der Zensor der neuen Regierung. Es erwies sich, daß er nur die Bekanntschaft Heinrich P.s hatte machen wollen und vielleicht auch den Versuch, den von ihm offenbar für begabt erachteten Verfasser für die tschechische Regierung ebenso gewinnen zu wollen, wie er selbst, ein alter Beamter der Monarchie, gewonnen worden war.

Dieser Versuch, Heinrich P. für das neue, sogenannte Staatsvolk zu erobern, blieb ohne Ergebnis; nicht etwa deshalb, weil Heinrich P. ein überzeugter Angehöriger der deutschen Nation gewesen wäre, sondern weil er, den Gesetzen seiner Natur gehorchend, jede Handlung zu vermeiden entschlossen war, die ihm irgendeine Verpflichtung zur Aktivität auferlegt hätte. Hätte er, im Gegenteil, überhaupt über die momentane Situation des deutschen Teiles der Bevölkerung nachzudenken vermocht, so wäre er zu dem Resultat gekommen, daß sein persönliches Bekenntnis zur deutschen Nationalität seiner natürlichen Neigung zur Passivität am ehesten entgegengekommen wäre. Aber Heinrich P. dachte zu jener Zeit nicht übermäßig viel. Seine eigene Situation wie die der Gesamtheit erschien ihm für seine Bedürfnisse viel zu kompliziert. Und, bequem wie er war, beschloß er, in eines jener friedlichen Länder zu gehen, in dem die politischen Konflikte seit Jahrhunderten beigelegt erschienen und der Friede den in ihnen wohnhaften Individuen für alle Zeiten gesichert.

Er fuhr also mit dem Rest seines Geldes in die Schweiz, setzte sich vorläufig in Zürich fest und begann, lediglich aus einer sittlichen Verpflichtung, irgend etwas zu tun, Artikel für deutsche Zeitungen zu schreiben. Seine Einnahmen blieben gering, seine Ausgaben verringerten seinen Besitz, bis er eines Tages, es war etwa Juni 1919, in die Lage geriet, seine Miete nicht bezahlen zu können.

Offenbar aber wacht irgendein gnädig-ungnädiges Schicksal über gewissen jungen Männern, und, so banale Auswege es auch weisen mag, es führt seine Günstlinge dennoch ein Stück weiter und bewahrt sie vor den viel zu frühen Katastrophen, die es uns unmöglich machen würden, bestimmte Geschichten weiterzuerzählen. Banal, wie derlei Schicksale schon zu sein pflegen, ist auch die Fügung, die in das Haus der Vermieterin Heinrich P.s eine ihrer jungen Nichten führt und in der ältlichen Frau den selbstverständlichen Wunsch nährt, das Mädchen in eine Beziehung zu ihrem einzigen Mieter zu bringen. Wie leicht aus einer so banalen Situation eine fatale für den betroffenen Mann wird, weiß der Leser, und also bleibt es uns erspart, Heinrich P. darzustellen, wie er von einem trügerischen Affekt gezwungen wird zu lieben, und von einem echten Instinkt, einer bürgerlichen Existenz zu entfliehen. Vielmehr begnügen wir uns mit der Mitteilung von der plötzlichen Ankunft eines Briefes an die Adresse Heinrichs, eines Briefes, dessen Wortlaut wir im folgenden wiedergeben:

Lieber Freund,

unlängst hatte ich das Glück, Deinen Namen in einer Zeitung zu lesen, und ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an die Wochen und Monate, die wir zusammen im Feld zugebracht haben. Ich bin nach dem Zusammenbruch der Monarchie nach Deutschland übergesiedelt, lebe in Berlin als Rechtsanwalt, habe geheiratet (und reich geheiratet), bin Syndikus im Konzern meines Schwiegervaters und höre nicht ohne Staunen, daß Du in Zürich lebst. Eine Wehmut, die Du vielleicht lächerlich finden wirst, veranlaßt mich, Dir zu schreiben. Meine Frau und ich, wir fahren in der nächsten Woche nach Marseille und möchten Dich mitnehmen. Telegraphiere uns, ob Du am Dienstag, den 28. Juli, uns in Basel am Bahnhof um 2 Uhr nachmittags erwarten kannst.

Dein Freund

Otto Reichhardt

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke

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