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Schulmeister Günther

Er wurde nicht nur "der alte Günther" genannt, er war auch tatsächlich hochbetagt und hatte nach eigenem Bekunden drei Kriege, drei Mal die Pest und drei Frauen überlebt.

"Und der Krieg und die Pest waren nicht das Schlimmste, das ich überstanden habe...", fügte er gerne an.

Die Erwachsenen lachten an dieser Stelle, aber ich habe damals nicht verstanden, worüber sie sich amüsiert haben.

Heute habe ich selber schon meine zweite Frau und bin seit immerhin sieben Jahren mit ihr verheiratet. Manchmal glaube ich zu wissen, was er gemeint hat...

Man erzählte sich, dass er in jüngeren Jahren die Knaben reicher Familien im Elternhaus unterrichtet hatte, aber dann war er wohl zu alt geworden und kam mit den verwöhnten Bälgern, wie meine Mutter sich auszudrücken pflegte, nicht mehr zurecht.

Der Herzog soll ihm in Anbetracht seiner Verdienste eine kleine Leibrente ausgesetzt haben, von der er eher bescheiden bei uns im Dorf leben konnte.

Er bewohnte ein Haus am Dorfanger mit zwei Stuben, aber ohne Frau. Eine der Kätnerinnen ging jeden Morgen zu ihm und richtete für ein kleines Geld den Haushalt.

So ganz konnte er wohl auf das Lehrerdasein nicht verzichten, denn unverdrossen versammelte er jeden Morgen uns Dorfbuben in seiner hinteren Stube, um uns das Rechnen, Lesen und Schreiben beizubringen. Zumindest den Buben, deren Eltern bereit und in der Lage waren, dafür zu bezahlen.

Meine Mutter war dazu eigentlich nicht bereit, schließlich war sie durchaus fähig und in der Lage, uns das Schreiben und Rechnen selber beizubringen.

Aber in dieser Frage lernten wir einen ganz neuen Hans Adam kennen.

"Die Buben gehen zum Günther, und dabei bleibt es!", entschied er beim Abendessen.

"Aber Hans, wie kannst du für so etwas das Geld zum Fenster hinauswerfen! Das kommt nicht in Frage!", ließ meine Mutter nicht nach.

"Ich sage, es bleibt dabei", brummte Hans und tunkte sein Brot in die warme Milch.

Die Mädchen lernten zu Hause, was sie brauchten, um ein Dokument zu unterschreiben oder Eier abzuzählen.

Wir Buben gingen zum Günther.

Mein Bruder Henrich musste mit, was ihn nicht froh machte.

Er hatte von meiner Mutter zusammen mit unserer Schwester das Rechnen, Schreiben und Lesen gelernt und sah nicht ein, was er noch mehr benötigen sollte, so dass er maulend und murrend morgens mit mir zum Güntherschen Haus ging.

Sieben Jungs waren wir, ich gerade sechs, der Älteste um die vierzehn Jahre alt.

Von uns sieben Schülern war Rheyn der Fleißigste.

Und der Beste im Rechnen.

Er war leicht rothaarig, hatte Sommersprossen und klein und schmächtig gebaut.

Er war immer sehr ordentlich gekleidet mit kurzer Hose, sauberen Strümpfen, einem Hemd und einer dicken Strickjacke aus grauer Wolle mit Zopfmuster.

Dazu trug er Stiefel aus schwarzem Leder und keine Holzpantinen wie die Bauernjungen.

Sein Vater war der Gutsverwalter, der im Krieg nicht bei der kämpfenden Truppe eingesetzt werden konnte, weil er auf dem Gut unabkömmlich war.

Dadurch hatte er Zeit gehabt, sein Haus in Ordnung zu halten und sich um die Ernte zu kümmern.

Er rümpfte gern die Nase, wenn er an den so jämmerlich verfallenen und schmutzigen Hütten der Kotsassen vorbeikam.

Außerdem sah er es nicht gern, dass sein Sohn mit den verwahrlosten Bauernlümmeln in der Güntherschen Stube saß.

Hätte er eine Möglichkeit gesehen, ihn auf andere Weise unterrichten zu lassen, er hätte sie sofort ergriffen.

Der alte Herr Günther aber war, allen Angeboten zum Trotz, nicht zu überreden, dem Rheyn Privatunterricht zu erteilen.

"Das ist nicht gut für den Jungen", erklärte er dem Vater, der das nicht verstehen wollte.

"Es ist so schon schwierig genug für ihn, sich gegen die Meute durchzusetzen. Man muss es ihm nicht noch schwerer machen, indem man ihn von der kalten Wirklichkeit fernhält. Er muss lernen, sich in der Welt zu behaupten, sonst wird er untergehen.“

Rheyn war das geborene Opfer.

So fleißig und strebsam, klein und schmächtig wie er war, musste er uns Jungen zum Hänseln geradezu herausfordern.

Gewehrt hat er sich nie, so dass er gerne mal herumgeschubst wurde. Wenn er sich dabei die Knie blutig stieß, weinte er nur leise vor sich hin.

Seltsamerweise mussten wir nie wegen Rheyn beim alten Günther antanzen und uns "den Hintern versohlen lassen", wie der das nannte, so dass ich davon ausgehe, dass er uns noch nicht einmal verpetzt hat.

Dann gab es noch Heinrich, genannt Feist.

Er ist der Sohn des Bauern Bremer, der die größte Hofstatt im Dorf hat. Feist war ein lieber, lustiger, gutmütiger, kräftig gebauter Kerl.

Er aß gern und sah danach aus.

Über seinen Namen hat er sich nie beschwert und auch sonst nahm er das Leben eher gelassen.

Mit ihm konnte man alles machen, außer lernen, denn dazu hatte er weder Lust noch Talent.

Wenn Rheyn bereit war, ihm die Rechenaufgaben zu lösen, beschützte Feist ihn dafür einen Tag lang vor seinen Widersachern.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in seinem Schülerleben jemals auch nur eine einzige Rechenaufgabe selbst gelöst hat.

Feist war es auch egal, mit wem er zusammen war.

Dass ich der Sohn des Henkers war, interessierte ihn "nicht die Bohne".

Er erzählte mir, sein Vater hätte bei Tisch gefragt, ob etwa „der Schinderjunge“ auch mit im Raume säße.

"Nein, nein", hatte er den beruhigt.

"Der muss in der anderen Stube sitzen.“

Das stimmte zwar nicht, aber zum Glück interessierte es dann auch nicht so sehr, dass nachgehakt worden wäre.

Die anderen vier Jungen waren Bauernsöhne.

Obwohl sie es wahrscheinlich anders gesehen haben, standen sie in meinen Augen immer weit unter mir und meiner Familie.

Sie kamen in Holzpantinen zur Schulstube, denn ordentliche Stiefel waren in den Zeiten fast nicht zu haben, weil das Leder für die Soldaten gebraucht wurde.

Ich trug welche, weil unsere Abdeckerei ausreichend Leder abwarf, allerdings nicht aus dem guten Rindsleder.

Schwein musste reichen, befand meine Mutter.

"Das Rind bringt gute Preise bei den Soldaten", erklärte sie und verkaufte die Häute an die Armee.

Und die Bauernsöhne rochen.

Ich mochte diesen Geruch aus Kuhstall und saurer Milch nicht, der mir übrigens bei Feist nie aufgefallen war.

Wahrscheinlich ging er eher selten in den Stall, weil er lieber irgendwo an einem friedlichen Plätzchen den Tag verträumte.

Mit den Bauernjungs hatte ich ansonsten nichts zu schaffen.

Gelegentlich ärgerten sie mich auf dem Weg nach Hause, aber im Großen und Ganzen ließen wir uns in Ruhe.

Mein Bruder Henrich dagegen kam seltsamerweise ganz gut mit ihnen zurecht.

Er war ein kräftiger Kerl geworden, der keiner Keilerei aus dem Weg ging.

Das gefiel den Jungs und sie akzeptierten ihn ohne Murren als Anführer, während ich das Weichei war, das man gar nicht für voll nahm.

Mir war das egal und was Henrich machte, hat mich nicht besonders interessiert.

Er ist drei jahre älter als ich und wir haben uns ja bis heute nicht allzu viel zu sagen.

Ich war glücklich, wenn ich mich irgendwo im Hause verkriechen und in den Büchern meines Vaters stöbern konnte.

Für solche Beschäftigung hatte Henrich gar keinen Sinn und hin und wieder mokierte er sich über seinen niedlichen, blondgelockten Bruder und die "alten Schinken", über denen der den ganzen Tag hockte.

Er war lieber auf dem Hof und übte mit dem Holzschwert, denn schließlich "wird unsereins mal Henker, und nicht Gelehrter."

Von mir aus sollte er lästern, so lange man mich in Ruhe ließ und ich mir die schönen Bücher mit den Menschenkörpern und den ganzen Innereien, die dort beschrieben und gezeichnet waren, beschäftigen konnte.

Wenn das Wetter zu schön war, um in der Kammer zu sitzen und Bücher durchzuschmökern, lief ich gern über die Schäferbrücke hinauf auf den Fahrweg nach Braunschweig und am Wald entlang bis zu "unserer" Richtstätte.

Es ist natürlich nicht unsere Richtstätte, sondern die des Herzogtums, aber irgendwie fühlte ich mich schon als Hausherr dort oben auf den beiden Hügeln, auf denen die Galgenbäume und die Räder aufgebaut sind.

Mein Vater hatte unter den letzten Bäumen des Lechelnholzes eine Bank aufstellen lassen, um verschnaufen zu können, bevor er sich nach dem langen Weg hügelaufwärts an die Arbeit auf dem Richtplatz machte. Einen wunderbaren Blick hat man von dort und wenn gerade kein Reisender vorbeikam und ich glaubte, ganz allein zu sein, konnte es schon einmal vorkommen, dass ich die Arme ausbreitete und mir einbildete, ich könnte fliegen und wie die Bussarde, die ständig über den Feldern kreisen, hinab in das Tal gleiten.

Auf diese Weise landete ich unten an der Oker und spazierte zu den Resten des schwedischen Dammes, wo ich gelegentlich auf Feist traf, der gern im hohen Gras unter den kleinen Birken, die inzwischen aus dem Bauwerk wuchsen, vor sich hinträumte.

Er ging oft dorthin, weil man so schön in der Sonne liegen und ziemlich sicher sein konnte, dass niemand vorbeikam, da der Damm zu weit vom Dorf entfernt lag.

Auf den Resten des Dammes konnte man noch ganz wunderbar herumklettern und mit einem Schwert in der Hand von hier oben die "Festung Gulfherisbuttele" erstürmen - und natürlich einnehmen.

Die Geschichte von Gulfherisbuttele hatten wir nämlich gerade am Morgen in der Schulstube gehört und sie war so beeindruckend gewesen, dass wir sie sofort am Nachmittag in die Tat umsetzen mussten.

David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel

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