Читать книгу Haselnussbraune Versuchung - Ysold Abay - Страница 5
ERIC
Оглавление„Was wisst ihr schon!“ Die Gefühle in mir explodierten ohne jegliche Vorwarnung. „Ich kann euch sagen, was ich gemacht habe. Ich hab ihn geküsst! Einen Mann – ihr habt richtig gehört.“
Es fiel mir so viel leichter, die darauffolgenden Worte zu sagen, als ich es immer erwartet hatte. Ich dachte, ich würde Schwierigkeiten haben, sie über meine Lippen zu bringen, vor allem, wenn mein Vater anwesend war. Aber sie schlüpften heraus, als würde ich über das Wetter reden.
„Ich bin schwul.“
Der riesige Klumpen, der in diesem Moment von meinem Herzen abfiel, fühlte sich wie eine jahrelang angestaute Last an, die ich nun endlich zurücklassen konnte. Aber es dauerte nur einige Sekunden, bis ich begriff, was ich gerade gesagt und warum ich es bisher für mich behalten hatte.
Die Verbindung des Videoanrufs stockte im selben Moment und es war mir unmöglich, die Reaktion meiner Eltern zu deuten. Die Farben auf dem Bildschirm spielten verrückt, die Pixel tanzten wild durcheinander.
„Hallo?“
Meine Stimme war nur ein dünnes Flüstern, das gerade einmal meine eigenen Ohren erreichte. Als der Bildschirm des Laptops kurz darauf schwarz wurde und mir ein trauriger Emote mitteilte, dass die Internetverbindung zu schlecht war, drehte ich fast durch.
„Das kann nicht wahr sein!“, stieß ich laut aus, scherte mich nicht darum, dass es meine Mitbewohner vielleicht gehört hatten. Die verdammte Verbindung riss ab und ich konnte weder sagen, ob meine Eltern mein Outing noch verstanden hatten, noch ihre Reaktion dazu beurteilen. Wobei ich mir die meines Vaters schon seit Jahren bildlich vorstellte.
„Hey, alles klar?“ Mia, meine Mitbewohnerin und langjährige Freundin, streckte ihren Kopf durch die halb geöffnete Tür und sah mich besorgt an. Mit einem Seufzen sank ich in mir zusammen und blickte genervt zu ihr auf.
„Ich glaube, ich hab mich gerade vor meinen Eltern geoutet“, murmelte ich.
„Was?“ Mia riss überrascht die Augen auf und machte einen Schritt ins Zimmer.
„Mhm.“ Ich ließ die Schultern hängen.
„Und, wie haben sie’s aufgenommen?“ Sie kam zu mir herübergelaufen und stemmte die Hände in die Hüften, was den Worten bei ihrer kleinen Statur mehr Nachdruck verlieh. Sie wusste um die merkwürdige Situation in meinem Elternhaus und hatte mich in den vier Jahren, die wir nun schon zusammenlebten, so gut kennengelernt wie beinahe niemand vorher.
„Nicht wirklich gut.“ Seufzend klappte ich den Laptop zu, der vor mir auf dem Bett lag und immer noch dasselbe traurige Bild zeigte.
„Oh, Eric …“ Sie überbrückte die kurze Distanz, die noch zwischen uns war, indem sie sich zu mir auf das Bett setzte, mich in den Arm nahm und einen Kuss auf meine Stirn hauchte. Mein trauriges Lächeln sah sie nicht, kein Danke verließ meine Lippen, aber ich wusste, dass ich es nicht laut aussprechen musste.
„Komm mal mit“, murmelte sie und nahm meine Hand in ihre, um mich vom Bett zu ziehen.
„Nein“, quengelte ich. „Ich will nicht.“
Ihr ungeduldiger Blick ließ mich nach kurzem Überlegen doch nachgeben und so folgte ich ihr aus meinem Zimmer heraus, den Flur entlang und in die kleine Küche, die wir uns teilten. Unser Mitbewohner Alex lehnte an der Küchenzeile und schlürfte aus seiner Tasse.
„Alex“, stieß Mia aus. „Hör auf, du weißt genau, wie sehr ich dieses Geräusch hasse!“
„Was meinst du, weshalb ich …“, doch er unterbrach sich selbst, als ich hinter Mias pinkem Haarschopf ins Zimmer geschlurft kam. „Was ist denn mit dir passiert?“
Mein stummes Kopfschütteln sollte ihm signalisieren, dass ich gerade alles andere als darüber reden wollte. Zum Glück beließ es Alex dabei und löcherte mich nicht weiter, sondern blickte erwartungsvoll zu Mia. Sie bugsierte mich auf einen Stuhl an dem ramponierten Holztisch, der an einer der kahlen, weißen Wände stand, und forderte ihn auf, mir ebenfalls eine Tasse Kaffee einzuschenken – das Grinsen in ihrem Gesicht verhieß nichts Gutes.
„Also …“, begann Mia und ich umklammerte hilflos meine Tasse. „Heute Abend werden wir ausgehen und du kommst mit.“
Wahrscheinlich konnte sie an meiner Mine erkennen, dass ich nicht begeistert war. Sie beugte sich über die Tischplatte zu mir herüber und grinste weiter.
„Komm schon, Eric! Es ist doch nur eine Bar, nichts Aufregendes!”
Alex nickte nur zustimmend, bevor er einen letzten Schluck aus seiner Tasse nahm und sie dann in die Spüle neben sich stellte. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte er sich vor den Tisch.
„Ins ‚DD‘ verirren sich an einem Freitagabend sowieso nur eine Handvoll Leute, die sich überhaupt nicht für dich interessieren werden.“
Bei dem Namen der Bar wurde ich hellhörig, versuchte aber, weiterhin missmutig dreinzublicken. Die Kneipe war nicht weit von meiner neuen Arbeit entfernt, bei der ich erst vor wenigen Tagen angefangen hatte – ein kleiner Lebensmittelladen um die Ecke. Und soweit ich es bisher beurteilen konnte, waren im „Devils Doorstep“ ausschließlich Biker unterwegs.
„Ich glaube, bei dir ist wirklich was schiefgelaufen, Alex.“ Mia sah ihn kichernd an und er streckte ihr die Zunge entgegen. Sie spielte auf Alex Sunnyboy-Ausstrahlung an, die so überhaupt nicht zu seinem Musikgeschmack passte. Ich musste lächeln, was den beiden nicht verborgen blieb.
„Gib dir einen Ruck.“
Das aufmunternde Lächeln, das sie mir zuwarf, veranlasste mich dazu, zaghaft zu nicken. Alex’ breites Grinsen hatte meistens nichts Gutes zu bedeuten und ich konnte schon jetzt vor mir sehen, dass der Abend von Alkohol geprägt sein würde. Aber vielleicht war es genau das, was ich gerade brauchte.
***
„Noch eine Runde, bitte!“
Ich stöhnte belustigt auf, als die junge Bedienung an unserem Tisch vorbeikam und Alex mehr von den Shots bestellte, die mir immer noch in der Kehle brannten. Wenn ich vorhergesehen hatte, dass der Abend viel Alkohol beinhalten könnte, dann war das völlig untertrieben gewesen – ich war froh über das Abendessen, das wir bestellt hatten.
In den letzten Wochen war mein Leben unter dem Motto „Eat, Sleep, Learn, Repeat“ nicht gerade prickelnd gewesen, aber als Student hatte ich keine Wahl. Was sollte ein Abend schon ändern, wenn es morgen wieder von vorne losging.
Die Bar, in die mich die beiden entführt hatten, war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Rustikale Wandverkleidungen, Metallschilder von Whiskey- oder Biermarken an den Holzbalken, abgenutzte Tische und Stühle, ein gut gefülltes Alkoholregal und eine überraschend gute Küche. Die laute Rockmusik, die aus den Lautsprechern heraus den Raum erfüllte, rundete das Bild ab und, obwohl ich nicht der Typ für sowas war, gefiel es mir hier auf seltsame Art und Weise. Ich fühlte mich wohl unter den ganzen Bikern, die hier ihr Bier tranken, oder den Menschen, die von außerhalb der Stadt herkamen und den Abend ausklingen ließen.
„So, bitte schön.“ Die junge Frau, die Alex mit einem auffälligen Augenaufschlag anlächelte, stellte ihr Tablett auf unserem Tisch ab und verteilte die Getränke unter uns dreien. Mia musste die Spannung zwischen den beiden ebenfalls gesehen haben, weil sie ihm verheißungsvoll zuzwinkerte, sobald die Bedienung wieder gegangen war.
„Was?“, fragte er irritiert.
„Ach, nichts“, antworteten Mia und ich wie aus einem Mund und hoben unsere Gläser. Die braune Flüssigkeit in den Schnapsgläsern schwappte sanft hin und her, als wir sie aneinanderstießen und dann an unsere Lippen führten. Trotz der vier, fünf Gläschen, die ich heute schon davon getrunken hatte, schüttelte es mich immer noch, wenn der Schnaps meine Kehle brennen ließ.
Mein Smartphone, das mit dem Display nach oben auf dem Tisch lag, begann plötzlich zu vibrieren und ich blickte neugierig auf den Bildschirm. Als ich den Namen erkannte, der darauf stand, verging mir allerdings das Lachen. Ich stand auf und warf Mia einen vielsagenden Blick zu, während ich nach draußen vor die Tür ging, um den Anruf anzunehmen.
„Ja?“, meldete ich mich.
„Eric!“ Die Stimme meiner Mutter klang seltsam erleichtert.
„Hi, Mom.“
„Warum hast du heute Nachmittag nicht zurückgerufen?“
Ja, warum hatte ich nicht zurückgerufen? Vielleicht wegen dem, was mir in diesem kurzen Ausbruch der Wut rausgerutscht war?
„Die Verbindung war schlecht“, antwortete ich kurz angebunden.
Für einen winzigen Moment hatte ich die Hoffnung, dass die letzten Sätze, die ich zu ihnen gesagt hatte, nicht mehr angekommen waren und wir die ganze Sache einfach vergessen konnten. Trotz des befreienden Gefühls, das ich dabei empfunden hatte, bereute ich es.
„Ich habe versucht, mit deinem Vater darüber zu reden, was du heute gesagt hast.“
Und da war das klitzekleine bisschen Hoffnung, das ich gehabt hatte, sofort im Keim erstickt worden. Es wäre schön gewesen, zu glauben, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war.
„Was genau meinst du?“, fragte ich unschuldig, obwohl die Worte, die ich gesagt hatte, in meinem Kopf hallten. Ich bin schwul.
„Dass du homosexuell bist, Eric.“ Eine kurze Pause, in der mir das Herz beinahe stehen blieb. „Ich liebe dich, das weißt du doch. Aber dein Vater braucht vielleicht noch einen Moment länger.“
Der angehaltene Atem in meinen Lungen entwich mit einem erleichterten, zittrigen Seufzen. So viele Jahre hatte ich mich davor gescheut, ihnen zu sagen, was wirklich in meinem Kopf vorging. Eigentlich eher davor, es meinem Vater zu sagen. Die Reaktionen, die ich mir ausgemalt hatte, waren zwar weit schlimmer als das, was tatsächlich passiert war, aber sie taten genauso sehr weh.
Ich ging auf dem Gehsteig vor dem „DD“ hin und her, während ich weitersprach. Die wenigen Straßenlaternen machten die schummrige Gegend der Bar nicht gerade angenehmer, aber ich begrüßte die Einsamkeit.
„Danke, dass du das sagst. Trotzdem wissen wir beide, was Dads Problem ist.“
Ich lief über den dunklen Asphalt, der links von einer brüchigen Straße und rechts von der ziegelroten Fassade der Kneipe gesäumt war. Durch die Fenster konnte ich nur verschwommene Umrisse und schattenhafte Gestalten erkennen.
„Das hat nichts mit …“
„Ich will jetzt nicht über dieses Thema reden“, unterbrach ich meine Mutter bestimmt.
„Ist gut.“
„Bis bald, Mom.“
Als ich auflegte und mein Handy zurück in meine Hosentasche stecken wollte, machte ich auf dem Absatz kehrt, stockte aber mitten in der Bewegung. Mein nachdenkliches Hin-und-her-Wandern hatte mich zum Ende des Gebäudes geführt und ich stand nun vor einer Seitenstraße, die zwischen dem „DD“ und dem nächsten Haus zu einem Hinterhof führte. Dort, neben einem Müllcontainer und einer rostigen Metalltür, lehnte jemand an der Wand. Ein großer, kräftiger Kerl, der vielleicht zu viel Alkohol gehabt hatte.
Jetzt, wo ich nicht mehr die Stimme meiner Mutter im Ohr hatte und mir der nächtlichen Stille bewusst wurde, hörte ich die eindeutigen Geräusche, die zur mir herüberdrangen. Unterdrücktes Stöhnen, Küsse, raschelnde Kleidung. Verdammt, zwischen dem Kerl und der Wand stand noch jemand und sie waren mehr als beschäftigt.
Ich sollte mich, so schnell es ging, aus dem Staub machen und die Privatsphäre dieses intimen Moments respektieren, doch ich konnte meinen Blick nicht losreißen. Erst recht nicht, als der Größere von beiden den Kopf in meine Richtung drehte und mich mit durchdringenden Augen anstarrte. Ein Schauer der Erregung zuckte durch mich, als ich erkannte, dass die „Frau“, für die ich die Person gehalten hatte, ein jüngerer Mann in meinem Alter war, der sich an den starken Körper seines Gegenübers schmiegte. Der gepflegte Bart und die kantigen Gesichtszüge ließen mich noch einmal erschaudern.
So schnell ich konnte, flüchtete ich vor dem Anblick, der sich mir bot, meine Wangen glühten und mir war heiß, aber das kam bestimmt nicht von der lauen Nachtluft. Während ich zurück zur Tür lief, dachte ich absurderweise darüber nach, dass ich gerne anstelle des jungen Mannes gewesen wäre.
***
Auf dem Asphalt vor der Bushaltestelle hatten sich den Tag über große Regenpfützen gebildet. Und natürlich stieg ich direkt in eine, als ich den Bus verließ, der mich vom College in die abgelegenere Gegend brachte, in der unsere WG lag. Der Tag war anstrengend und nervenaufreibend gewesen, am liebsten wäre ich ins Bett gefallen und hätte bis morgen früh durchgeschlafen.
Aber heute Abend hatte ich eine kurze Schicht in „Grey’s Grocery“, ein kleiner Laden, in dem ich letzte Woche angefangen hatte. Eigentlich sollte ich lernen bei all den Tests, die in den nächsten Wochen anstanden. Vom Lernen ließen sich aber nun mal keine Rechnungen bezahlen.
Meine Mitbewohner waren nirgends zu sehen, als ich nach Hause kam. In meinem Zimmer zog ich mir meine Arbeitskleidung über und in der winzigen Küche aß ich die Reste vom gestrigen Abendessen, um den Tag über etwas in den Magen zu bekommen.
„Grey’s Grocery“ war eine Straße weiter und die Stelle nicht der Traumjob, den ich mir ausgesucht hätte. Aber der Buchladen, in dem ich vorher gearbeitet hatte, war pleitegegangen und für die wenigen Monate, die ich noch hier sein würde, war es egal, wo ich mein Geld verdiente. Es war nur meistens kein gutes Zeichen, wenn der Chef höchstpersönlich im Geschäft anwesend war – zumindest das wusste ich nach einer Woche dort schon.
Ich versuchte, dem Manager mit der Halbglatze und der unangenehm großen Brille aus dem Weg zu gehen, soweit es eben möglich war, und räumte die Regale im hintersten Bereich des Raumes ein. Dabei stellte ich mir vor, dass es Bücher wären, die ich an ihren Platz zurückstellte, und nicht Dosenfutter oder zuckerfreie Energydrinks, wie es wirklich der Fall war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, vielleicht ließ ich mir auch extra lange Zeit, ging ich zum nächsten Regal über, bemerkte aber aus dem Augenwinkel einen großen Mann mit aschblonden Haaren, der mich still beobachtete. Ich wollte nicht auffällig hinsehen, also tat ich so, als würde ich etwas aus dem Karton neben mir nehmen. Aber er stand nicht mehr an der Ecke zum Gang, er kam mit großen Schritten zu mir herübergelaufen. Tief ein- und ausatmend drehte ich mich wieder zum Regal und hoffte, er würde vorbeigehen. Denn jetzt, wo ich ihn von vorne gesehen hatte, wusste ich nur allzu gut, woher er mir bekannt vorkam.
„Hey“, sagte eine tiefe Stimme direkt neben mir und ich zuckte zusammen. „Warst du nicht am Wochenende beim ‚DD’?“
Langsam drehte ich den Kopf nach links, in die Richtung, aus der er mich angesprochen hatte, und blickte in haselnussbraune Augen, kantige Gesichtszüge und eine verwirrte Miene, die meiner wahrscheinlich sehr ähnlich war. Ein einfaches schwarzes Shirt und eine Jeans rüttelten mein Bild von seinem Biker-Image allerdings durcheinander. Ich nickte zur Antwort nur, war mir nicht sicher, wie meine Stimme klingen würde, wenn ich den Mund aufmachte.
Der Mann, der ein paar Jahre älter als ich selbst aussah, kam noch einen kleinen Schritt näher und blickte unauffällig den Gang hinunter, als wollte er sich versichern, dass wir alleine waren.
„Was du da gesehen hast, behältst du besser für dich, okay?“ Der bestimmende Unterton in seinen Worten war mir nicht entgangen und so kniff ich nur die Augenbrauen zusammen.
„Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, es der halben Stadt zu erzählen“, sagte ich und bemühte mich, wie er gleichermaßen abweisend und ernst zu klingen. Die Gesichtszüge meines Gegenübers entspannten sich sichtlich, als ich das gesagt hatte, und er gab seine Lauerstellung auf.
„Du bist neu“, stellte er fest. Ich war wieder verwirrt, weil ich nicht wusste, was er mir damit genau sagen wollte.
„Ist erst meine zweite Woche“, gestand ich. Hinter einem der Regale sah ich nun den Manager zu mir herübersehen, der ernst den fleischigen Kopf schüttelte.
„Weniger quatschen, mehr arbeiten!“, rief er uns zu.
Der Blonde warf ihm einen finsteren Seitenblick zu, aber ich sah es als Chance, mich mit einem entschuldigenden Blick wieder den Regalen zu widmen. Er sagte ebenfalls kein Wort mehr, griff sich aus dem Kühlregal hinter mir irgendetwas und verschwand dann.
***
Zu dem Ausflug ins „Devils Doorstep“ hatte ich mich nur überreden lassen, weil mein Tag echt beschissen gewesen war und ich Ablenkung gebraucht hatte. Aber nie hätte ich erwartet, dass es mir die kleine Biker-Kneipe so angetan hatte, dass ich freiwillig ein zweites Mal hingehen würde. Vielleicht war es die entspannte Stimmung gewesen oder das gute Essen – beides Dinge, die man in einem Club in der Innenstadt eher nicht finden würde.
Nach meiner Schicht hatte ich mir im Pausenraum des kleinen Ladens ein anderes Shirt angezogen und war dann direkt zum „DD“ gelaufen. Mia und Alex wollten mich hier treffen. Es war mir auch relativ egal, dass ein ganzer Ordner voller Lernstoff für die Klausuren zu Hause wartete – mein Kopf fühlte sich an, als würde er bei jeder weiteren Information, die ich in ihn hineinstopfte, platzen.
In der kleinen Kneipe war wider Erwarten wenig los und meine Mitbewohner waren auch nirgends zu sehen. Also bestellte ich mir ein Bier an der Bar und sah mich nach einem freien Tisch um, der möglichst abgelegen war. Nachdem ich die Hand nach der kühlen, grünen Flasche über den Tresen hinweg ausgestreckt hatte, ließ ich den Blick schweifen und etwas, besser gesagt jemand, fiel mir sofort ins Auge. Der blonde Kerl, den ich bereits letzte Woche hier gesehen hatte, und der mir vor ein paar Tagen auf der Arbeit begegnet war, starrte zu mir herüber.
Das Gefühl, seinen Blick auf mir zu spüren, war irgendwie unangenehm und irgendwie auch nicht. Es kribbelte auf meiner Haut, während ich versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Ich war unsicher, ob ich etwas zu ihm sagen sollte, und wusste ich nicht einmal, über was ich mich mit ihm unterhalten könnte.
Na? Spaß gehabt am Wochenende hinter der Bar?
Den Kopf über mich selbst schüttelnd wollte ich zu dem freien Tisch aufbrechen, den ich im Auge gehabt hatte, aber ein vorsichtiges Rufen ließ mich innehalten.
„Hey!“ Der Blonde winkte mich zu sich herüber, klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben sich auf der Bank. Skeptisch und dennoch neugierig ging ich in seine Richtung.
„Willst du dich kurz setzen?“, fragte er und machte noch einmal dieselbe Bewegung mit der Hand auf der Bank. Ich war unsicher, ob ich das wirklich wollte. Wer war er und was wollte er von mir? Sich vergewissern, dass ich nichts über seinen kleinen „Ausrutscher“ am letzten Wochenende ausplauderte? Anstatt den freien Platz neben ihm auf der Bank zu nutzen, zog ich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ mich darauf sinken.
„Ich hab mich noch gar nicht richtig vorgestellt.“ Er streckte mir seine Hand entgegen. „Colton.“
Zögerlich und von dem vorsichtigen Lächeln auf seinen Lippen fasziniert, ergriff ich diese. Die Wärme seiner Haut verwunderte mich, fühlte sich gut an meiner an, schön.
„Eric.“
„Hi, Eric.“
Viel zu lange ließ ich meine Hand in seiner, bevor ich die angenehme Berührung löste und nervös einen Schluck von meinem Bier nahm. Colton sah mich an, sein Mundwinkel zuckte, als wäre er über mich amüsiert.
„Bist du oft hier?“, fragte ich dann, um das merkwürdig unangenehme Gespräch am Laufen zu halten.
„Ab und zu“, antwortete Colton. „Ist ganz nett, um nach Feierabend abzuschalten.“
Ich nickte nur und studierte sein Gesicht so unauffällig es mir möglich war. Der Bart war gepflegt und in Form gebracht, die blonden, etwas längeren Haare streng nach hinten gekämmt. Und obwohl hier und da graue Härchen aufblitzten, machte er einen recht jungen Eindruck auf mich – vielleicht war er zehn oder maximal fünfzehn Jahre älter als ich. Unter dem schwarzen, langärmligen Shirt, das er trug, zeichneten sich deutlich die Muskeln ab. Fasziniert dachte ich darüber nach, dass ich ihn durchaus attraktiv fand.
Die Stille zwischen uns dehnte sich aus, bis die Tür der Kneipe aufging und Alex und Mia hereinkamen. Ich hatte es nicht als kühles Schweigen empfunden, weil ich ihn so noch eine Weile unauffällig beobachten konnte. Wahrscheinlich hatte er dasselbe getan. Als mich die beiden Neuankömmlinge entdeckten, sprang ich von meinem Stuhl auf, griff nach meinem Bier und sah Colton unschlüssig an.
„Bis bald“, war das Einzige, das ich herausbrachte.
Er lächelte nur, nickte zustimmend und ich genoss den Anblick der zarten Fältchen, die sich dabei an seinen Augen bildeten.
„Wer war das denn?“, flüsterte Mia, nachdem ich mich an den Tisch zu meinen beiden Mitbewohnern gesetzt hatte.
„Ach, ich hab ihn nur bei der Arbeit getroffen.“ Ich machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, als wäre es irgendeine Nebensächlichkeit.
„Er sieht gut aus.“
Unauffällig blickte ich noch einmal zu ihm, er begrüßte gerade eine Gruppe Männer, die zeitgleich mit Mia und Alex hereingekommen waren. Aber ich würde niemals in ihrer Gegenwart zugeben, dass ich das genauso empfand.
„Hm“, machte ich stattdessen und winkte die Bedienung zu uns herüber, ohne ein weiteres Wort über Colton zu verlieren.
***
Die Vorlesungen, mit denen ich nun schon den gesamten Vormittag verbracht hatte, waren todlangweilig. Trotzdem machte ich mir Notizen und stellte Fragen, wo es nur ging. Nur weil meine Stimmung so kurz vor den Prüfungen immer im Keller war, wollte ich mir dadurch nicht die Note versauen. Und mit dem Blick darauf, dass es vorerst die letzten Arbeiten waren, die ich schrieb, war es vielleicht ein bisschen weniger anstrengend.
Als ich mich um die Mittagszeit mit Mia und Alex draußen auf dem Hof traf und wir uns bei einem Stand Kaffee und ein kleines Mittagessen besorgten, war ich dennoch froh, aus dem Gebäude raus zu sein.
„Man, ich hasse diese Prüfungszeit“, spottete Alex. „Alle sind schlecht drauf und genervt.“
Mia kicherte und ich sagte nichts dazu. Schließlich gehörte ich auch zu den Menschen, die Alex in dieser Zeit auf die Nerven gingen. Auch wenn er in derselben Situation war, wünschte ich mir oft, ich hätte seine Gelassenheit.
„Wie sieht es heute Abend mit etwas Ablenkung aus?“, fragte ich in die Runde und hoffte inständig, dass die beiden zustimmen würden. Noch einen Abend in meinem Zimmer zwischen all den Ordnern und ich würde durchdrehen.
„Heute ist doch das Abendessen mit unseren Studienkollegen …“
An Mias geknicktem Blick konnte ich erkennen, dass sie alles andere als Lust darauf hatte. Auch Alex schien nicht gerade begeistert zu sein. Die beiden hatten andere Studiengänge belegt als ich und es war ein ziemlich glücklicher Zufall gewesen, dass wir uns damals getroffen und festgestellt hatten, dass wir auf der Suche nach Mitbewohnern waren.
Ich ließ den Kopf hängen und dachte genervt an meine Unterlagen zu Hause. Ich rupfte den Bagel in Stücke, den ich in der Hand hielt, und schwieg.
Je später der Nachmittag wurde, desto weniger Lust hatte ich, nach Hause zu gehen und meinen freien Abend damit zu verbringen, die Nase in Bücher und Notizen zu stecken. Der einzige Ort, an dem ich mir vorstellen konnte, etwas zu entspannen, war, und wer hätte das gedacht, das „DD“ ein paar Straßen weiter.
***
Ich stellte meinen Rucksack ab, zog mich um und hielt mich nur so lange es nötig war, zu Hause auf. Zum Glück hatten mir meine Eltern vor einer Weile ein kleines Taschengeld gegeben, sonst hätte ich mir einen weiteren Abend auswärts diesen Monat nicht mehr leisten können.
In der Bar war heute, unter der Woche, noch weniger los, als ich erwartet hatte. Ein alter Kerl mit einem schäbigen Cowboyhut hatte bisher jedes Mal, als ich hier gewesen war, am Rand des Tresens gesessen und an seinem Bier genippt. Eine Gruppe Männer traf sich auf ein Feierabendbier.
Ich hatte keinen großartigen Hunger, also ließ ich mich an einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke nieder und bestellte ein Bier. Wenn es so weiterging, würde ich in meinem letzten Jahr hier mehr trinken als in allen vorherigen zusammen. Wohnheimpartys oder betrunkene Studenten waren nicht mein Ding.
Ich ließ meinen Blick noch einmal durch den Schankraum schweifen und fragte mich im selben Moment, was ich zu finden hoffte. Einen blonden Haarschopf, breite Schultern und haselnussbraune Augen? Sicher ging ich nicht nur ins „DD“, weil Colton vielleicht auch hier war. Mit beiden Händen hielt ich das Bier vor mir umklammert und verwarf den Gedanken wieder.
Mein Kopf schlug vom Thema „gutaussehender Mann“, denn genau das war Colton, sofort eine Brücke zu dem Tag, als ich mich vor meinen Eltern geoutet hatte, und ich hasste ihn dafür. Mom hatte sich seit Tagen nicht gemeldet und ich selbst hatte auch nicht den Mut gefunden, anzurufen. Die Angst, dass mein Vater rangehen würde, war zu groß. Wirklich bereuen tat ich es nicht, dieses ganze Versteckspiel war mir schon vor Jahren auf die Nerven gegangen. Mich endlich überwunden zu haben, Klartext mit ihnen zu reden, war seltsam befreiend. Aber …
„Hey“, kam es plötzlich von links und mein Blick schnellte nach oben, blieb an Coltons kantigen Gesichtszügen hängen.
„Hi“, brachte ich hervor. Das merkwürdige Kribbeln in meinem Magen ignorierte ich. Auch wenn es meine geheime Hoffnung gewesen war, dass er hier auftauchte, hätte ich nicht erwartet, dass es so kommen würde.
„Darf ich mich setzen?“, fragte er und ich nickte, rutschte ans andere Ende der Bank, damit er sich neben mich setzen konnte. Aber genauso, wie ich es getan hatte, zog er einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich mir gegenüber nieder.
„Alles okay?“
Ich runzelte die Stirn und fragte mich, ob es so offensichtlich war, dass ich keine gute Laune hatte. Wie konnte er das erkennen, wo wir uns doch nur zwei Mal für vielleicht fünf Minuten gesehen hatten?
„Ja“, log ich und bereute es im selben Moment. „Es ist stressig im Moment, es sind bald Prüfungen.“
„Prüfungen?“ Fragend hob Colton eine Augenbraue.
„Ich studiere in der Stadt“, war meine knappe Antwort und er nickte wissend.
„Darf ich fragen, was genau?“ Überrascht von seinem Interesse an meinem Leben, schwieg ich einen Moment und überbrückte dies mit einem großen Schluck von meinem Bier. Colton beobachtete mich dabei, als würde er genau wissen, was ich da tat.
„Wirtschaftsinformatik.“
„Wow, das klingt interessant.“ Ich musste ihn erstaunt angeblinzelt haben, denn Colton lachte kurz auf. Die meisten Menschen, die hörten, womit ich die letzten Jahre meine Zeit verbracht hatte, fragten noch ein zweites Mal nach.
„Ja, das ist es“, bestätigte ich. „Aber langsam zehrt es an meinen Nerven.“
Colton nickte ernst, als wüsste er genau, wovon ich sprach. Ich traute mich nicht, zu fragen, was er für seinen Lebensunterhalt tat – über ein Studium war er sicherlich schon hinaus. Er sah für mich auch nicht wie jemand aus, der den ganzen Tag im Büro verbrachte – ihn konnte ich mir eher bei körperlicher Arbeit vorstellen. Heute trug er ein dunkles Shirt und ein Holzfällerhemd darüber, die Ärmel nach oben gerollt. Ich glaubte, die Ausläufer eines Tattoos sehen zu können, war mir im schummrigen Licht der Kneipe allerdings nicht sicher.
Wir schwiegen uns eine ganze Weile lang an, hingen unseren eigenen Gedanken nach, bevor jeder sein Getränk ausgetrunken hatte und Colton die Bedienung zu unserem Tisch rief.
„Möchtest du noch eins?“, fragte er und zeigte auf meine leere Bierflasche.
„Gerne.“
„Willst du auch was Stärkeres?“
Zu meiner eigenen Überraschung wollte ich das tatsächlich.
„Was kannst du empfehlen?“
Auf Coltons Gesicht breitete sich ein sanftes Lächeln aus und er wandte sich an die junge Frau, die nun unseren Tisch erreicht hatte.
„Zwei Bier und zwei Talisker mit Eis, bitte.“
Es war nicht zu übersehen, dass die Frau, obwohl sie geschäftig die Bestellung auf ihren Zettel schrieb, mit Colton flirtete. Ich war mir allerdings nach meiner Beobachtung am letzten Wochenende nicht mehr sicher, ob er auch daran interessiert war.