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Der Aufbruch des Helden

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Ich saß an meinem Schreibtisch und grübelte darüber nach, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Ich war traurig, deprimiert, zerstört. Nichts wollte mir gelingen, ich war überall blockiert. Meine Gedanken gingen ins Leere, ich ging ohne mich zu bewegen, denn es war das Schicksalsrad, das sich für mich drehte, eine Fahrt in den Abgrund, in dem die Zeit stillstand. Eigentlich wollte ich ein Buch über das Ringen um die Sinnfrage schreiben, die den Menschen oft in seiner Lebensmitte befällt, doch plötzlich fühlte ich mich selbst in die Abgründe hineingerissen, die ich nur beschreiben wollte, und auf einmal kam mir mein Leben grau und sinnlos vor. Mit dem virtuosen Blick der Selbstzerfleischung hatte ich den dunklen Fleck in mir entdeckt, der mein Selbstverständnis von der Welt und alles, wofür ich kämpfte, allein schon dadurch bedrohte, daß es ihn gab, und deshalb mußte es wohl auch einen Weg geben, ihn aus meinem Leben wieder zu entfernen. «Der Fleck muß verschwinden!» dachte ich laut.

«Doch die Exekution des Fleckes willst du nicht selbst übernehmen, damit dein Weltbild auch weiterhin in Ordnung bleibt, du möchtest vielmehr, daß ich diese Aufgabe für dich übernehme», hörte ich eine näselnde Stimme in mir, die ich für mein abgespaltenes psychologisches Verständnis hielt, «und weil du dich nicht ändern willst, versuchst du, das Leben für dein Scheitern verantwortlich zu machen, statt dir vor Augen zu führen, wo das Übel sitzt und wie schwer es ist, Bestehendes dort zu verändern, wo du selbst Sachverwalter des Bestehenden bist, nämlich in deinem eigenen Kopf.»

«Ich weiß manchmal auch nicht, wie ich das alles in mir zusammenreime», erwiderte ich dem Geist dieser Stimme, die in mir sprach und die ich als inneren Dialog wahrnahm, als sie die Beweggründe meiner Denkmuster kritisierte: «Immer versuchst du dich deinen inneren Ängsten zu entziehen, um dich den Voraussetzungen deiner eigenen Handlungen zu verschließen. Auch jetzt versuchst du über deine Krise intellektuell zu debattieren, aber nicht, um deine Lage zu verändern, sondern nur, um deiner Situation einen vernünftigen Grund zu unterlegen. Wie solltest du da je zur Einsicht gelangen, es sei denn …», sagte sie, einen Augenblick lang innehaltend, um mir die Gelegenheit zu geben, ihr beizustimmen und mich nach einem möglichen Ausweg zu erkunden, was ich auch sofort mit der Frage tat: «… es sei denn was?»

«Es sei denn, du ließest dich bedingungslos in dein unbewußtes schwarzes inneres Loch hineinfallen, in das Zentrum des Flecks», erwiderte die Stimme und machte wieder eine kleine Pause, um diese abschließende Botschaft gewissermaßen in mich einsinken zu lassen: «In deinen Ängsten drückt sich eigentlich nur die Tatsache aus, daß du das moralische Weltbild, die Werte gesellschaftlicher Prägungen, noch immer soweit verinnerlicht hältst, daß du die Erkenntnisse deiner Sinnlosigkeit nicht als Befreiung von diesen anerzogenen Wertvorstellungen, sondern als unzulässige Abweichung von ihnen und damit als Schuld erfährst. Deshalb ist deine Depression auch nicht da draußen, sondern in dir selbst. Sie beruht auf einem Modell, das dir seit Kindesbeinen eingefüttert wurde. Und eine willentliche Veränderung dieser Perspektive bedeutet nicht darüber zu lamentieren, warum das Leben für dich keinen Sinn mehr hat, sondern zu merken, daß im Gegenteil alle dir eingetrichterten Modelle außerhalb ihrer gesellschaftlichen Zielrichtung sinnlos sind. Der Wille zur Genesung kann also nicht bedeuten, den Lebenssinn zurückzuholen, sondern ihn für immer zu verlassen.»

«Wie?» entschlüpfte mir die Frage, denn irgendwie ahnte ich schon, daß diese Verhinderungen nur dazu da waren, erkannt zu werden, denn das innere Erkennen aller Zusammenhänge schien mir die einzige Möglichkeit, die Bedingungen der Leiden kennenzulernen und damit die Voraussetzungen zu ihrer Beseitigung zu schaffen. Die Frage war nur: Wie? Wie sollte das geschehen?

«Zum Beispiel, indem du aus dem Fenster springst!» orgelte es in meinem Inneren.

Meine innere Stimme wollte mich wohl veralbern: «Hast du keinen originelleren Ratschlag für mich?» fragte ich.

«Der Sturz ist die Auflösung des Ich, von dem aus es sich verlierend durch Selbstbetrachtung wieder zurückgewinnen kann. Erst wenn dein Verstand an den Grundlagen des rationalen Weltbilds zerschellt», erwiderte die Stimme, «werden alle deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile aus den Umklammerungen des unterdrückenden Denkens wieder frei und du kannst alles sein, was du sein möchtest. Vieles ist in dir, du brauchst es nur zu wollen. Geh jetzt zum Fenster!»

«Ich bin nicht so verrückt, wie du mich darstellst», gab ich zu bedenken, während ich mich erhob und zögernd zum Fenster ging. Der ganze Himmel war von rotem Abendglanz durchglüht. Es hatte am Vormittag und am Nachmittag die meiste Zeit geregnet, erst gegen Abend teilten sich die Wolken, und die Sonne schien ins Zimmer. «Wahrscheinlich habe ich nur einen Sinnfindungs-Komplex. Im Grunde bin ich ein schüchterner kleiner Junge, der nie richtig erwachsen geworden ist», erklärte ich, «und darum beständig naseweis über seine eigenen Bilder hinauswachsen möchte, die er pausenlos produziert und sie im gleichen Atemzug wieder in Frage stellt, um sich vor seinen eigenen Zweifeln zu schützen …»

Plötzlich züngelte vor meinen Augen ein Blitz, und was dann geschah, erlebte ich wie einen «Trip». Hätte mir jemand eine LSD-Droge verabreicht, so hätte die Erfahrung nicht phantastischer sein können. Ich starrte durch das Fenster in die Sonne, und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich mit ungeheurer Kraft ein Feuerwerk von Visionen in meinem Kopf. Es war, als ob die mir bekannte Realität plötzlich dünn wie Seidenpapier geworden wäre, denn inmitten der Flammen sah ich ein seltsames Gesicht aufleuchten, als hätten sich sämtliche Poren seiner Haut in Licht verwandelt. Es strahlte eine weiße Licht-Aura aus und zog mich an. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Schwingungen geriet. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich in zwei Teile gespalten, denn ich spürte, wie ich an meinem Arbeitsplatz saß und die Ideen in die Tasten hämmerte, die mir durch den Kopf blitzten, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als ob ich es selbst war, der die Geschichte erlebte und aus dem Fenster fiel. Ich erkannte deutlich die luziden Wände meiner Geschichte als Spiegelrahmen einer mir unsichtbaren Welt, in der ich einem Engel begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde. Sanft faßte er mich an der Hand und sprach: «Was weißt du von der Wirklichkeit, die dich umgibt?» Eine himmlische Gestalt in einem dunkelblauen Mantel stand vor mir und blickte mich unter ihrer Kapuze freundlich an. Die funkelnden Augen leuchteten in ihrem rötlichen Glanz aus der Tiefe der Finsternis hervor und ließen mich am ganzen Körper erzittern.

«Genug, um in der Welt überleben zu können», stammelte ich sichtlich aufgeregt.

«Das ist nicht genug, denn du bist hier nicht in der Zeit, die sich durch den Raum bewegt, sondern du bist der Raum, der durch sich selbst stürzt, weil er sich vor sich selbst verschließt. Ich bin der Schlüssel, der dich öffnet und der dir Zugang zur Wahrnehmung ungeahnter Perspektiven verschafft. Denn du bist die Tür, die dir als Eingang dient, die aber nicht nur an einem einzigen Punkt im Universum existiert, sondern die in verschiedene Bewußtseinsebenen hineingekrümmt ist … Gemeinsam können wir alle Ebenen durchwachsen. Schau hin!»

Und aus der Sonne brach ein glänzender Lichtstrom hervor und fiel über mein Pult auf Baphomets «The Light of Hell», eine alte apokryphe Schrift, die in meinem Bücherregal neben anderen kostbaren, gebundenen Manuskripten stand, die ich aber noch nie eines persönlichen Augenscheines gewürdigt hatte. Als ich gebannt hinsah, hatte ich das merkwürdige Gefühl, daß sich plötzlich ein kleines Auge auf dem mächtigen Rücken des magischen Wälzers abzeichnete und mir einladend zublinzelte. Blitzschnell erhob ich mich, mehr von der Aussicht beflügelt, etwas verpassen zu können, das bis jetzt nur in meiner Phantasie bestand, als vom Wunsch angetrieben, mich in neue Abenteuer zu stürzen. Ich zog das Buch aus dem Regal und schlug es auf, und da verfing sich mein Blick auch sofort in der flammenden Widmung, die über dem inneren Buchdeckel prangte: «Das Licht der Erkenntnis leuchtet aus dem Vorhof der Hölle.» Dann schlug ich die erste Seite auf, auf der in tiefschwarzen Lettern geschrieben stand: «Es stehen viele Geschichten in den geheimnisvollen Zauberbüchern, den schwarzen, unergründlichen Apokryphen der Hölle. Sie berichten von Dingen und Geschehnissen, die sich in der Tiefe der Erde ereignen, in der Finsternis der Nacht, aber nirgends, o Wanderer, findet sich die Geschichte der Seelen, die den Seufzern der Leere lauschen, dem Räuspern des Nichts, und die in der Einsamkeit schaudern und vergeblich einen Ausweg aus dem Schreckensgewölbe ihrer Träume suchen. Sie sühnen in den Verstrickungen ihrer Bilder, den Gefängnissen der Sehnsüchte und sind sich dabei ihrer Strafe bewußt, obwohl sie versuchen, sie aus ihrem Gedächtnis zu tilgen: Aber sie müssen durch die Hölle hindurch, auch wenn sie nicht wissen, was am anderen Ende ist. Aber, so wahr ich hier stehe, mein Freund, es ist Licht!»

Ich ließ das Buch sinken. Durch das einfallende Licht der Sonne wurde mein Blick von einer seltsamen Einrichtung auf der Rückseite des Regals angezogen, und plötzlich wurde ich eines Porträts gewahr, das in einer Nische eingelassen war, und zwar so, daß man nur einen Einblick bekam, wenn man einen der schwarzen Riesenbände aus dem Regal herausnahm. Es mußte sich um ein Ahnenporträt handeln, auch wenn es mir seltsam vorkam, daß es so versteckt hinter den geheimnisvollen Büchern und nicht wie die anderen Bilder im Familienalbum eingeklebt war. Der Glanz der Abendsonne brachte das Bild dabei wunderbar zum Ausdruck. Es stellte einen Mann unter einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht verdeckt im Schatten lag, nur die roten Augen funkelten hervor. Das Gesicht war mir sehr vertraut, und irgendwie schienen mir auch seine Augen zu antworten, denn einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl, als blinzelten sie mich an: «Erst wenn dein Verstand an den Grundlagen des rationalen Weltbilds zerschellt», vernahm ich meine innere Stimme, «werden all deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile aus den Umklammerungen des unterdrückenden Denkens wieder frei und du kannst alles sein, was du wirklich bist. Weshalb nicht auch ‹ich selbst›?»

Immer, wenn ich mich mit meinen inneren Gedanken zu beschäftigen begann, fand ich mich in den tiefsten Depressionen wieder. Ich verstand dann oft nicht mehr, wie es überhaupt möglich war, nicht deprimiert zu sein. Auch diesmal saß ich mit gequälter Miene am Tisch und versuchte, meine Situation selbst in den Blick zu nehmen und meine Gedanken aufzuschreiben, die mir durch den Kopf wirbelten, und damit die Geschichte eines Menschen in seiner Lebensmitte aufzuarbeiten, der seinen Lebenssinn verloren hatte. Doch diesmal eröffnete sich mir eine Vielzahl verschiedener Sichtweisen, meine Situation zu betrachten, und diese relativierten meine Unzufriedenheit mit mir selbst, aus der meine Depression sich speiste, weil ich plötzlich die Möglichkeit erkannte, wenn schon nicht frei handeln, so doch wenigstens innerhalb der schmalen Bandbreite meiner kreativen Phantasie frei entscheiden zu können, und plötzlich war mir die Sache klar: Ich mußte den Verstand aus mir hinausschmeißen, denn die Tendenz zur Hinterfragung meines Denkens und meiner Gefühle gehörte zur Struktur meiner selbst, die sich zu vernichten drohte. Denn wenn ich schon vor mir selbst nicht davonlaufen konnte, dann mußte ich wenigstens das, was mich an meiner Selbstannahme hinderte, aus mir auslagern, damit ich mich nicht weiter von ihm bedrohen lassen mußte. Meiner selbst zwar immer noch unsicher glaubte ich jetzt wenigstens zu wissen, was ich zu tun hatte: Ich packte den Verstand an seinem Schopf und schleuderte ihn gezielt aus mir heraus.

Ein peitschender Strom sich überschlagender Bilder zuckte durch mein Hirn, der sich bis zu den Innenräumen meiner Seele verlängerte, dann spürte ich zwischen den Ohren einen Knall, und gleichzeitig sah ich meinen Verstand mit bleichem Gesicht im Sonnenlicht stehen, der nun den Himmel für seine Lebensdepressionen und sein Scheitern verantwortlich machte, bevor er sich in einem plötzlichen Akt der Verzweiflung aus dem Fenster stürzte. Die Sonne explodierte, und mein Blick fiel auf das Fensterglas, das aus Hunderten von Scherben mein Bild zurückwarf. Ein neues Besinnen war zu meinem Empfinden gekommen und trieb mich über die Schwelle hinaus, als ich den Boden auf mich zurasen sah. Doch zu meinem Erstaunen erwartete mich da unten nicht das Ende mit seinem entsetzlichen Aufprall, sondern eine leuchtende Gestalt mit weit ausgebreiteten Armen. Sie fing mich auf und flüsterte mir ins Ohr, sie habe schon lange mit mir Kontakt aufnehmen wollen, aber meine intellektuellen Abwehrmechanismen hätten bisher eine mögliche Verbindung verhindert. Zwar hätte ich stets geahnt, daß es noch eine andere Seite gäbe, aber sobald ich versuchte hätte, die andere Seite zu erfassen, habe mich mein Verstand zurückgehalten, und dieser sei ein deprimierter Tyrann, der an den Polaritäten seines Denkens klebe und mich zwinge, jede Gewißheit an eine Welt jenseits des Verstandes aufzugeben. Deshalb habe er ihn aus dem Fenster gestoßen, denn der Weg meines Denkens wäre sonst dorthin gegangen, wo ich die Wirklichkeit verdrängte, statt die Voraussetzungen meines Denkens zu überwinden; die Polarität des Denkens sei die Voraussetzung für alle meine Probleme. Der Sturz aus dem Fenster sei gewissermaßen die Brücke ins Erkennen, denn erst dann, wenn der Verstand gezwungen sei, seine Position aufzugeben, würde so etwas wie Einsicht in andere Dimensionen bei mir frei.

Schon fühlte ich mich von einem Mantel roter Flammen eingehüllt, und einen Augenblick lang dachte ich an Feuer, aber mein inneres Auge zeigte mir, daß es die Hölle in mir selbst war, die ausbrach. Die Sonne glühte, und ich erkannte ihre strahlende, leuchtende Gestalt, aber ebenso deutlich erblickte ich darin auch mein Gesicht: mitten im Zimmer, in dem ich mich befand, und das Fenster war mein Augenlicht! Das also war der Blick, der sich ins eigene Auge sah, und in meinem eigenen Auge sah ich die Sonne aufgehen und mitten darin den Namen «Akron» leuchten, dann materialisierte sich vor mir eine Schwingungsenergie, die ich plötzlich sehen konnte; sie bildete eine leuchtende Gestalt mit roten Augen, die mich einhüllte und zu mir sprach: «Hör auf, mich anzustarren, denn was du siehst, sind die Flammen deines eigenen Erkennens, und sie können dich verbrennen, weil sie sich aus deiner Sehnsucht nähren, aus deiner Sehnsucht nach einer anderen Welt. Es sind die Kräfte, die noch zu stark für dich sind, auch wenn es deine eigenen sind. Du kannst mein Fluidum aber erkennen, wenn du dich abwendest und die Flammen aus den Augenwinkeln ansiehst!»

Als ich den Blick abwandte und das flammende Gebilde vor mir aus den Augenwinkeln ansah, erkannte ich seine festen Umrisse, obwohl ich ahnte, daß das, was ich sah, nicht die mir bekannte Realität sein konnte. Die Vision dieses Bildes konnte nichts Wirkliches sein, nichts, was dem materiellen Anspruch des Alltags standhalten konnte, aber ich ahnte auch, wie großartig das Wesen dieser Illusion sein mußte, die alles andere als Täuschung oder Irrtum war, sondern die Wirklichkeit einer irrealen inneren Sehnsucht, deren Verwirklichung uns die eigene Schöpfernatur lockend vor Augen zauberte, denn als ich meinen Blick direkt auf das Wesen richtete, lächelte es sanft unter seiner Kapuze und sprach: «Alle Sehnsucht ist Sehnsucht nach Liebe und Tod, denn das wahre Ziel von Eros und Thanatos ist die Überwindung des Ich, und der Weg führt über sich hinausstrebend zur Ewigkeit. Siehe, ich bin Akron, dein anderes Selbst, und führe dich ins Paradies, doch das Paradies ist eine Welt, die in viele Dimensionen hineingestellt ist, und die erste Schicht, die wir durchqueren, ist die Unterwelt. Genauso, wie das Universum in viele verschiedene Perspektiven aufgeteilt ist, ist auch die Persönlichkeit ein Konglomerat von verschiedenen Selbst, die zahllose Ebenen durchwächst, und dort, wo sie sich mit anderen Dimensionen schneidet, entsteht eine Tür, durch die du in andere Welten hineintreten kannst. Es ist zwar gar keine Tür, sondern ein Spiegel, oder genauer, ein gespiegeltes Fenster, in dem man durch sein gespiegeltes Bild hindurchsehen kann, aber das kann der Verstand nicht verstehen. Denn der Verstand ist ein despotischer alter Furz im grauen Gewand, der sich immerzu selbst wiederholt, weil er nie etwas anderes zu tun beabsichtigt als beständig die Regeln aufzustellen, nach denen er die Welt begreift. Nun ist er aber gerade durch sich selbst hindurchgefallen, durch das Fenster, das er für seine Wahrnehmung hielt, und ist vor die Pforte der Erkenntnis geknallt. Dieser Schock hat ihn verändert, denn er ist aus den Grenzen seiner Wahrnehmung gestürzt, und das hat ihn verwundbar gemacht. Horch! Jetzt steht er vor der Tür und klopft. Vielleicht bringt er dir den Schlüssel, der dich vervollständigt: Willst du ihn nicht hereinlassen?»

«Gewiß!» erwiderte ich rasch und rannte an die Tür. Ich öffnete sie, und da stand er vor mir. Da war er also wieder, mein Verstand, den ich noch eben aus mir hinausgestoßen hatte, der aber schnell wieder zu mir zurückgefunden hatte und mir nun hier auf der Schwelle gegenübertrat. Wie interessant! «Bist du nicht abgestürzt?» fragte ich ihn.

«Ganz recht», erwiderte er sanft, «ich bin aus meiner Alltagsvernunft herausgefallen und diene jetzt jener wirklichen Welt, denn ich bin das Licht deines eigenen Erkennens, das dir die Botschaften deiner Schattenwelt überbringt.»

«Und was willst du von mir?» entgegnete ich unbeirrt.

«Dies läßt sich nicht so einfach erklären», sagte er, «denn ich bin ein Teil von dem, das du aus dir entfernt und in die Unterwelt geschickt hast, damit es deinen verdrängten Schatten für dich sucht. Nun bin ich wieder zurückgekommen, um dir das zu bringen, wonach du mich geschickt hast – in deinem künftigen Erkennen …»

«Geh zum Teufel!» erwiderte ich ungerührt.

«Gewiß, mein Herr – zu dir!» höhnte er zurück, «denn du benutzt dich selbst in mir, um das zu finden, was du suchst. Gleichzeitig versuchst du, die Erkenntnis dessen zu verhindern, wonach du mich ausgeschickt hast. Unter materiellen Gesichtspunkten gesehen bin ich nur ein Gedanke, aber mich durchströmen die Erfahrungen von zehn Millionen Jahren menschlicher Entwicklung, denn in mir sind die Muster, anhand derer du gelernt hast, die Welt zu erschaffen, sowie die Muster der Veränderung, die das verändern, was du aus diesen Mustern geschaffen hast. Vielleicht erscheine ich dir unpersönlich? Doch weil es meine Energien sind, mit denen du die Muster deiner Vorstellung tränkst, bin ich da nicht dein Freund?»

Ich spürte eine unsichtbare zentrifugale, mich langsam aus dem Gleichgewicht bringende Kraft, die mich aufwirbelte und durcheinanderschüttelte. Auf einmal wurde ich mir bewußt, daß ich nicht mehr in der Zeit stand, die sich durch den Raum bewegte, sondern irgendwie auf der Schwelle, wo sich Raum und Zeit verbanden: «Und wie bin ich hierhergekommen?»

«Du bist durch dich hindurchgekommen!»

«Was bedeutet ‹durch mich hindurchgekommen›?»

«Das heißt, daß du durch die Tür gekommen bist!»

«Wenn ich aber durch die Tür gekommen bin, wie kann ich dann durch mich selbst gekommen sein?»

«Weil du die Türe selbst bist!»

«Dann zeig mir diese Tür!» schrie ich erbost.

Er schmetterte die Tür ins Schloß, und die Bilder versickerten in meinem Hirn. Ganz langsam lösten sie sich auf, und genauso langsam öffnete sich eine Glaskuppel, die aussah wie eine Hirnschale. Ich schwebte auf meinen Körper zu, glitt durch meinen Kopf in ihn hinein und fühlte, wie sich in meinem Gehirn eine Vorstellung formte, die sich in der räumlichen Sphäre manifestierte. Plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Jemand war durchs Zimmer auf mich zugekommen: «Komm mit!» sagte er. Ich öffnete die Augen.

«Ich führe dich zur Tür!» Da stand er vor mir, sein Blick traf mich direkt ins Auge, und plötzlich war mir klar, als ich mich durch die Augen von ihm sah, wie großartig das Wesen dieser Illusion sein mußte, die alles andere als Täuschung oder Irrtum war, sondern die Wirklichkeit einer irrealen Sehnsucht, die mich mit ihm verband. Ja, es war mir klar, daß er ein anderer Teil von mir war und daß ich nicht aus ihm herauskommen konnte, ohne mich nicht selbst zu verlieren. Und trotzdem war er mir vertraut, denn zwischen uns war eine Verbindung wie zwischen Zeit und Ewigkeit, und unsere Blicke bildeten die Brücke: «Hör auf, mich anzustarren!» hörte ich ihn sagen, aber meine Gedanken kreisten immer stärker um seine seltsam leuchtenden Augen, denn jetzt wußte ich, sie hatten mich erkannt.


Dantes Inferno I

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