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Hans Adam

Zwei Monate, nachdem sie ihren Ehemann auf den Friedhof geschafft hatte, brachte meine Mutter ihr nächstes Kind zur Welt. Ein Mädchen.

Doch wie staunte die Hebamme nicht schlecht, als nach dem ersten noch ein zweites Kind zum Vorschein kam.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Gerade erst vor zwei Jahren zwei Buben bekommen und jetzt – zwei Mädchen.

Meine Zwillingsschwestern Anna und Maria.

Meine Mutter, die Catharina Voss, war in dem Jahr, 1648, einunddreißig Jahre alt und jetzt Witwe mit fünf Kindern.

Das Haus in Groß Stöckheim, in dem sie nun ihre Familie allein durchbringen musste, war ein einfaches Fachwerkhaus ohne allen Schmuck und schnell gebaut.

Natürlich hatte es auch einen Garten und ein wenig Land darum herum, aber viel warf das nicht ab.

Daneben hatte sie mit Hilfe der Knechte die Abdeckereien weiter zu führen.

Es war eng mit uns vielen Kindern.

Ich habe mir mit meinem drei Jahre älteren Bruder Henrich eine kleine Kammer geteilt und die Mädchen mussten mit der kleinen Magd zusammen wohnen.

Anders ging es nicht.

Meine Mutter schlief unten in dem Raum neben der Küche, den meine Eltern bewohnten, als mein Vater noch lebte.

Drei Jahre lang versuchte sie, sich allein mit dem Abdeckereibetrieb über Wasser zu halten, aber dann ging unser Knecht zu seinem Onkel nach Schöningen, weil er nicht mehr in dem Weiberhaushalt leben wollte, wie er sich boshaft ausdrückte.

Mein Bruder war ja auch noch nicht alt genug, die ganze schwere Arbeit zu machen, und dazu hatte mein Vater immer gewollt, dass sein ältester Sohn zur Schule geht und etwas Besseres wird.

Leider hat das nicht geklappt.

Er ist schließlich doch auch Scharfrichter geworden wie alle unsere Vorfahren, und er ist glücklich damit.

In dieser Zeit kam der Mann in unser Haus, den ich immer als meinen Vater betrachtet habe, der mich wie seinen eigenen Sohn aufgezogen hat, von dem ich das Handwerk gelernt und schließlich das Amt übergeben bekommen habe:

Mein Stiefvater, Hans Adam aus Bremen.

So sah es aus im Jahr 1648, als ich gerade zwei Jahre alt war:

Der Haushalt bestand aus fünf Kindern, zwei Mägden, einem Hilfsknecht, keinem Großknecht mehr und dafür einer Menge Arbeit.

Der Förster, dem das Nutzungsrecht für die Abdeckerei verkauft worden war, hatte mittlerweile auch Schöningen mit übernommen und übte von dort aus sein Amt aus.

Unsere Abdeckereien wurden durch die jeweiligen Knechte weitergeführt, aber es fehlte an der Aufsicht, was natürlich kein befriedigender Zustand war.

Dem Förster hing zudem der Ruf an, etwas nachlässig zu sein und seine Knechte nicht ordentlich in der Zucht zu haben, so dass es häufig Beschwerden gab über die Zustände der Abwasserkanäle und der Abortgruben in der Stadt.

Angeblich, so behauptet meine Schwester von der Mutter gehört zu haben, soll der Schöninger auch den Alkohol sehr geliebt haben.

Weniger dagegen die Rechnungsbücher, zumindest wurde in der Familie darüber geredet, dass er seine Leute häufig nicht ordentlich auszahlte und über seine Einkünfte oft keine Rechenschaft ablegen konnte.

Er war zu der Zeit offensichtlich auch unverheiratet, jedenfalls erzählte man sich, dass der weiberlose Haushalt in Schöningen ziemlich verwahrlost sein sollte.

Das Gleiche galt auch für das Grundstück unten an der Oker, das mein Vater per Kontrakt als mein Erbe hatte eintragen lassen.

Durch die Scharmützel während des Krieges war ein Teil der Gebäude, unter Anderem auch das Wohnhaus, stark beschädigt worden.

Dazu kam die Einwirkung des Wassers während der Monate der langen Flut. Es wohnte ja auch niemand dort unten, so dass gar kein rechtes Interesse bestand, die Gebäude instand zu setzen.

Und genau zu dieser Zeit, so erzählt die Dorothea mit leuchtenden Augen, kam der Hans aus Bremen.

Ich erinnere mich auch an den Hans, klar.

Aber Dorothea hat immer dieses verdächtige Funkeln in den Augen, wenn sie von ihm spricht, dabei war sie gerade sieben Jahre alt, als er kam.

Der Hans war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, so genau weiß ich das nicht mehr, aber wie gesagt, meine Schwester war auch ein bisschen sehr früh dran für ihr Alter.

Der Hans also kam aus Bremen und ging als Geselle zum Förster nach Schöningen.

Der hatte aber offensichtlich kein Interesse daran, den jungen Mann bei sich wohnen zu haben, aus welchen Gründen auch immer.

Er wies ihn an, sich auf dem Gelände der Abdeckerei an der Oker einzurichten und das Haus so weit instand zu setzen, dass es bewohnbar ist.

Meine Mutter bot ihm an, nach Stöckheim zum Essen herüber zu kommen, wenn es gerade so passte.

Ihr tat der junge Mann Leid, der da auf diesem einsamen, inzwischen verfallenen Gehöft hausen sollte, hatte sie doch nicht vergessen, wie es ihr in der ersten Zeit dort ergangen war.

So war denn Hans zunächst gelegentlich, später immer regelmäßiger Gast an unserem Tisch und wir Kinder freuten uns darüber, denn er war ein lustiger Geselle und brachte uns zum Lachen.

Am besten erinnere mich an seine Sprache.

Er sprach völlig anders als wir, was für uns immer ein Spaß war und zum Nachäffen anregte.

So sagte er nicht "Kirrrche" wie wir das tun, sondern "Kiahhche".

Und er sagte nicht "morchgen" sondern "moahhgen".

Unser Lieblingssatz, den wir gar nicht oft genug und zum Überdruss meiner Mutter wiederholen konnten, war:

"Moahhgen gehn wiahh nachee Kiahhhchee".

Meine Mutter fand das überhaupt nicht lustig und verbat uns das dumme Geschwätz, wie sie es nannte, wobei sie ganz nebenbei darauf hinwies, dass es "zur" Kirche heiße.

Das hinderte uns nicht daran, weiter die seltsame Aussprache nachzuahmen, wenn kein Erwachsener zuhörte.

Hans Adam kam aus Bremen und er erklärte uns, dass dort alle Menschen so sprechen würden.

Das zu glauben fiel uns sehr schwer.

In Bremen, so erzählte er, werde er, weil sein Vater auch Hans Adam heiße, "Paschen" genannt, was sich bei ihm ein wenig wie "Pääschen" anhörte.

Das komme daher, dass er am Osterfest getauft worden sei und Ostern heiße bei ihm zu Hause nun einmal Paschenfest.

Auch das fanden wir lustig und hakten nach, ob der Osterhase dann vielleicht auch Paschenhase heiße?

"Nee, de heyt Lütt Matten", antwortete er darauf und fragte uns, ob wir das Lied von Lütt Matten, dem Hasen kennen würden.

Natürlich kannten wir das Lied nicht und Hans ließ sich nicht lange bitten, holte seine Laute, die er von daheim mitgebracht hatte, stimmte sie kurz und legte in flottem Tempo los:

Lütt Matten, de Has, de mokt sick en Spaß.

He weer bi't Studehrn, dahat Danzen to lehrn.

Und he danzt ganz aleen op de achtersten Been.

Keem Reinke de Voss und dacht: "Dat's een Kost!"

und secht to Lütt Matten: "Soho flink oppe Padden?

Und danzt ganz aleen op de achtersten Been?"

"Komm, lot uns tosamm ick kann as de Dam,

und de Kreih, de speylt Fiedel und dann geiht dat kandidel

und dann geiht dat ganz scheen op de achtersten Been".

Lütt Matten geyv Pot de Voss beyt em doot

und setzt sick in Schatten und verspiest den Lütt Matten.

Und de Kreih, de kricht eyn vonne achtersten Beyn.

Das Lied gefiel uns, weil die Musik so schön zum Mitsummen war und so dauerte es gar nicht lange, bis wir den Text verstanden hatten und ihn auch singen konnten.

Das war dann ein Gesinge und Gejohle, bis meine Mutter uns ermahnte und fragte:

"Jetzt seid ihr wohl völlig überkandidelt, wie?"

Ein anderes Mal hatte eines von uns Kindern Schluckauf, worauf Hans sofort erklärte: "Du musst drei Mal hintereinander ohne hicks ganz schnell sagen:

Sluckopp und ick lepen öbern Steeg

Sluckop fool door rin un ick leep wech.

Dann ist er garantiert weg, dein Schluckauf."

Leider scheiterten unsere Versuche, diesen Spruch drei Mal aufzusagen, regelmäßig.

Entweder es kam ein "hicks" dazwischen, oder die Wörter verwirbelten sich in unserem Mund.

Als ich beim Essen einmal den Kopf in die linke Hand stützte und mit der rechten Hand den Löffel führte, ohne den warnenden Blick meiner Mutter zu bemerken, sprach Hans mich ganz freundlich an und fragte: "David, würde es dir etwas ausmachen, mal ganz schnell eben nach draußen zu laufen und aus dem Schauer ein dickes Holzscheit zu holen?"

Natürlich machte mir das nichts aus.

Ich legte den Löffel neben den Teller und rannte los.

Wer so höflich gebeten wird, der wird doch nicht zögerlich sein.

Nach ganz kurzer Zeit schon war ich mit dem dicksten Scheit, das ich finden konnte, wieder zurück.

"Vielen Dank", sagte Hans, stellte den Stumpen aufrecht neben meinen Teller und legte fürsorglich meinen Kopf darauf.

"Siehst du? Jetzt hast du es bequemer und brauchst den Kopf nicht mehr mehr mit der Hand abzustützen, so dass du den Löffel in die linke Hand nehmen kannst, wie es Sitte ist."

Mit puterrotem Gesicht beugte ich mich tief über meinen Teller, während meine Schwester fast die Suppe über den Tisch geprustet hätte, so dass sie von meiner Mutter einen Klapps in den Nacken bekam.

Sonst hätte sie wahrscheinlich noch Schluckauf bekommen vor lauter Lachen mit Suppe im Mund.

Auch diese Geschichte werden wir heute noch mehrfach hören, das weiß ich ganz sicher.

Der Liqueur, den meine Frau für die Damen bereitet hat, wird meine Schwester schon ordentlich in Fahrt bringen, darauf kann ich mich verlassen.

Manchmal erzählte Hans von zu Hause, dem Scharfrichterhaushalt in Bremen.

"Bremen ist eine große Stadt, viel größer als eure kleine Festungsvorstadt hier", erklärte er uns.

"Und reich ist sie auch. Es wird viel Handel getrieben dort oben an der Weser und sehr viel Geld damit verdient.

In Bremen sind die Häuser aus richtigen Ziegeln gebaut, nicht aus Baumstämmen mit Lehmschmiere dazwischen, wie man das hier macht.

Und alles ist immer voller Segelschiffe.

Als Junge bin ich jeden Tag an der Schlachte gewesen, so nennen wir den Hafen.

Man hat ihn jetzt etwas weiter unten nach Vegesack verlegt, weil die Weser immer flacher wurde durch den Sand, den sie auf ihrem Weg mitnimmt. Aber ein kleiner Hafen für die flachen Boote ist an der Schlachte immer noch.“

Und dann erzählte er uns, dass damals, als er noch ein kleiner Junge war, plötzlich die eine Spitze des Domes heruntergestürzt war.

Was ein Dom war, wussten wir nicht.

Wir kannten nur die Marienkirche in der Heinrichstadt, wie wir die Festung nennen.

Hans erklärte uns, ein Dom sei viel viel größer als eine Kirche und so schwer, dass er bestimmt in "eurem sumpfigen Wolfenbüttel", wie er sich ausdrückte, bis über beide Spitzen versackt wäre.

Meine Mutter wusste natürlich, was ein Dom war, denn Braunschweig hat auch einen solchen und sie erklärte, dass es völlig undenkbar sei, dass der im sumpfigen Grund einfach versacken würde.

„Ihr erzählt den Kindern ja merkwürdige Geschichten, Hans Paschen aus Bremen. Wer das wohl glauben mag?“

Aber sie war doch gern dabei, wenn er uns abends in der Küche bei den gemütlichen Geräuschen des Herdes unterhielt.

Hansens Eltern müssen recht strenge Leute gewesen sein, wenn man seinen Erzählungen glauben durfte.

Darum war er es gewohnt, sehr pünktlich und ordentlich seine Arbeit zu machen und auch alles genau aufzuschreiben und abzurechnen.

Später, als mir die Scharfrichterei von ihm übertragen wurde, übernahm ich auch ein dickes Buch, in dem akribisch jede Tätigkeit und die dafür in Rechnung gestellte Gebühr aufgelistet war.

In einer dritten Spalte wurde aufgeführt, welche Tätigkeiten bereits bezahlt und welche noch offen waren.

Auch da war Hans unerbittlich.

Ausstehende Gelder trieb er ein, seine Knechte bezahlte er pünktlich.

Da er dieses Rechnungsbuch über viele Jahre führte, konnte ich daraus erlesen, wie sich seine Tätigkeiten beziehungsweise die Bezahlung dafür im Laufe der Zeit verändert hatten.

So rechnete er in den ersten Jahren noch über sechzig Torturen im Jahr und mehrere Wasserproben ab, später schrumpften sie auf sieben Torturen und nur noch eine Wasserprobe.

Ich muss sagen, heute sind diese Wasserproben, bei denen die der Hexerei Beschuldigten gefesselt ins Wasser geworfen werden, ganz aus der Mode gekommen.

So richtig glaubt auch niemand mehr an Hexerei und Teufelszeug und die Vergehen, wegen der die Todesstrafe verhängt wird, sind sehr wenige geworden.

Wenn das so weitergeht, wird es womöglich irgendwann gar keine Scharfrichter mehr geben.

Aber so weit wird es schon nicht kommen, dafür sind die Menschen zu schlecht.

Viel häufiger als das Torquieren oder das Henken taucht in den langen Zahlenkolonnen das Reinigen der Kanäle der Heinrichstadt und der Schlosskloaken auf.

Im Gegensatz zu Förster war Hans immer sehr gewissenhaft mit der Reinigung und ebenso mit dem Eintreiben der Gelder.

Auch für das Kurieren der Bauern, die im Herrendienst zu Schaden gekommen waren, kassierte er das Geld ein, häufig zwischen drei und zehn Talern pro erfolgreicher Behandlung.

Wie schon mein Vater war auch Hans Adam geschickt bei der Behandlung von Stauchungen, Verrenkungen, Brüchen und Prellungen. Meine Mutter lieferte die Arznei dazu, für die die Ausgaben ebenfalls getreulich in das Buch eingetragen wurden.

So gingen die Jahre ins Land und als Hans, genannt Paschen, drei Jahre bei uns aus- und eingegangen war, willigte meine Mutter ein, seine Frau zu werden.

Am 21. Mai 1651 heirateten sie in der Kirche zu Groß Stöckheim und ich durfte, jetzt fast fünf Jahre alt und schon ein großer Junge, die Taufkerze vorweg tragen.

Hinter mir gingen meine beiden kleinen Schwestern und streuten Blumen aus ihren kleinen Körbchen.

Sie waren etwas albern dabei, aber schließlich waren sie auch noch kleine Kinder. Und Mädchen noch dazu.

Zehn Jahre Altersunterschied lagen zwischen meinen Eltern, aber dass der Geselle die Meisterin heiratet, das gehört bei uns zum guten Ton und niemand findet etwas dabei.

Für uns war Hans inzwischen so sehr Bestandteil der Familie geworden, dass wir uns ein Leben ohne ihn sowieso nicht mehr vorstellen konnten.

Während der Feier auf der Wiese hinter unserem Haus hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen einem Onkel und meiner Mutter und machte lange Ohren, weil ich meinen Namen hörte.

"Du weißt, Catharina" hörte ich den Onkel raunen, "der Herzog will, dass der David nach Lemgo geht.

Er soll dort eine ordentliche Erziehung und einen ordentlichen Unterricht bekommen.

Das war mit seinem Vater selig so abgemacht. Denke daran, der Junge wird nächstes Jahr sechs. Es wird Zeit für ihn".

"So eilig ist das nicht", beschied meine Mutter. "Hier bekommt er auch eine ordentliche Erziehung und lernen kann er auch hier im Dorf“.

Ich hatte ja schon erwähnt, dass sie es in manchen Dingen nicht so schätzte, wenn ich nach meinem Vater kam.

Sie fand nicht, dass ich etwas Besonderes wäre und ich musste auch keine besondere Bildung genießen.

Sie hatte es ihrem Mann nie ganz verziehen, dass er die Erbrechte für mich und nicht für den Henrich, ihren Ältesten, eingefordert hatte. Henrich ist mir deswegen nicht gram. Er ist zufrieden mit seinem Leben und sehnt sich nach keinem anderen.

Offenbar hatte also mein Vater Vereinbarungen bezüglich meiner weiteren Ausbildung getroffen.

Davon hatte ich bislang noch nichts gehört, traute mich aber auch nicht, meine Mutter danach zu fragen.

Sie würde mit der Hand wedeln und mich fortscheuchen, das kannte ich schon. Vielleicht würde ich irgendwann Hans fragen, was mit mir geplant ist.

Der Gedanke, die Familie verlassen zu müssen und in das ferne Lemgo geschickt zu werden, machte mir Angst.

Allerdings hatte meine Mutter ja angedeutet, dass sie einen Unterricht im Dorf vorziehen würde.

Und so kam ich ein Jahr darauf mit knapp sechs Jahren in die Stube des alten Günther, Lehrer in Groß Stöckheim.

David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel

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