Читать книгу David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel - Adam Fuchs - Страница 11

Оглавление

Gulfherisbuttele


Beim Günther lernten wir das Rechnen, Schreiben und Lesen, sein Steckenpferd aber war die Heimatkunde.

Er hatte schon mehrere Heftchen zur Geschichte der Festung verfasst und darüber, wie der schwedische Damm konstruiert worden ist.

Hatten wir keine Lust zum Rechnen (was fast täglich der Fall war), genügte eine beiläufige Bemerkung wie:

"Herr Günther, mein Vater sagt, in der Asse gibt es biblische Bäume", und schon sprudelten aus ihm die Geschichten hervor von Diptams, diesen scheinbar brennenden Dornbüschen, rollenden Feuerrädern der Germanen und so weiter.

Und wenn Feist zum -zigsten Male treuherzig fragte, ob die Festung Wolfenbüttel ihren Namen von den vielen Wölfen in der Gegend erhalten hat, war der alte Herr nicht zu bremsen.

"Nein, mein Junge", fing er dann an. "Ich habe es euch schon mehrfach erklärt, aber du bist zu einfältig, es dir zu merken.

Der Name Wolfenbüttel hat überhaupt nichts mit Wölfen zu tun.“

"Ach schade", pflegte Feist dann zu murmeln und ließ auf diese Weise den Güntherschen Redefluss zu einem breiten Strom anschwellen.

"Der Name Wolfenbüttel", erklärte der mit weit ausholenden Gesten, "hat sich eingeschliffen aus viel älteren Wörtern.

Auf alten Karten seht ihr manchmal das Wort „Wulvenbuttel“ oder „Wulferisbuttele“ oder sogar „Gulfherisbuttele“.

Und zu der Entstehung des Namens Gulfherisbuttele gibt es eine wunderbare Sage, aber die will ich euch heute nicht erzählen, weil wir jetzt endlich mit den Rechenaufgaben fortfahren wollen.“

"Herr Günther, mein Vater sagt, dass es ein Herr Gulfher war, der die Burg gebaut hat und von dem sie den Namen hat!"

Das war die piepsige Stimme von Rheyn, dem Streber.

Aber heute durfte das mal durchgehen, denn auf der Stelle hatte Herr Günther die elenden Rechenaufgaben vergessen und legte Klein-Rheyn väterlich die Hand auf den Kopf.

"Nun ja, mein Junge, da ist schon etwas dran.

Deinen Vater habe ich ja auch schon unterrichtet, da wird er die Geschichte wohl noch in Erinnerung haben.“

"Ja", piepste artig der Rothaarige." „Mein Vater sagt, das ist eine ganz ganz alte Geschichte.“

"Sicher, sicher, das ist wohl wahr. Sie stammt noch aus der Zeit, als es hier, wo wir heute wohnen und auch dort, wo heute die Festung steht, nichts gab als Wald, Wald und nochmals Wald.

Wald, so weit das Auge reichte. Und Sumpf. Tiefen, undurchdringlichen Sumpf. Und mitten im Sumpf den Fluss.

In diesem riesigen Wald wohnten die Germanen, unsere Vorfahren.

An vielen Stellen im großen Sumpf gab es noch von den alten Gletschern zurückgelassene Sandhaufen.

Gletscher sind große, große Flüsse aus Eis und die Sandhaufen, die sie beim Abschmelzen zurückgelassen haben, die nennt man eine Geest.“

Flüsse aus Eis! Wer das wohl glauben mag. Aber Herr Günther erzählte schon weiter:

„Auf diesen Geesten ließen sich die Germanen nieder, fällten die Bäume ringsum und bauten sich Häuser daraus.

Immer eine große Familie lebte in einer solchen Niederlassung. Mehrere Familien gehörten zu einem Stamm und die Stämme waren zusammengefasst in Gauen. Hier in unserer Gegend, damals genannt der Darlingau, lebte der Stamm der Cherusker.

Die Cherusker sind später berühmt geworden durch Armin, der die Römer geschlagen hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Cherusker waren ein eher kleiner Stamm und hatten sich an der Weser, in der Heide und bis an den Harzrand angesiedelt.

Sie suchten sich zum Siedeln gern Stellen, an denen man nicht nur trocken wohnen, sondern auch bequem durch den Fluss steigen konnte, weil er durch die Sandaufschüttungen flach war.

Eine solche Stelle nennt man eine Furt.

So kam es zur Ansiedlung eines cheruskischen Dorfes dicht am Fluss Ovaccra, wie sie unsere Oker nannten, auf dem östlichen Geestrücken, der aus dem Morast herausragte.

Die Bewohner gelangten durch die Furt in Richtung Westen zur Weser und weiter bis an den Rhein, wo auf der anderen Seite die Römer das Land besetzt hatten, mit denen sie regen Handel trieben.

Die Römer verkauften ihnen Silber und Glaswaren, die Cherusker lieferten Tierfelle und Welpen von germanischen Bärenhunden, die die römischen Soldaten für ihre Feldzüge als Kampftiere brauchten.

Mit der Zeit entstand auf der östlichen Geest eine bedeutende Ansiedlung, die für germanische Verhältnisse recht gut befestigt war.

Für römische Verhältnisse waren diese aus Baumstämmen gebauten Hütten mit ihren geschichteten Kalksteinmauern drumherum ein Scherz und sie nannten die Anwesen spöttisch "castrum", was auf Deutsch "Lager" oder auch „Burg“ bedeutet und bei den Römern große, aus Stein gebaute Befestigungen waren.

Die Germanen freuten sich über diese Bezeichnung und übernahmen das Wort. Dazu setzten sie ihre alte Bezeichnung für Stein, nämlich "Lech", und schon war der schönste Dorfname in feinstem Latein-Cheruskisch entstanden:

Castrum lechidi, die besteinte Burg, woraus später Lechidi, Lechede, Lecheln und Lechlum wurde.

Den Fluss unten durch den Sumpf nannten sie Ovaccra, woraus der Name Oker entstand. Die Ansiedlung castrum lechidi oder Lechlum wuchs und wuchs und wurde reich und immer reicher.

Irgendwann aber war die Zeit der alten Römer und der alten Germanen vorbei und es kam die Zeit der Christen. Und mit den Christen kamen die Karls in unsere Gegend.

Erst Karl Martell, genannt der Hammer, und das nicht etwa, weil er ein so guter Zimmermann war.

Und dann der Große, was nichts mit seiner Kleidergröße zu tun hatte.

Die Beiden fielen nacheinander über die hier lebenden Stämme her und bekehrten mit dem Schwert in der Hand die von ihnen so genannten Heiden zum Christentum. Jedenfalls behaupteten sie das.

In Wahrheit dürften sie es eher auf die Handelswege und die reichen Ansiedlungen hier abgesehen haben.

Tja, das Christentum.

Das war schon was mit den Karls und ihrem Christentum. Wer nicht freiwillig oder fix genug zum neuen Glauben übertrat, der wurde mit dem Schwert überzeugt. Viele viele Tote hat es gegeben, bis die Menschen endlich verstanden hatten, dass es mit dem Heidentum vorbei ist und ihre alten Götter nichts mehr taugten und sie jetzt einen neuen, viel besseren Gott hatten.

Im Jahre 780 wurden unten in Ohrum Am Vaddernloch die Sachsen in Massen getauft, wobei ich nicht sicher bin, ob sie alle ganz freiwillig zur Taufe gekommen sind.

Die Bewohner von Lechede waren schlau genug, sich nicht allzu lange zu widersetzen, weshalb sie einigermaßen ungeschoren durch diese Zeit kamen.

Nach der Christianisierung wurde das ganze Land neu eingeteilt.

Jetzt gab es keine Stämme, keine Stammesfürsten und keine Gaue mehr. Statt dessen teilten Bischöfe das Land unter sich auf und nannten ihren Teil "Bistum".

Lechede gehörte zum neuen Bistum Halberstadt.

Die Straße, die von der Weser her durch die Oker führt, wurde ausgebaut bis Halberstadt.

Das war für die Lecheder kein Nachteil, eher im Gegenteil.

Das Dorf wuchs weiter und wurde gegen Übergriffe befestigt.

Der Bischof von Halberstadt ließ eine Kirche bauen und weihte sie dem Heiligen Stephanus. Gleich zwei Pfarrer setzte er zur Verwaltung der Gemeinde ein.

Das Land auf der anderen Okerseite erhielt der Bischof von Hildesheim. Auch nach dort wurde die Straße ausgebaut, allerdings gab es kein Dorf oder eine Ansiedlung an der Furt, weil es einfach zu morastig war, als dass man dort hätte siedeln können.

Der Bischof von Halberstadt konnte sich freuen.

Durch die gute Lage seines Dorfes Lechede und die dort gemachten Gewinne füllten sich seine Truhen.

Der Bischof von Hildesheim hatte dagegen keinen Grund zur Freude.

Die Reisenden zogen zwar durch die Okerfurt und durch sein Land, aber auf seiner Seite wurde kein Geld erwirtschaftet, das ihm zugute gekommen wäre.

Dieser Zustand missfiel ihm sehr, zumal er zuschauen musste, wie sich auf der Halberstädter Seite das Dorf langsam zu einer kleinen Festung entwickelte.

Eine Weile grämte er sich, dann ließ er eines Tages seinen treuen Gefolgsmann, den listigen Gulfher, zu sich kommen, legte ihm den Arm um die Schulter und sprach:

"Gulfher, du bist mein bester Mann, du bist schlau und du kannst mit Waffen umgehen.

Schau mal, dort an der Oker auf Halberstädtischer Seite entsteht langsam, aber sicher eine Festung, die mir nicht geheuer ist.

Ich fühle mich durch den Halberstädter bedroht, denn ich habe das Gefühl, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis mein frater in spirito die Oker überschreitet, um sich in meinem Gebiet breit zu machen.

Das möchte ich gern verhindern und du musst mir dabei helfen, mein Sohn.

Du bist doch kriegserfahren und weißt, wie ich meinen Amtsbruder reizen muss, damit ich einen Grund für ein kleines Scharmützel habe und ihm in dem Zuge seine Festung wegnehmen kann.

Mach dich ran, mein Bester, und entwickele einen Plan, wie wir dieses Kaff Lechede in unsere Gewalt bekommen!"

"Hm, nun ja", murmelte Gulfher, "sicherlich könnten wir versuchen, dieses Dorf anzugreifen und einzunehmen, mein Bischof.

Allerdings ist es gut befestigt und der Halberstädter hat weitere gut bemannte Burgen auf dem Weg zu seiner Residenz anlegen lassen, um den Handelsweg zu beschützen. In kürzester Zeit kann er von der nächstgelegenen Asseburg starke Kräfte heranschaffen und uns unter Umständen eine empfindliche Niederlage beibringen.“

"Das war aber eigentlich nicht das, was ich von dir hören wollte, Gulfher.

Wenn ich Klagen hören möchte, gehe ich zu meiner Mutter, denn die versteht sich ausgezeichnet darauf. Wenn ich dich rufe, möchte ich brauchbare Vorschläge hören.“

"Selbstverständlich, mein Bischof. Und einen solchen will ich Euch machen!

Ihr wollt das Dorf Lechede haben, weil es durch seine Lage gute Einkünfte einbringt. Das Dorf jedoch ist gut beschützt und nicht leicht zu haben. Wenn es euch also um die Einkünfte geht, dann schafft Euch doch ein eigenes Lechede auf Eurer Seite."

"Was redest du da, ich bitte dich! Auf meiner Seite gibt es nichts, das ausbaufähig wäre.

Lechede liegt auf einem natürlichen Hügel und ist trocken. Auf meiner Seite dagegen ist nur Morast, in dem die Pferde mitsamt den Wagen versinken. Lediglich der Weg nach Hildesheim ist benutzbar, weil er aufgeschüttet wurde und auf diese Weise einigermaßen trocken befahrbar ist.“

"Genau das meine ich, mein Bischof.

Wenn man einen Damm für einen Weg aufschütten kann, dann kann man auch einen Damm für ein Dorf aufschütten.

Ihr habt zwar keine Mergelkuhlen wie Euer Amtsbruder, aber ich weiß, dass es in der Nähe der Furt auf Eurer Seite eine Tonkuhle gibt, die auch schon für die Aufschüttung des Weges genutzt wurde.

Sie ist ergiebig und geeignet, mit dem Material ganz in der Nähe der Furt und direkt am Handelsweg einen Damm aufzuschütten und darauf einen befestigten Platz zu errichten.

Dann seid Ihr unabhängig und müsst nicht befürchten, den Halberstädter ständig im Nacken zu haben, weil er Euch sein Dorf wieder abjagen will.

Und bedenkt, mein Bischof, es ist nicht schwierig, das Dorf als Einnahmequelle auszuschalten, wenn man ein wenig stromabwärts den Fluss staut und auf diese Weise die Furt unpassierbar machen würde. Dann hättet Ihr nichts von Eurem Dorf, denn die Reisenden würden einen anderen Weg über den Fluss suchen. Ihr hättet dann nur Ausgaben, aber keine Einnahmen gehabt.“

"Hm, du bist schlau, Gulfher, und ich fürchte, du hast Recht.

Wie also stellst du dir vor, ein eigenes Lechede zu bauen? Und wer soll dort wohnen und dafür sorgen, dass die Reisenden ihr Scherflein abliefern?"

"Nun", sprach der listige Mann, "ich habe mir überlegt, dass wir zunächst mit den Bauern aus den umliegenden Dörfern Ton aus der Kuhle bei Fümmelse herbeischaffen lassen und ihn an der Stelle aufschütten, an der sich diese kleine Sandinsel an der Oker aus dem Sumpf erhebt.

Die ist zwar nicht so dicht an der Furt gelegen, wie das beim Dorf Lechede der Fall ist, aber diesen Nachteil können wir ausgleichen, indem wir den Bauplatz gleich so groß anlegen, dass Platz ist für eine ordentliche Besatzung und gleichzeitig für Durchreisende, die wegen der Wetterunbilden oder aus Angst vor Räubern oder einfach nur zum Ausruhen Zuflucht suchen wollen.

Das können sie nämlich in Lechede nicht.

Dort ist kein Platz, um ganze Handelskarawanen unterzubringen und zu bewirten. Dort hat man zwar den großen Stapelplatz, wo auch Speisen und Getränke ausgeschenkt werden, aber danach müssen die Reisenden weiterziehen, bis sie in der Asseburg unterkommen können.

Wenn wir auf dem Damm Unterkünfte schaffen, werden die Reisenden auf dem Weg von Hildesheim nach Halberstadt dort einkehren und Rast machen.

Dann habt Ihr die Einkünfte und Euer Bruder im Geiste wird sich grämen.

Das allerdings sollten wir bedenken, denn er wird nicht tatenlos zusehen, wie Ihr ihm das Wasser abgrabt.

Ich schlage daher vor, die Anlage von Anfang an mit Gräben und Mauern zu umgeben und so vor Übergriffen zu schützen.

Der Aushub aus den Gräben kann gleich zum Aufschütten des Dammes verwendet werden und die Steine für die Mauern könnt Ihr von der Weser kommen lassen.“

Und so geschah es.

Gulfher bekam den Auftrag, den Bau der Anlage zu überwachen und voranzubringen.

Während er den Sandhügel links des Handelsweges mit Ton aufschütten ließ, saßen in Lechede die Dörfler auf ihrer höchsten Erhebung, einem kleinen Hügel, den sie "Schildwiese" nannten nach seiner Ähnlichkeit mit ihren buckeligen Schilden und schauten interessiert dem Treiben jenseits der Oker zu.

"Wat schall dat weern??" fragte man sich.

"Dem Gulfher sin Gebuddele?? Na, dat ward doch nix, wirs seen", antwortete man und ging wieder an die Arbeit.

Aber Gulfhers Gebuddele gedieh und wuchs und breitete sich immer weiter aus, wurde zunächst zu einer von Wassergräben umgebenen Burg, dann zu einer Festung und bekam schließlich sogar eine Stadt hinzu, wie ihr sie heute kennt. Aber seinen Namen, den hatte der Ort weg:

„Gulfher sin Gebuddele“ wurde zu Gulfherisbuddele, dann zu Wulfersbuddele und schließlich zu Wolfenbüttel.“

So erzählte uns Herr Günther die Sage von der Entstehung der Festung Wolfenbüttel und ich fand sie immer wieder spannend zu hören, auch wenn bestimmt die Hälfte davon ein Märchen ist.

Der Meinung war offensichtlich auch einer der Bauernbuben, als er murmelte:

"Lechede? Kenn ick nich. Gifft dat ook nich!"

"Lechede gibt es nicht, meinst du?", bellte Herr Günther.

"Wenn du dich da man nicht täuschst! Morgen früh gehen wir nach Lechede!

Und so geschah es.

Am nächsten Morgen mussten wir uns in Zweierreihen vor dem Güntherschen Hause aufstellen, um zu unserer "Excursion nach dem Dorf Lechede" aufzubrechen.

Feist und ich gingen hinten, vor uns die Bauernbuben und Rheyn führte an der Hand des alten Günther unseren Trupp an, wofür ihm hinter dem Rücken natürlich eine Nase gedreht wurde.

Wir verließen das Dorf über die Schäferbrücke und wanderten durch die Vorwerkwiesen und -äcker bis hoch zum Itschenkamp.

Der Name "Itschenkamp" übrigens, das sollte ich vielleicht noch ganz nebenbei erwähnen, kommt von den vielen Kröten, die sich in den Kuhlen auf den Feldern, in denen noch recht lange bis in den Sommer hinein das Wasser steht, breitmachen.

Zu den Itschen wusste Feist zu berichten, dass man den fetten Tieren, die sich nur langsam bewegen und leicht zu fangen sind, schön einen Strohhalm in den Arsch schieben kann und dann so lange pustet, bis sie platzen.

Ha, das war lustig, fanden wir, während sich Feist für seine Erklärung eine ordentliche Backpfeife einfing mit der Ansage, dass diese Kreaturen auch nur Geschöpfe des lieben Gottes und so weiter und so weiter sind.

"So Jungs, es geht weiter. Auf auf!"

Der Itschenkamp geht eine Weile bergan, bis man von seinem höchsten Punkt einen wunderbaren Blick hat auf das Schloss mit seinen vielen Türmen und Wimpeln, weiter links auf die Marienkirche und auf die Harzberge im Hintergrund.

Ab da geht es nur noch hügelab bis zu den Wiesen und Äckern, die vor dem Rothen Vorwerk liegen.

Links von uns tauchte der berühmte Schildhügel auf, auf dem nur Gras und etwas Gestrüpp wuchsen.

Seht ihr die Form des Hügels, Jungs?", fragte Herr Günther und zeigte auf die ungepflegte Wiese links des Weges.

"Er sieht aus wie ein germanischer Schild.

Rund und buckelig, so dass die Speere daran gut abgleiten konnten.

Im Volksmund wird dieser Hügel darum auch "Schildwiese" genannt. Hier stand zu Zeiten der alten Germanen überall noch Buchenwald.

Dort unten, wo die Oker entlang fließt und überall Sumpf ist, wuchsen die Pappeln.

Der Sumpf war so tief und so breit, dass dort kein Mensch leben konnte und Geschichten erzählen, dass einmal ein ganzes ungarisches Reiterheer im Schlamm versackt sein soll und nie wieder etwas davon aufgetaucht ist."

Bei der Gelegenheit fasste unser Lehrer mit zwei Fingern in seine Weste und zog eine schon etwas fleckige, vergilbte und auch nicht mehr ganz saubere Karte hervor. Ganz vorsichtig faltete er sie auseinander und breitete sie auf seiner Jacke aus, die er zuvor mit dem Futter nach oben in das Gras gelegt hatte.

Wir mussten uns alle vor die Karte hinhocken und mit den Blicken seinem Finger folgen, der auf verschiedene Punkte zeigte.

Hier und da konnte man kleine Bäumchen erkennen, die offensichtlich Wald darstellen sollten.

Dazwischen waren Häuschen zu erkennen mit einer unleserlichen Beschriftung.

Ganz groß und dick eingezeichnet konnte man unsere Festung erkennen, allerdings viel kleiner, als wir sie heute kennen.

Und davor wieder ein paar Häuschen und daneben das Wort, das Herr Günther eindeutig als "Lecheln" erkannte.

Für mich sah es eher aus wie Hühnerkot, aber ich bin auch nicht sehr gut im Kartenlesen.

Zwischen den Bäumchen stand auch ein Wort, ähnlich dem Hühnerkot, und sollte "Lechelnholz" heißen.

Zwischen den Lechelnhäuschen war ein Kreuz zu erkennen (die Kirche, was sonst!) und davor eine Fläche mit kleinen grünen Pflänzchen drauf. Das unleserliche Wort zwischen den Pflänzchen heiße "Rodeland" erklärte Herr Günther. An diesen und anderen alten Flurnamen erkenne man, wo in alten Zeiten was gewesen sei und wie alles angefangen habe.

Wir staunten und nickten eifrig, während die Karte wieder behutsam zusammengefaltet und vorsichtig zurück in die Weste geschoben wurde. "Es ist ein sehr altes und sehr wertvolles Stück", dozierte Herr Günther. „Damit muss man sorgfältig umgehen. So etwas findet man nur selten.“

"So was haben wir auch", meldete Feist sich zu Wort. "Damit macht Tienken das Feuer an, wenn es ihr ausgegangen ist."

"Was macht eure Tienken?"

Günthers Stimme ließ nichts Gutes ahnen.

"Na ja, im Schuppen steht ne Kiste mit lauter so altem Papier und Bildern drauf. Das holt sie, wenn ihr mal das Herdfeuer ausgeht.

"Das brennt lichterloh und wirs sehn, ganz schnell ham wirs wieder warm", sagt sie.

„Und woher habt ihr wohl diese Kiste da in eurem Schuppen mit altem Papier und Bildern drauf, ihr Bauerntölpel??"

Die Stimme wurde grollend und Feist zog sich vorsichtshalber aus der Reichweite der Güntherschen Arme zurück.

"Ich glaub, die sind vom Schloss oder so. Weiß nich so genau.“

"Wenn wir zurück sind, will ich die Kiste sehen. Und mit deinem Vater sprechen! Verstanden?"

Feist nickte nur kleinlaut und war sich nicht sicher, ob er nicht besser den Mund gehalten hätte.

"So", kommandierte Herr Günther, "und wir gehen jetzt dorthin, wo unsere Vorfahren das Land gerodet, ihre ersten Häuser gebaut, ihre Gärten und Felder angelegt und mit den Vorbeireisenden Handel getrieben haben.

Also dorthin, wo das Dorf Lecheln entstanden ist.

Stellt euch anständig auf, so dass ihr mich nicht blamiert.“

In ordentlichen Zweierreihen wanderten wir zwischen den Wiesen hindurch bis zum Vorwerk.

Wir begegneten zwar keinem Menschen unterwegs, aber wenn, hätten wir Herrn Günther bestimmt nicht blamiert.

David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel

Подняться наверх