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Rostock, Stadtteil Gehlsdorf

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Das Schiff lag jetzt seit mehr als zwei Stunden wieder im Hafen, auf der anderen Seite der Warnow, dem Fluss, der die alte Hansestadt Rostock teilt, um sich dann in Warnemünde in die Ostsee zu ergießen.

Auf dem Segelschiff gegenüber regte sich nichts.

Da müsste doch langsam jemand auf die Idee kommen, in das Rigg zu klettern. Der Zeitpunkt wäre jetzt günstig. Es ist bedeckt. Unter der geschlossenen Wolkendecke flogen Fetzen von Grau. Der Tag tat sich schwer mit dem Erwachen. Sanfte Nebelzuckerwatte über dem Fluss zeigte, dass es praktisch keinen Wind gab. Ein Treiben, eher ein waberndes Gleiten. Kein Gegenlicht. Grau.

Nach seinen Erkundigungen war dieser Detlev Gelbert der Einzige, der ganz oben im Mast eine solche Reparatur ausführen konnte.

Eigentlich ein schönes Schiff.


Ein Dreimaster mit Rahen. Eine Schonertakelung, hatte er erfahren. Blauer Rumpf mit weißen Aufbauten. Der nächtliche Ausflug, den Mast hinauf, hatte ihm nichts ausgemacht, aber als er oben war, wurde ihm schon mulmig. Den Umlaufblock des Fliegersegels zu manipulieren, fiel leicht. Hoffentlich kletterte kein anderer hoch. Nur Gelbert dürfte das reparieren. Sonst verlor er ihn und die Chance war hin.

Für wenigstens einundzwanzig Tage. Der Befehl lautete jedoch auf sofortige Erledigung.

Nach dem kleinen Probetörn von gestern würde das Schiff heute gleich wieder auslaufen. Für drei Wochen. Die Zielhäfen waren nicht bekannt. Es sollte ein Crewtörn quer über die Ostsee werden.

Gelbert müsste heute sterben, hat sein Auftraggeber gesagt. Letzte Chance also. Er lag mehr als sechshundert Meter entfernt am anderen Ufer des Flusses im Schilf versteckt, leicht oberhalb eines Wanderweges, den, so hatte er herausgefunden, kaum ein Mensch benutzte. Eine Plane unter sich. Das Fernglas an den Augen und die Ohren offen. Sein Reservefluchtweg ging durch das Schilf und endete dann an einer Straßenbahnhaltestelle.

Ein Holzpflock, direkt vor ihm in die Erde gegraben, diente als Auflage für die Waffe. Das Gewehr hatte er mit einer sich selbst verdrillenden Strickkonstruktion an dem Pfahl befestigt, so wie sein Ausbilder es ihm damals im Kosovo beigebracht hatte. Er legte das Fernglas beiseite und kontrollierte zum wohl zehnten Mal den Anschlag. Die Visierung zeigte genau auf die Saling des Vormastes. Diese Saling, also dass Gestell, wo man aus den normalen Wanten, auf Höhe der unteren Rahe, zum Mastende hochkletterte, war der ideale Punkt.

Da musste Gelbert hin. Dort sollte Gelbert sterben.

Mit einem gekonnten, blickfreien Handgriff nahm er das Magazin aus der Waffe und kontrollierte wohl auch zum zehnten Mal die Munition. Das Magazin war voll, 10 Schuss, die richtige Munition. Es müsste bald losgehen. Er fügte das Magazin mit einer geradezu liebevollen, wohl dosierten Handbewegung wieder in die Waffe. Das Geräusch des Durchladens nervte ihn jedes Mal. Er liebte diese Waffe. Aber dieser Lärm entsprach nicht seinem Verständnis von Ästhetik. Dafür verfluchte er die Russen.


Das Dragunow, das wusste er, war damals in Afghanistan der große Renner der Russen. Die Amis hatten einen Heidenschiss vor dieser Waffe. Kein Scharfschützengewehr für den normalen Truppendienst konnte auf über 1200m weit tragen und war so präzis zu schießen, wie dieses Gewehr. Etwas unhandlich wegen der Länge, aber in dem Sack mit seinen Angelruten würde es niemandem auffallen. Das hatte bis jetzt auch immer funktioniert. So wie damals im Kosovo. Er war der einzige Angler im Ort, der nie einen Fisch fing. Er hatte andere Ziele als Fische. Lustig, schönes Wortspiel. Er träumte schon wieder. Das musste er sich abgewöhnen. Konzentration war nie seine Sache.

Er legte das Gewehr ab, griff zum Fernglas.

Auf dem Schiff rührte sich etwas. Das Vordeck, also der Teil des Schiffes unter dem vorderen, mit vier Rahen bestückten Mast, war plötzlich von zehn, fünfzehn Personen bevölkert. Ein kleiner Mann hielt eine Rede, zeigte ins Rigg und wies dann auf einzelne Leute. Wo war Gelbert? Da, hinter dem unglaublich großen Mädchen mit den langen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen, Haaren. Detlev Gelbert nickte dem kleinen Mann zu und ging weiter vor den Vormast. Dort war das Kabelgatt, ein Raum zu dem man einen Niedergang hinuntersteigen musste. Das hatte er schon herausgefunden, als er gestern auf dem Schiff war. Dort befanden sich auch die Arbeitsgurte. Einen solchen Sicherungsgurt müsste Gelbert sich holen, um ins Rigg zu klettern.

Der kleine geschwätzige Sachse, mit dem er vor ein paar Tagen gesprochen hatte, hatte vor allem immer wieder den Stand der Sicherheit an Bord hervorgehoben. Nicht jeder durfte alles. Nein, da gab es ganz besondere Hierarchien. Ins Rigg durften nur vier oder fünf Mitglieder der Crew zum Arbeiten. Segelpacken und so, das durften auch andere. Aber Ausbesserungen vornehmen, das durfte nur eine, durch den Skipper handverlesene Truppe. Genau, das musste der kleine Mann mit der bunten Strickmütze sein, der die Anweisungen gab.

Skipper, das war das Wort. Schön, dass man in einem solchen Beruf auch noch etwas dazu lernte. „Skipper“, ein schönes Wort.

Gelbert tauchte wieder auf. Er hatte kein Sitzgestell um, sondern so einen Gurt, wie ihn Feuerwehrleute trugen. Er hängte sich eine Tasche um und stieg auf das Schanzkleid des Schiffes. In der Tasche musste sich das Werkzeug befinden. Amüsiert dachte er daran, dass er Gelbert ruhig erst einmal seine Arbeit machen lassen wollte. Dann musste keiner von den Anderen hoch. Ja, das war eine gute Idee. Wie hilfsbereit er doch sein konnte, wenn er sich Zeit nahm. So würde er das machen.

„Also, lass ich den Gelbert mal seine Arbeit machen und dann erledige ich meine Arbeit.“

Gelbert erstieg die Wanten, war schon auf halber Höhe, da löste sich der Gurt seiner offenbar schweren Tasche. Die Tasche sauste in die Tiefe. Schlug direkt neben dem kleinen Mann, dem Skipper auf. Der reckte die Faust gegen Gelbert und zeterte. War stinkend sauer. Scheiße verdammt, Gelbert stieg wieder ab. Sollte er jetzt schießen. Nein, auf die Entfernung ein sich bewegendes Ziel. Da bräuchte er wahrscheinlich einen zweiten Schuss. Das ist Mist. Dann könnte man ihn lokalisieren. Nein, er musste warten.

Gelbert war wieder an Deck. Mann, hat der die Hosen voll. Der war ja plötzlich kleiner als der Skipper. Entschuldigte sich, zog die Schultern ein, wie ein kleiner Junge. Andere hatten ihm schon eine neue Tasche gereicht. Der Skipper verschwand, mit den kurzen Armen wedelnd. Gelbert war schon wieder auf das Schanzkleid gestiegen. An Steuerbord.

„Na warte, mein Freund, dass du dem Skipper einen solchen Schrecken eingejagt hast, ist dein letzter Fehler. Dafür sorge ich.“

Gelbert kletterte umständlich auf die Saling. Jetzt wechselte der Scharfschütze vom Fernglas zur Zieloptik der Waffe. Der Schütze im Gras auf der Plane, in korrekter Anschlagshaltung liegend, hörte ein Surren. Blickte noch mal kurz aus seinem Versteck. Niemand zu sehen. Den Platz hatte er perfekt ausgesucht. Er brauchte nur etwas den Kopf zu heben und konnte über das Schilf sehen. Er konnte den Weg zwar nicht einsehen, aber jeder Mensch würde über das Schilf hinweg sichtbar sein. Das Surren war noch da, aber er sah nichts. Vielleicht eine Geräuschreflektion eines der zahlreichen mit Elektromotoren betriebenen Anglerboote, die er vorhin weiter links, viel weiter links, gesehen hatte. Ja das musste es sein, so ein blöder Elektromotor.

Konzentration auf die Aufgabe, also wieder der Blick zum Schiff.

Gelbert stieg weiter hoch. Aber der manipulierte Block war doch auf Höhe der Saling?



Wieso kletterte der weiter? Nicht, dass diese Segelleine weiter oben noch einen Block hatte? Daran hatte er nicht gedacht. Gelbert hatte nur noch drei Meter und dann wäre Schluss mit Klettern. Jetzt stand er oben auf der letzten Rah. Und kletterte weiter. Das gab es doch nicht. Die Waffe war nicht mehr in der Visierung, nicht in diesem Winkel.

„Scheiße.“

Der Mann in der Takelage des Segelschiffes rüttelte an einem Seil, kletterte wieder etwas tiefer.


Jetzt ginge es gerade so.

Er hängte die Tasche ab und befestigte sie an der Wantenleiter. Dann holte er etwas aus der Tasche. Eine Eisensäge. Kein Wunder, dass der Skipper so fuchtig geworden war. Wenn er die auf den Kopf bekommen hätte. Ohne Skipper wäre der Segeltörn wohl ausgefallen. Aber das Segeln würde wohl sowieso ausfallen.

Das Summen war wieder da. Ein schneller Blick. Niemand zu sehen. Es wurde lauter.

Jetzt nur noch auf sein Ziel, auf Gelbert konzentrieren. Der war jetzt wichtig.

Der sägte. Hatte sich mit dem Haken, der Sicherung vom Gurt, am Mastkopf festgemacht.

Detlev Gelbert, dein Ende naht. Einatmen. Entsichern. Das Summen. Egal. Scheiß Angler. Ausatmen. Einatmen. Genau auf den Kopf zielen. Luft anhalten und langsam durchziehen. Der Schuss bricht. Was für ein Lärm. Warum bauen die Russen nicht mal leise Waffen?

Neu anvisieren. Gelbert hängt mit dem Kopf nach unten am Mast. Dann war es ein Treffer. Hättest du Idiot nicht so einen blöden Gurt genommen, sondern eine richtige Sitzsicherung, würdest du jetzt nicht so bescheuert über Kopf hängen.

Detlev, das sieht doch Scheiße aus.

An Deck des Schiffes hatte noch niemand etwas bemerkt. Die Säge, durch einen Strick am Handgelenk des Toten gesichert, pendelte unter ihm. Ein Glück, dachte der Schütze. Hätte ja was passieren können, wenn er die nicht gesichert hätte. Das Summen hörte auf. Wo war dieses verdammte Summen.

„Was machen Sie da?“ Er sah einen Mann im Rollstuhl. Wo kam der her. Er hatte doch immer wieder kontrolliert. Jetzt war alles egal. Schnell die Waffe schnappen und weg. Das Fernglas hing um den Hals. Die Plane, die alle Spuren aufnehmen sollte, hatte er schon in der Hand und die Hülse der abgeschossenen Patrone längst verstaut. Das Gewehr ging nicht ab. Der Drill des Befestigungsknotens, der den Lauf hielt, war zu steif, hatte sich überdreht. Er müsste schneiden. Wo war das Messer.

„Was machen Sie hier?“

Der Mann im Rollstuhl war kräftig. Breit gebaut. War er allein?

„Horst, Felix, kommt schnell!“ Er fuhr den Rollstuhl näher heran.

Gleich zwei Begleiter. Na fantastisch. Zum Glück hatte er seine Maske auf und das Schilf war so hoch, dass er durch den Mann im Rollstuhl nicht hatte erkannt werden können. Geduckt lief er den Fluchtweg entlang. Das Gewehr musste er zurücklassen, mit der Angelrutentasche. Sonst hatte er alles dabei. Die Handschuhe sorgten dafür, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Nicht einmal irgendwo hingespuckt hatte er, gelernt ist gelernt. Bis auf die Waffe, ließ er nichts zurück.

Verdammt, er hatte versagt. Aber der Zeitdruck. Er rannte gebückt den Weg entlang.

„Felix, Horst, hier bin ich!“

Er rannte schneller. Wäre der Zeitdruck nicht gewesen, dann hätte er herausfinden, wo das Schiff hinfährt, und alles in Ruhe erledigen können. Aber der Boss hatte heute früh angerufen und nur gesagt: „Sie können Detlev jetzt auszahlen, die Lieferung ist in Ordnung. Wenn Sie mir heute noch Bescheid geben könnten. Nehmen Sie diese Nummer und dann können Sie das Handy irgendwo entsorgen.“

Es war alles erledigt. Vom Verlust seines Werkzeuges sagte er jetzt besser nichts. Nur die vereinbarte SMS. Während er rannte, überlegte er. Nur erst einmal zu dieser verdammten Straßenbahn. Ein parkendes Auto wäre zu sehr aufgefallen. Hier gab es keine wirklichen Parkplätze. Die Haltestelle kam in Sicht. Endlich.

Hinter ihm immer wieder diese Rufe nach Horst und Felix.

Die Maske hatte er schon abgenommen, die Plane zusammengefaltet, beides schon in seiner Weste verstaut. Das Handy, wo ist das Handy? Ruhig bleiben.

Während des Laufens, jetzt mit aufrechten Schritten, wie ein zu schneller Wanderer, suchte er das Handy. Endlich kam die Haltestelle in Sicht. Das Handy fand sich in der linken, äußeren Brusttasche der Weste. Einschalten, PIN, SMS aus dem Speicher und absenden. SMS löschen, noch mal kontrollieren ob alles gelöscht ist. Handy ausschalten. Chip rausnehmen. Akku abnehmen. Handy in hohem Bogen in das vorher erkundete Sumpfloch werfen. Akku in der anderen Richtung entsorgen. Chip über den in die Weste eingenähten Magneten ziehen, zerbrechen und in die Erde treten. Handschuhe links herum ausziehen, wegen der Schmauchspuren, und verstauen. Weiterlaufen. Den Fahrschein aus der Hosentasche holen und schneller. Da kam eine Bahn. Schneller. Geschafft.

Er spürt den leichten Luftzug auf seiner Stirn. Das hieß, er schwitzte. Keine anderen Fahrgäste, die hier einsteigen wollen. Schwein gehabt.

Die Bahn kam. Er traute seinen Augen nicht. „Betriebsfahrt“ stand in der Anzeige über dem Fahrer.

„Horst, Felix, kommt ihr her!“, hatte der Mann im Rollstuhl gerufen. So rief man doch keine Freunde. Da kam die nächste Bahn, zwar in die andere Richtung, aber jetzt ist alles egal. Er wechselte die Straßenseite. Die Straßenbahn fuhr ein. Er drückte auf den Knopf. Die Tür öffnete sich. Er entwertete den Fahrschein, setzte sich und stand verwundert gleich wieder auf. Der Typ im Rollstuhl.

Er hatte seine Angeltasche auf seinem Schoß. Das Gewehr war da drin. Das erkannte er sofort. Und dann kamen Horst und Felix in sein Sichtfeld. Die beiden altersschwachen Hunde schleppten sich den Weg entlang und konnten dem elektrisch betriebenen Rollstuhl gerade eben mal so folgen.

Er setzte sich, nein, er brach vor verwunderter Erschütterung zusammen und fuhr Straßenbahn.

Horst und Felix.

Hunde.

Er, der Kleine, hatte seine Waffe zurückgelassen wegen ein paar Hunden und einem Krüppel im Rollstuhl.

Kollateraldesaster

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