Читать книгу Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke - Йозеф Рот - Страница 9
Kranke Menschheit
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Es war eine stille Gasse. Wie irgendeine in einem Vorort. Der Lärm der Großstadt drang in die Gasse nur als fernes, seltsames Summen und Klingeln. Kleine Häuser und dürftige Gärten umsäumten sie. Herbstlich-mild und freundlich war der Tag. Einer von den Tagen, die man genießen soll mit gleichmutsvoller, ruhiger Seele.
Wenn man in der Gasse fortging, immer fort, dann kam man wohl irgendwohin ins Freie, wo sich die kleinen Häuser nicht mehr aneinanderklammerten, sondern lose standen und frei, wo Wiesen waren und Sträucher, wo dunkle Berge und Wälder lockten; wo Menschenpaare gingen und aus Tüten Zwetschken aßen und die Hände verschlungen hielten, um einander am hellen Tag ihre Liebe durch stark-zärtlichen Druck zu bezeigen; wo aus Häusern Stangen mit häßlichen Stroh geflechten hingen und verkündeten, daß aufs neue ein Herbst gekommen war mit neuern, heurigem, Fröhlichkeit und, ach, Vergessenheit bringendem Trunk.
Aber die wenigen Menschen, die an diesem Tage in der Gasse gingen, hatten keine Zeit, den Wiesen und Wäldern zuzueilen, sich der Liebe oder dem Weine hinzugeben. Sie wendeten sich stadtwärts, sie gingen im Trott des Alltags: Männer in blauen, ölbefleckten Arbeitskleidern, Männer mit Amtskappen, Frauen in Kleidern, die hell und bunt waren wie der Tag; sie trugen große Taschen leicht und sicher, und die unförmliche Last vermochte nicht die zierliche Schönheit ihres Schrittes zu hemmen, der die Frauen dieser Stadt auszeichnet.
Einer ging unter ihnen, der nicht zu den Menschen dieser Gasse zu gehören schien, der irgendwie fremd war in der Gasse, der kein Ziel zu haben schien wie sie. Ein großer Mann in schlichtem, dunklem Gewand, barhaupt, ein wenig gebeugt, ein wenig unsicheren, schwankenden Schrittes, den rechten Fuß mit einiger Mühe schleppend. Er sah die Menschen, die vorübergingen, forschend an, und die Frauen erschraken ein bißchen, wenn sie der Blick traf, aus Augen, die groß, dunkel, ein wenig starr in dem bleichen Antlitz standen. Er sah die Häuser an, eines nach dem anderen, und schien eines von ihnen zu suchen. Aber er hatte offenbar keine Eile; er ging ganz langsam, schier, als ob er sich gefürchtet hätte, zu finden, was er suchte. Man kommt auch mit langsamem, schwankendem Schritt zum Ziele: Da stand unter den niederen Häusern eines, das groß war und stattlich, nicht aufdringlich, eher anmutig und freundlich wie ein Landsitz, der vor langen Zeiten einem großen Herrn zur Kurzweil gedient hatte, wenn er ausruhen wollte von den Anstrengungen der Machtausübung. Die Inschrift freilich, die das große Tor trug, war wenig anmutig. »Spitalseingang« stand dort in großen Buchstaben.
Der fremde Mann in der stillen Gasse zuckte ein bißchen zusammen, als er zu dem Hause gelangte und die Inschrift las. Und er ging ein bißehen schneller; deutlicher merkte man das Nachschleppen des rechten Fußes. Er ging an dem Hause vorüber, weiter in der stillen Gasse, die ins Freie führte zu Wiesen und zum Wald. Der Mann konnte nicht in den Wald gehen, in den ruhigen, weiten, freien; er konnte es gestern nicht, er durfte es heute und morgen nicht.
Er gehorchte dem Zwang, der in ihm war und ihn unsichtbar umgab, und ging zurück zu dem Hause, das wie ein alter, freundlicher Landsitz aussah und die Inschrift »Spitalseingang« trug.
Ein blondes Mädchen stürmte aus einem Hauseingang, verfolgt von einem strahlenden Burschen. Es kreischte und lief blind in sorglosem Ungestüm. Und stieß mit dem Manne zusammen, der in der Gasse ging. Er taumelte, suchte Halt an einem Gitter und sah in das heiße, junge Gesicht. Das Mädchenlachen erlosch. Da kam schon der Bursche, nahm heftig den Arm des Mädchens und führte es die Gasse entlang den Wiesen und Sträuchern zu. Und das Mädchenlachen erfüllte wieder die Gasse und kam zurück zu dem Manne, der noch beim Gitter stand und der freien, unbekümmerten Jugend nachsah, die es eilig hatte, seinem Blick zu entrinnen. Noch ein Weilchen stand das Jugendlachen in seinem Ohr, ward schließlich mißtönend, verzerrt und verließ ihn.
Dann stand er wieder vor dem freundlich-ernsten Landsitz. Er maß das Haus mit langem Blick und suchte die Mauern zu durchdringen und des Hauses Geheimnisse zu erforschen.
Er sah eine Tafel, auf der geschrieben stand, daß die Kranken der ersten und zweiten Klasse täglich von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends und die Kranken der dritten Klasse an vier Tagen der Woche von zwei bis vier Uhr nachmittags Besuche empfangen dürfen. Eines wußte er nun: Es war Ordnung hinter dem braunen Tor. Da freute er sich in der schönen Erkenntnis, daß die Menschen Ordnungssinn haben und ihn überall, wo sie nur können und es für nötig halten, betätigen. Nur die große Welt, in der sie alle, die Brüder und Schwestern, die Klassen und die Rassen und die Völker, nebeneinander leben müssen, ist noch ein wenig in Unordnung. Da nützen selbst die Tafeln mit der Einteilung für die Menschen der ersten und zweiten und die Menschen der dritten Klasse nicht viel. Aber einmal, irgend einmal wird schon der schöne, immer wache, immer taten bereite Ordnungssinn der Menschen Ordnung schaffen, überall, in den Städten, in den Ländern, in der ganzen, großen, schönen Welt. Heute wollte er zufrieden sein in dem Bewußtsein, daß Ordnung war hinter dem stattlichen braunen Tor.
Und der fremde Mann in der stillen Gasse versuchte, ein wenig zu lächeln; es ward aber ein verzerrtes Grinsen, bei dem der rechte Mundwinkel tiefer hing als der linke.
Da tat sich die kleine Pforte auf, die neben dem großen braunen Tore war, ein kleiner, dicker Mann mit einem Käppchen auf dem Kopfe kam heraus und sagte mit beflissener Freundlichkeit: »Guten Tag, Herr, wollen Sie zu uns kommen? Bitte, gehen Sie nur weiter!« Seine Hand wies höflich einladend den Weg.
Ein kleiner Schauer lief über die lange, schmale Gestalt des Mannes, aber es war der Zwang in ihm und um ihn, der Zwang, der ihn oft begleitet hatte in stillen Gassen und auf breiten, lärmenden Straßen und Plätzen. Und er ging durch die Pforte und bückte sich ein wenig, weil sie nieder war.
Sorgsam schloß der freundliche Türhüter die Pforte der Nervenheilanstalt und geleitete, immer ruhig-höflich, den fremden Mann wie einen Gast. Er führte ihn in eine große, helle Vorhalle, wo Menschen auf Sesseln, Bänken und in Rollwägelchen saßen und warteten. Heinrich Reinegg setzte sich zu ihnen und begann zu warten wie sie. Es ist gleichgültig, dachte er, wo man wartet. Irgendwo, irgendwie warten wir immer.
Sie musterten den Neuen neugierig, fast wohlwollend. Und tuschelten. Eine Frau kam in blauer Schwesterntracht, groß und ernst, und half einem Mädchen, das im Rollstuhl saß, beim Aufstehen. Das Gesicht des Mädchens war fein und schmal und lächelnd. Indes: Das Leid schien im Kampf mit der Heiterkeit zu liegen. Das Mädchen stützte sich auf zwei Stöcke, die am Ende einen Gummibelag hatten. Schon hatte es sich aufgerichtet, da rutschte ein Stock auf dem glatten Boden, und das Mädchen fiel mit einem leise klagenden Ruf zu Boden. Heinrich Reinegg, der zunächst saß, half der Schwester, das Mädchen auf die Beine zu bringen. Es war kein schweres Bemühen; unheimlich leicht war dieser Mädchenkörper. Das Mädchen sah dankend in die großen, dunklen, starren Augen des fremden Mannes; es erschrak nicht wie die Frauen draußen vor dem braunen Tor; es lächelte wieder: heiter und ein wenig leidvoll.
Nun stand das Mädchen wieder auf den schmalen Füßen und mußte gehen. Es setzte zaghaft den linken Fuß vor, schnellte den rechten ein wenig in die Höhe und dann nach vorne und zur Erde. Dann waren zwei Schritte getan. Die Schwester führte das Mädchen langsam und geduldig zu einer weißen Türe. Heinrich Reinegg dachte einen Augenblick an die zierlichen, sicheren, leichten Schritte der Frauen und Mädchen, die draußen in der Gasse gingen.
»Die wird nicht mehr tanzen«, sagte ein Mann, der über dem linken Auge eine schwarze Binde trug; sie verdunkelte sein hageres Gesicht. Niemand antwortete.
Eine alte Frau schüttelte den kleinen, grauen Kopf. Es war eine ganz leichte, mißbilligende Bewegung. Sie erfolgte in regelmäßigen, kleinen Zeitabständen. Warum sollte sie nicht den Kopf schütteln, dachte Heinrich Reinegg, es ist ganz natürlich, daß sie es tut.
Unwillig sah die alte Frau den Mann mit der schwarzen Binde an. Sie beugte sich zu dem jungen Mann, der gleichgültig neben ihr saß, und begann zu flüstern. Der junge Mann sagte ruhig: »Reg dich nicht auf, Mutter, warum regst du dich auf? Es steht nicht dafür.« Teilnahmslos ging sein Blick über den Raum, über die Menschen und Gegenstände.
Ein paar Augenblicke lang blieb er an den Händen eines kleinen, schwarzhaarigen Mädchens haften, die ohne Unterlaß in einem Buche blätterten. Aber als das Mädchen seinen Blick fühlte und ihn ansah, wendete er sich unbewegt ab.
Der Mann mit der schwarzen Binde litt unter der hämischen Stille. Er verstand nicht, warum sie nicht antworteten. Seine Stimme hatte einen ganz kleinen Bruch, als er sagte: »Sie ist Tänzerin. Tänzerin von Beruf.« Und sein rechtes Auge blickte unruhig nach der Tür, hinter der die Tänzerin war.
Da folgten sie alle, ein wenig betroffen, dem Blicke seines rechten Auges. Und sahen alle nach der weißen Tür. Dann begann die alte Frau wieder, den Kopf zu bewegen, leise und ein wenig mißbilligend. Ihr Sohn sah gleichgültig nach der Uhr. Das schwarzhaarige Mädchen blätterte wieder in dem Buche.
Aber plötzlich legte die Schwarzhaarige das Buch mit einem kleinen Knall auf den Tisch, wendete ihr kleines Mädchengesicht dem Manne mit der schwarzen Binde zu und sagte mit einigem Nachdruck: »Vor sechs Wochen konnte ich auch nicht gehen. Jetzt kann ich schon wieder gehen. Bald werde ich hinausgehen. Bald werde ich wieder wandern. Vielleicht schon in einer Woche. Jetzt werde ich es gleich hören, wann ich hinausgehen darf.« Sie sah zum Fenster und darin zur weißen Tür. »Ja. Und die Tänzerin wird schon auch wieder gehen können. Und tanzen, ja, vielleicht wird sie sogar tanzen können.« Da brach sie ab. Und alle wußten, daß sie in ihren Gedanken hinzufügte: Und wenn sie auch nicht tanzen kann –! Die Tänzerin!
Die alte Frau vergaß, den Kopf zu schütteln; es war ein leichter, freudiger Schimmer in ihrem grauen Gesicht. »Sei still, Mutter«, murmelte gleichmütig ihr Sohn, »sei still, es steht nicht dafür.« So nahm er ihr das Wort, ehe sie es sprechen konnte.
Der Mann mit der schwarzen Binde sah zornig mit dem rechten Auge das schwarzhaarige Mädchen an. »Das ist etwas ganz anderes bei Ihnen «, sagte er, »was hat Ihnen gefehlt? Sie haben etwas ganz anderes. Was wollen Sie sagen? Sie werden wieder gehen. Wer weiß, wohin Sie gehen. Aber diese Frau – sie wird nicht mehr tanzen können.« Seine Stimme war noch ein wenig brüchiger. Er hatte zu viel und zu lange gesprochen. Nun schwieg er. Und rückte die schwarze Binde zurecht. Die große, ernste Schwester öffnete die weiße Tür und führte die Tänzerin heraus. Behutsam setzte die Tänzerin den linken Fuß vor, dann hüpfte der rechte in die Höhe und nach vorne und zur Erde. Und seltsam schwang der leichte Körper der Tänzerin mit. So kam sie hüpfend und tanzend zum Rollwägelchen. Lächelnd sah sie Heinrich Reinegg an, der versunken saß.
Der einäugige Mann, der der hilflosen Tänzerin Ritter sein wollte, machte sich erbötig, sie fortzuführen. Aber da stand schon einer im weißen Kittel, der ihn zur Seite schob und sagte: »Gehn S’ weg! Dazu bin ich da.« Er war dazu da, Lasten zu führen, und es war ihm gleichgültig, ob es lebende, leidende oder tote waren.
Ein Sonnenstrahl fiel in den Raum und blieb haften am roten Haare der Tänzerin. Und das Haar leuchtete. Aber der Rollwagen fuhr weiter, und der Sonnenstrahl fiel zu Boden, wo ein weißer, glutender Fleck entstand.
Wieder öffnete die ernste Schwester die weiße Tür. Und Heinrich Reinegg ging hinein. Er zauderte ein wenig, aber er mußte gehen. Oft hatten sich weiße und graue und schwarze Türen vor ihm geöffnet. Oft hatte er gezögert und war doch gegangen, weil er mußte.
Eine Frau saß an einem Schreibtisch und sah, ruhig forschend, Heinrich Reinegg entgegen. Warum eine Frau? dachte er. Was macht ein Mann, wenn er einer Frau begegnet? Er macht eine Verbeugung, die linkischer und unschöner ist, als wenn er sie vor einem Manne machte, und dann sieht er, nicht geradeaus, eher von der Seite her, ob sie jung oder hübsch ist und welche Farbe ihre Haare haben. Oft dauert es, zu seiner Freude oder zu seinem Schaden, lange, bis er den Menschen entdeckt.
War dieser Weg nun leichter oder schwerer, weil dort eine Frau saß? Aber die Frau trug einen weißen Mantel. Der verbarg die Frauengestalt, der verbreitete Unparteilichkeit; der weiße Mantel entschied in diesem Raum.
In ärztlichen Zimmern ist immer irgend etwas Geheimnisvolles. Da ist ein Ruhebett, das nicht der Ruhe dient, da sind Glaskästen mit glitzernden Dingern, die dich irgendwie feindselig ansehen. Da ist einer, der sich anschickt und berufen ist, zu erforschen, was im Kopf oder in der Brust oder im Bauch anders ist, als es nach den Gesetzen, die er kennt, zu sein hat. Heinrich Reinegg dachte an einen Uhrmacher, der die Uhr schüttelt und ihre Rädchen lange und scharf durch eine Lupe ansieht, ehe er an die Arbeit geht, und an einen Mechaniker, der den Motor eines Kraftrades in Tätigkeit setzt und mit scharfem Ohr zu erforschen trachtet, ob er unregelmäßig klopft oder Nebengeräusche hat. Aber waren das nicht törichte Gedanken? Menschen sind keine Uhren und keine Krafträder, und Ärzte können nicht Uhrmacher und Mechaniker sein.
Ein Arzt, ein junger Mann mit einer großen Glatze, kam in das Zimmer. Er sah Heinrich Reinegg flüchtig, gleichgültig an. Dann beachtete er ihn nicht mehr. Er sprach kurz mit der Frau im weißen Mantel über einen »Falk Einige Fachwörter, hinter denen Gesunde wie Kranke immer etwas Drohendes wittern, schwirrten durch das Zimmer. Dann ging der Arzt.
Die Frau schrieb Heinrich Reineggs Namen und Alter auf einen gelben Papierbogen. Dann tauchten ihre Augen, die sich hinter einer schlichten Brille zu verbergen suchten, in sein Gesicht.
»Erzählen Sie«, sagte sie, »warum Sie zu uns geschickt wurden?«
Es schien Heinrich Reinegg, daß ihre Stimme gut klang und warm und freundlich war und ihre Frage nicht der geschäftsmäßigen Gewohnheitsfrage eines Uhrmachers glich. Aber sie besiegte sein Mißtrauen nicht, das immer wach und auf der Lauer war.
Er saß verschlossen.
»Warum?« sagte er, »ich hatte keine andere Wahl.«
Sie wurde nicht ungeduldig. Nicht sogleich. Sie fragte weiter: »Waren Sie krank?« Es ist nett, dachte er, daß sie von der Vergangenheit spricht und nicht vom Augenblick. Ein bißchen spöttisch, kaum merklich, zuckten seine Lippen.
Krank? Ja, ja, er war krank. Viele waren es in der Zeit, in der er daniederlag. Und nicht alle, die krank waren, lagen danieder wie er. Im Gegenteil: Sie waren sehr tätig und glaubten an ihre starke Gesundheit. Aber da fiel ihm ein, daß es gerade als Krankheitszeichen gelten könnte, wenn er andere für krank, für noch kranker hielt. Und er sprach den Gedanken nicht aus.
Krank? Ja, ja, er wollte schon berichten. Er wollte gewiß nicht unhöflich sein. Nicht, weil sie eine Frau war. Das machte vielleicht das Reden noch schwieriger. Aber vielleicht, weil sie nicht wie eine Uhrmacherin fragte.
Er sprach langsam und karg. Und vieles von dem, was nun durch sein Gehirn zog, sagte er nicht.
Krank? Es gab – zu allen Zeiten – Diktatoren, die krank waren und Diktatoren geworden sind, weil sie krank waren.
War nicht die Welt krank? Ihre Wirtschaft, ihre Ordnung? War nicht die Menschheit von Fieberschauern geschüttelt, seit zwanzig Jahren oder länger? Waren nicht ihre Nervenstränge schmerzhaft entzündet, überreizt? Hat nicht ein krankes Gehirn alle Hemmungen ausgeschaltet, so daß gefährliche Tollheiten verübt wurden sonder Zahl, vor denen kein Gitterbett Schutz gewährte? Es gab Doktoren, die, wie es auch in der Medizin vorzukommen pflegt, selbst an den Krankheiten litten, die sie heilen wollten. Es gab andere, die die Zahl der weißen Tafeln mit den Vorschriften für die erste und zweite und für die dritte Klasse vervielfachen wollten und die die Tafeln als Heilmittel priesen.
Es gab Scharlatane, die sich, mit bunten Mänteln angetan, auf Marktplätze stellten und ihre Kunst ausriefen und vorgaben, daß sie, wie die Quacksalber in alten und neuen Zeiten, nur ein Fläschchen mit einer gewissen Flüssigkeit anzusehen brauchten, um die Kr.ankheit zu erkennen und sie heilen zu können; diese hatten den größten Zulauf. Und es gab ernste Doktoren, die die Krankheitszeichen sahen und sie eifrig bekämpfen wollten, aber ihre Ursachen nicht fanden oder nicht finden wollten, weil sie Angst hatten vor der Diagnose und den Folgerungen, die sie aus ihr hätten ziehen müssen.
Heinrich Reinegg war versucht, die Frau, die weiße Frau, die da vor ihm saß, zu fragen, ob auch die medizinische Wissenschaft glaube, daß man, indem man Krankheitszeichen vorübergehend mildere, die Krankheit beseitigen könne. Er tat es nicht. Vielleicht hätte sie auch das als ein Krankheitszeichen gewertet. Er sollte endlich von seiner eigenen Erkrankung sprechen.
Heinrich Reinegg sah an der Frau vorbei. Bilder kamen in das kleine, ärztliche Zimmer und gingen. Bilder aus der kranken Welt, die vor der kleinen Pforte der Anstalt, durch die er gebückt gegangen war, begann. Eine Zelle kam. Zwei Eisenbetten standen mit Strohsäcken, die schwarz waren, mit Decken, die starrten. Ein Ofen stand, der kalt war. Ein Tisch wackelte. Ein Kübel stank. Eine hölzerne Wand, die um den Kübel war, krachte zu Boden. Heinrich Reinegg stellte die Wand auf und las die Inschriften, die eingekritzelt waren. Sie fluchten, beteuerten Unschuld, klagten an. Sie lobten die Freiheit. Und die Liebe. Das Lob auf die Liebe war durch Zeichnungen ergänzt. Auf die Art haben die Menschen schon in ihren Höhlen in eisgrauen Vorzeiten die Liebe gepriesen.
Ein Mann lag auf einem Strohsack und wehklagte: »Ich werde ein Verbrecher. Da werde ich ein Verbrecher.«
Ein Schloß polterte. Ein eiserner Riegel rasselte. Eine Tür knarrte. Eine Uniform kam und schrie den Mann auf dem Strohsack an: »Ziehen Sie die Schuhe aus!«
Heinrich Reinegg grinste. Heinrich Reinegg humpelte durch das Gemach. Der rechte Fuß versagte, schmerzte, quälte. Ein Arzt kam, schüttelte das Haupt und ging rasch.
Ein Schloß polterte. Ein eiserner Riegel rasselte.
Ein Lautsprecher spielte. Ein Mann stand auf dem Strohsack und lauschte. Eine Frauenstimme kam leise und zaghaft aus der Ferne. Eine Frauenstimme.
Zwei Männer lagen auf schwarzen Strohsäcken. Sprachen. Schwiegen. Fragten: Wie lange? Hofften. Zerschlugen die Hoffnung. Rauchten. Rauchten ohne Unterlaß. Teilten Zigaretten. Waren Freunde und Kameraden. In der Zelle.
»Es gibt Menschen, die es immer mit den stärkeren Bataillonen halten«, höhnte Heinrich Reinegg, »sie liegen nie in Zellen.«
»Ja«, stöhnte sein Freund auf dem Strohsack, »ja, und ich – ich werde morgen dem Kerkermeister sagen, er soll mir irgendeine Arbeit geben. Ich ersticke. Da werde ich ein Verbrecher.«
»Du wirst keiner. – Aber genügt es dir nicht, den Kübel auszutragen?« Man denkt noch lange an jedes Wort, das man in der Zelle spricht und das zu einem geredet wird, dachte Heinrich Reinegg, als er im kleinen, hellen Raum vor der Frau im weißen Mantel saß.
Bilder kamen. Und gingen.
Ein Schloß polterte. Eine Tür knarrte. Ein Auto stand fahrbereit. Heinrich Reinegg humpelte. Bewaffnete begleiteten ihn. Ein Auto fuhr. Auf Straßen, die herrlich verschneit waren, durch Dörfer, die er kannte, durch Wälder, die er liebte.
Eine Zelle kam, ein Richter kam, ein Arzt kam. Und Stunden gingen hin und Nächte, langsam, als wären es Ewigkeiten gewesen.
Und einmal, einmal kam ein Tag. Heinrich Reinegg stand in der lauten Straße einer Stadt, hart auf seinen Stock gestützt. Wagen fuhren. Menschen gingen. Frauen lächelten. Männer arbeiteten. Für sie war es ein Tag wie gestern.
Frei! Frei?
Die Frau am Schreibtisch sah vor sich hin und hörte zu, und öfters schrieb sie rasch ein paar Sätze auf den gelben Papierbogen.
»Was schreiben Sie da?« fragte Heinrich Reinegg unwirsch.
Sie lächelte. »Nichts Besonderes. Nur ein paar Bemerkungen über die Krankheit des rechten Beines. Das ist jetzt besser, nicht wahr? Aber was ist mit dem Kopf?«
Kopf? Eine heikle Angelegenheit. Je schiefer ein Kopf sitzt, desto fester ist sein Träger überzeugt, daß alle anderen Köpfe schief sind und er seinen eigenen hoch und gerade trägt.
Bilder kamen.
Es stand ein Mensch im Nebel einer kranken Welt. Fühlte Abgründe. Konnte nicht nach vorne und nicht nach rückwärts gehen. War getreten und gedemütigt. War hungernd. Dachte an sein Leben und lächelte in den Nebel hinein voll Ingrimm und Hohn. Denn da war immer eines, war immer dasselbe, Unentrinnbare: Niederung, Klettern an der Wand und Rückfall. Da war eine Kindheit ohne Lachen, eine Mutter, die er liebte und die starb, weil Mütter, die hungern und leiden, frühzeitig an Tuberkulose sterben müssen. Da war ein mühsamer Aufstieg. Er nahm andere bei der Hand und half ihnen klettern. Helfen! Helfen! In jeder Frau, die ein Kopf tuch trug und voll Mühsal ging, sah er die Mutter. Und half! War froh. Für Augenblicke. Kletterte. Rutschte. Kletterte.
Rutschte!
Stand im Nebel. Rief. Viele standen im Nebel und riefen. Er hörte sie nicht, er sah sie nicht. Aber er litt mit ihnen, und sie litten mit ihm.
So kam zu seinem kleinen Schicksal das Leid vieler, die im Nebel irrten, und drückte ihn, so daß er auf die nasse Erde fiel im Nebel des Tales.
Bilder kamen.
Ein Mann lag im Bett. Gegenstände wogten: der Tisch, Bilder. Eine Pflanze stand auf dem Kasten. Zwei Pflanzen, die eine waren. Eine Pflanze, die doppelt war. Wenn der Mann ein Auge schloß, sah er eine Pflanze sich erheben. Wenn er beide öffnete, waren es zwei, die im scharfen Abstand voneinander standen. Ein Mann kam. Er hatte zwei Köpfe und zwei Krawatten. Ein Arzt hielt einen Daumen in die Höhe. »Sind es zwei, oder ist es einer?« Es waren zwei. Der kranke Mensch im Bett aber dachte schwer und sagte: »Es ist einer.« Seine Hand griff nach einem Glas, einem Löffel und fand das Ziel nicht.
Der Mensch Heinrich Reinegg erbrach. Er freute sich ein wenig; das hielt er für natürlich und vernünftig.
Ein Arzt rief voll Sorge: »Nicht rauchen! Er darf nicht rauchen! Es kann die Katastrophe sein.« Heinrich Reinegg hörte es undeutlich; es gefiel ihm sehr, daß jener »Katastrophe« sagte.
Ein anderer Arzt aber kam und sagte: »Geben Sie ihm, was er will!« Er ärgerte sich, weil die Taschenlampe, mit der er dem Kranken in die Augen leuchten wollte, streikte. Er befahl: »Sagen Sie: Gletscherrelief!«
Heinrich Reinegg war entschlossen, es zu sagen. Ein neuer Befehl: »Strecken Sie die Zunge heraus!« Heinrich Reinegg tat es gefügig; warum sollte er nicht die Zunge in die Welt strecken? Sie wich aber nach rechts.
Ein Priester kam, war freundlich und fürsorglich und sagte: »Die Kirche trifft keine Schuld.«
Und Stunden kamen, wo nichts war als Nebel und das dumpfe Verwundern in Heinrich Reinegg über die Zähigkeit seines flackernden Lebens.
Menschen kamen und beteten. Bauern ließen Messen lesen. Frauen wehklagten, die alt waren und arm. Männer gingen Stunden und Stunden über Straßen und Steige um eines Grußes willen. Und es gab andere, wenige, die Freude äußerten über die nahende »Katastrophe«.
Heinrich Reinegg aber straffte den zagenden Leib und erhob sich von der nassen Erde. Stand wieder im Nebel des Tales. Und versuchte, tastend und schwankend und langsam, zu gehen.
Die Frau am Schreibtisch sprach und verscheuchte die Bilder. »Bitte gehen Sie jetzt ins Nebenzimmer, und ziehen Sie sich aus bis auf die Unterwäsche! Dann kommen Sie wieder!«
Es war ihm nicht klar, ob das nun natürlich war oder nicht. Aber der weiße Mantel entschied in diesem Raum. Er ging und kam in Unterhose und Hemd zurück. Legte sich auf das Ruhebett, das nicht der Ruhe diente. Die Frau stach mit einer feinen Nadel in den Kopf, links und rechts, wie wenn sie das Schicksal darstellen wollte, und fragte nach dem Unterschied der Empfindung. Sie ließ ihn die Augen schließen und die Hände ausstrecken. Sie bat ihn, ihre Hand zu drücken. Er fragte spöttisch, wieviel Hände sie täglich drücken müsse. Auf ihr Geheiß ging er im Zimmer auf und ab. In Unterhose und Hemd. Den rechten Fuß schleppte er ein bißchen nach. Das ist lieblich, dachte Heinrich Reinegg, ein Mann in Unterhose spaziert vor einer Frau. Aber sie trug ja einen weißen Mantel, der die Frau verbarg. Für sie war der Mann in Unterhose offenbar weder eine liebliche noch eine unliebliche Erscheinung, sondern er gehörte in den Raum wie die ihres Gehäuses entkleidete Uhr in die Uhrmacherwerkstätte. Aber nein. Es gab doch Unterschiede. Zum Beispiel den: Der Uhrmacher entkleidet die Uhr in der Werkstätte, der Mann ging ins Nebenzimmer aus- und anziehen. Heinrich Reineggs Gesicht war versunken und finster wie immer, aber in ihm war der leichte Spott, mit dem er sich selbst oft bedachte, den er hegte in bösen und scheinbar freundlichen Stunden wie einen Schutz; vielleicht war es nur ein Trug an sich selbst.
Als der Mann wieder in ordentlichen Mannskleidern stak, fragte die Frau: »Wie steht es mit der Lunge?«
Er zeigte einen Zettel, auf dem ein ärztlicher Bericht verzeichnet war. Der junge Arzt mit der großen Glatze kam in diesem Augenblick, besah den Zettel und meinte kühl: »Wir sind ja keine Lungenheilstätte, das ist wohl ein Irrtum.«
»Nein, nein«, sagte die Ärztin, »es ist kein Irrtum, er gehört schon zu uns.«
Es ist schön, dachte Heinrich Reinegg, nun bin ich wohl endlich dort, wohin ich gehöre.