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1. f) Die Sinnkrise des Volkes

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Die Ältesten reihen sich mit ihrem bemerkenswerten Spruch in eine Folge unterschiedlicher Situationen und Vorgänge ein, an denen ganz unterschiedliche Menschen beteiligt sind. Nur die - „die Ältesten des Hauses Israel“ erhalten eine Bezeichnung, die historisch einzuordnen ist. Ob aber wirklich mit ihnen an eine bestimmte historische Gruppe gedacht ist, bleibt trotzdem fraglich.

Die einzige mit Namen genannte Person unter ihnen, Jaasanja, Sohn Schafans, ist nicht ermittelbar. Die weinenden Frauen, wie die 25 Männer mit dem Rücken zum Tempel, die auf die Ältesten folgen, bleiben jeweils anonym. Das Götzenbild am nördlichen Eingang, das vorher erwähnt wird, steht für sich allein ohne anwesende Personen.109 Historisch verifizierbare Angaben sind also in der Komposition so gut wie nicht enthalten,110 oder wenigstens schwer nachweisbar.

Es konnte ein mit der Ältesten-Gruppe verbundener Bezug zur Sinai-Offenbarung und zum Ruf des Mose nach einem prophetischen Volk wahrscheinlich gemacht werden. Das Exil wird damit indirekt mit der Wüstenwanderung verglichen. Das Verhalten der Ältesten führt exemplarisch vor Augen, wie weit das Volk noch von dem Ideal eines solchen prophetischen Volkes entfernt ist und damit von der Möglichkeit eines zweiten Exodus. Auf der anderen Seite soll eben gerade diese Möglichkeit allmählich vorbereitet werden.

Mit Hilfe von Bildern und Szenen in einer dichterisch kunstvoll ausgearbeiteten Komposition bringt der Prophet zur Anschauung, wieviel Widersprüchlichkeiten und Unwahrhaftigkeiten in der Anhänglichkeit an den Tempel zusammenkommen können. Diese durch den Tempel vermittelte Gottesbeziehung also, die zwar geschichtliche Vorgänge begleitet, aber nicht unmittelbar an ihnen ablesbar ist, ist dasjenige Element, worin die Sprechersituation am ehesten zu suchen ist. Der Tempel ist auch der „Ort“, an dem das Gericht beginnt, um von dort weiter auszustrahlen (9,6). Der Wechsel von Haus Israel (8,11 u. 8,12) zu Haus Juda (8,17), sowie ihre gemeinsame Nennung in 9,9 läßt sich am ehesten als das literarische Stilmittel erklären, durch komplementäre Ergänzung die Gesamtheit des Volkes hervorzuheben. Im 11. Kapitel wird die Erzählung zumindest dem Anschein nach historischer.

Das einzige Gewisse, was gesagt werden kann, ist, daß Ezechiel exemplarische Verhaltensweisen des Volkes durch die Vision in räumlicher Nähe zum Tempel geschehen läßt. Bei einer so vorsichtigen Formulierung bleiben verschiedene Möglichkeiten gewahrt. Das exemplarische Verhalten läßt sich sowohl als einheitlicher Ritus, als auch als Abfolge einzelner völlig selbständiger Handlungen verstehen. Neben der häufig genannten Möglichkeit, daß Ez in Jerusalem geschehene Dinge durch die Vision mit dem Exil verbindet, ist auch grundsätzlich mit der weniger oft genannten Möglichkeit zu rechnen, daß er Exilserfahrungen (Tammuz-Verehrung!, sonst nirgendwo im AT erwähnt) nach Jerusalem projiziert.

Das Geschehen am Tempel mit seiner Zusammenschau von Handlungen, die an verschiedenen Orten des Tempels stattfinden und das möglicherweise gleichzeitig, trägt auch in sich den Charakter einer Vision. Die mit der Versetzung nach Jerusalem begonnenen Raumwechsel pflanzen sich weiter fort. Man weiß nicht, wie man sich das ganze Geschehen ohne diesen visionären Rahmen vorstellen sollte. Denn dieser hält nicht nur Jerusalem und Exil zusammen, sondern verbindet auch innerhalb Jerusalems die einzelnen Abschnitte. Keels Feststellung, daß bei Ez die räumliche Komponente die zeitliche überwiege111, wird vielleicht nirgendwo sonst so deutlich wie in der Visionseinheit 8-11. Der Charakter der ganzen Vision ist so gehalten, daß zugunsten einer konsequenten räumlichen Bewegung die zeitlichen Gesetze zumindest stellenweise außerkraft gesetzt oder relativiert werden.

Die Redensart in 8,12 ist dabei so allgemein formuliert, bedient sich einer so einfachen und klaren Sprache, drückt eine mögliche Empfindung der Zeit so direkt aus, daß zu vermuten steht, daß sich nicht nur die Ältesten, sondern überhaupt weite Teile der Bevölkerung darin wiederfinden konnten. In ihrem Inhalt läßt diese Redensart keinen Gegensatz zwischen Jerusalemern und Exulanten erkennen. Sie wird zwar nur in Jerusalem ausgesprochen, doch die Sprecherbezeichnung „Älteste“ schlägt die Brücke auch zu den Exulanten, unter denen sich auch Älteste befinden, wie 8,1 erkennen läßt. Während die Redensart 8,12 liturgisch verankert ist, wird die Variante 9,9, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, in einen sozialkritischen Zusammenhang gerückt. Diese räumliche, personelle und inhaltliche Variabilität der Redensart befähigt sie, die Thematik auszusprechen und einzuführen, die das Volk bewegt. Hier geht es nicht mehr bloß um Gerichtsankündigung, hier kommen Menschen zu Wort, die bereits Gericht an sich erfahren haben und nun nach dessen Sinn und der weiteren Zukunft fragen. Es sind nicht bloße Einzelstimmen, die sich hier melden, es ist letztlich das Volk selbst, das nach der äußeren Katastrophe auch in eine innere Sinnkrise gerät, durch die nichts weniger als die eigene Identität auf dem Spiel steht. Die Frage, deren Beantwortung durch diese Redensart wie alle weiteren notwendig gemacht wird, ist die, wie das Volk nach seinen Niederlagen und Verlusten einerseits noch als Volk überleben und andererseits die Beziehung zu JHWH wiederfinden kann, von dem es sich verlassen glaubt.

Die Redensart benennt die drei Hauptagenten, die in den Wirren die tragenden Konstanten bleiben: JHWH, Land, wir (=Volk). Die innere Entfremdung von Gott infolge der politischen Niederlage hat nun auch in religiöser Beziehung eine gewaltige Lücke hinterlassen, die durch irgendetwas ausgefüllt werden mußte. Der Prophet hat es nicht mit religiös gleichgültigen, verweltlichten Menschen zu tun, sondern im Gegenteil mit Menschen mit einem allgemeinen religiösen Bedürfnis, das sich einen anbetungswürdigen Gegenstand sucht. Von diesem Gegenstand erhoffen sie eine Verbesserung ihrer Situation, nachdem sie sich in der Hoffnung, die sie auf JHWH gesetzt haben, enttäuscht sehen.

Für das Empfinden des Volkes, so verdeutlicht die Redensart, bedeutet die politische Niederlage, daß Gott das Land verlassen haben muß. Auch der Prophet berichtet innerhalb der Vision, wie die Herrlichkeit Gottes den Tempel verläßt, allerdings aus freiem Entschluß und nicht aufgrund einer Niederlage, sondern abgestoßen von dem götzendienerischen, ungerechten und verantwortungslosen Treiben in Tempelnähe. Dies mindert aber gerade nicht seine Gegenwärtigkeit (u.a. auch im Gericht), sondern läßt sie außerdem Formen annehmen, durch die auch die Verbannten an ihr teilhaben können.

Der Inhalt der Redensart ist so gehalten, daß er einen spannungsvollen Gegensatz zum übrigen Visionsgeschehen aufbaut. Der Spruch läuft auf das Land als Zielwort zu. Darin zeigt sich, welchen Vorrang für das Volk das Politische hat. Der Tempel wird im Spruch nicht erwähnt. Nichts an ihm deutet darauf hin, daß er in Tempelnähe seinen ursprünglichen Ort hat. Die Vision dagegen versetzt den Propheten unmittelbar an den Tempel und läßt vom Land ihrerseits so gut wie nichts sehen. Für den Propheten hat ebenso sicher das Religiöse um seiner selbst willen den Vorrang, und nicht als Mittel zur Erreichung eigener Interessen. Die Redensart spricht von Gott als von einem Gott, der nicht sieht, weil seine Gegenwärtigkeit in den Nöten der Zeit vermißt wird. Gleichzeitig werden die Sprecher vorgeführt wie Menschen, die gar nicht gesehen werden wollen und das Dunkel heimlicher Gemächer aufsuchen. Dem allen gegenüber erscheint Gott in der Vision als ein Alles sehender Gott, vor dem das Dunkelste und Geheimste nicht verborgen bleibt. Für das Volk in der Redensart bedeutet die Niederlage im Lande, daß Gott ein ohnmächtiger Gott ist, der das Land verlassen und damit sein Volk preisgegeben haben mußte. Statt dessen zeigt die Vision einen Gott, der nicht nur im Himmel einen von seinem irdischen Wohnsitz unabhängigen Standort besitzt, sondern der auch auf der Erde sich frei und unabhängig von den Menschen bewegen kann und infolge dessen so etwas wie eine Allgegenwart besitzt.112

Zimmerli hat 8,12 u. 9,9 als rein illustrierende Redensarten eingestuft.113 Die genauere Analyse zeigt aber, daß auch sie in einen weiter zu fassenden dialogischen Zusammenhang einzuordnen sind. Die Antwort erfolgt nicht in Form einer Rede mit einzelnen Argumentationsschritten, sondern in dem umgebenden Visionsgeschehen selbst, das ohne viel rhetorischen Aufhebens der Wirklichkeitsdeutung in den Redensarten den Spiegel vorhält.114 So wird schon hier bei der Besprechung der ersten Redensart der Verdacht geweckt, daß die Redensarten auch über den beschränkten Rand unmittelbarer Hin- und Widerrede hinaus tiefer mit dem allgemeinen Gang des Buches verbunden sind, als dies bisher wahrgenommen, oder zumindest dargestellt wurde.115 Das abschließende Gericht ist über das Land noch nicht hingegangen. Erst nach diesem Gericht, das die Exilierten nur noch aus sicherer Entfernung wahrnehmen, wird an eine Rückkehr ins Land und an eine Wiederherstellung des Volkes zu denken sein.

49 Nach Prüfung aller bisherigen Erklärungen dieses Verstummungsbefehls, der den Propheten doch nicht buchstäblich verstummen läßt, kam seinerzeit R.R. Wilson, „An Interpretation of Ezekiel’s Dumbness“, 101, zu dem Ergebnis, ihn so zu verstehen, daß Ezechiel kein Mittler mehr zwischen Volk und Gott sein durfte: „In this dispute Ezekiel is forbidden to be a mediator. He can no longer promote dialogue between the two parties. He can no longer intercede with Yahweh on behalf of the people to make sure that they receive a fair trial. He can no longer argue the people’s case with Yahweh. The implication of iii 26 is that in the dialogue which Yahweh carries on with his people through the prophet, communication can now move in only one direction: from Yahweh to the people.“ Pohlmann interpretiert den Verstummungsbefehl als durch die Diaspora-Redaktion nachträglich eingefügte Abwertung der ersten Golah. Vgl. K.-F. Pohlmann, Hesekiel, 77: „Die Erstexilierten sind keine von Jahwe bevorzugte Sondergröße; in keiner Weise stehen sie vor Jahwe besser da als das sonstige Israel.“ Er sieht hierin einen Bezug zur Weigerung Gottes, auf die Befragung durch die Ältesten einzugehen: „Deswegen soll sich Ezechiel den Ältesten verweigern, die durch ihn Jahwe zu befragen suchen (20,1f.31).“ Wenn man historisch nicht so konkret werden möchte, und sich vom Vorliegen einer so tendenziösen Redaktion nicht überzeugen läßt, kann man immer noch davon ausgehen, daß das Ezechielbuch als literarisches Werk mehr auf Fernwirkung als auf Nahwirkung berechnet ist, d.h. daß die Reden Ezechiels sich mehr an die Leser als an die vorgestellten Adressaten richten.

50 M.C. Srajek, „Constituiton and Agency“, 148: „Someone of Ezekiel’s caliber will not easily trust a vision or dream, but will rather seek for theological reasons either to dismiss the vision or to accept it.“

51 Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, 1259: „Hier zeigt übrigens 25,3 mit seiner Parallelisierung von ‘Heiligtum’, ‘Land Israels’ und ‘Haus Juda’ deutlich, daß Jerusalem, Juda und Land Israel als konzentrische Kreise verstanden sind und daß man ‘Israel’ auf keinen Fall auf das Nordreich im Unterschied zu Juda deuten darf.“ Um die Eigenschaft der Begriffe als konzentrische Kreise deutlich werden zu lassen, muß Zimmerli allerdings die Reihenfolge derselben in 25,3 in seiner Deutung umstellen, um ‘Land Israel’ ans Ende setzen und das ‘Heiligtum’ durch Jerusalem ersetzen zu können.

52 W. Zimmerli, Ezechiel, 1260: „Es ist in alldem ganz deutlich, daß Ezechiel in seiner Verkündigung immer wieder das Gottesvolk als Ganzes sieht, ob er sich nun im einzelnen an seine Exilsumgebung wendet, ob er Jerusalem und Juda vor Augen hat oder ob er die Gesamtvolksgeschichte in ihrer ganzen Weite zu Gehör bringt.“

53 Unter Berufung auf L. Rost stellt W. Zimmerli, Ezechiel, 1259 fest, „daß die Bezeichnung Judas mit dem Namen ‘Israel’ bei den Propheten seit dem ausgehenden 8. Jahrh., in dem das Nordreich unterging, nachzuweisen ist.“

54 W. Zimmerli, Ezechiel, 1258: „es fällt auf, wie nachdrücklich im Buche des Judäers Ezechiel von ‘Israel’ geredet ist.“

55 W. Zimmerli, Ezechiel, 1258: „Den insgesamt 186 Vorkommen von stehen ganze 15 Belege für gegenüber.“ Dagegen zählt er, 1260, zum Vergleich bei Jeremia 125 Israel-Nennungen gegen 183 Juda-Nennungen.

56 W. Zimmerli, Ezechiel, 1259: „ Nach allem bleiben für einen in seiner Motivierung nicht durchsichtigen synonymen Wechsel von der Israel- zur Judabenennung nur die Stellen 8,1 […] und 8,17, wo vom Sündigen des Hauses Juda […] die Rede ist.“

57 R. Nay, Jahwe im Dialog, bes. 147-181. Die Möglichkeit dazu findet er durch die Erzählung von der Seraja-Gesandtschaft in Jer 51,59 bestätigt. Für das Verständnis der Großvision Kapitel 8 - 11 ergeben sich damit für ihn weitreichende Konsequenzen. So will er das Visionsgeschehen an verschiedenen Stellen unterbrochen sehen, an denen der Prophet zum direkten Dialog mit den vor ihm versammelten Ältesten zurückkehrt. Dieses geschieht nach ihm in 9,8, wo der Prophet angesichts der geschauten Zerstörung Jerusalems zum ersten Mal aufschreit. Dieser Schrei soll von den Ältesten im Exil gehört werden, die Zeugen seiner ekstatischen Entrückung sind. Darum wäre der Ausspruch in 11,3 in Wirklichkeit eine Äußerung eben dieser Ältesten, mit der sie auf den Schrei reagieren. Die VV. 11,4-12 bildeten ihrerseits die prophetische Antwort auf den Ältesten-Spruch. Sie unterbrächen die Vision, da prophetische Verkündigung nach Nay in einer solchen keinen Platz hat. In V. 13 soll Pelatjahu während dieser Verkündigung und damit im Exil sterben und dadurch den Propheten erneut zu einem Aufschrei bewegen. Wegen der etymologischen Herkunft des Namens von „entkommen“ (Qal) oder „retten“ (Piel) ist sein Tod Vorbedeutung für das Schicksal der Bevölkerung in Jerusalem: nicht einmal ein „Rest“ soll übrigbleiben. - „der Flüchtling“ überbringt später in 33,21 die Nachricht vom Untergang der Stadt.

58 R. Nay, Jahwe im Dialog, 153-154: „Nicht nur Pelatjahu, sondern auch die 25 Ältesten spielen eine Doppelrolle auf der Visions- bzw. auf der Anredeebene […] Wir nennen sie darum Vermittlungsgestalten. Das Gotteswortes [sic] ist innervisionär an sie gerichtet, wird aber vom Propheten den Ältesten Judas verkündigt.“ Die Gruppe vor dem Tor wird aber nicht als Älteste bezeichnet, sondern als ‘Anführer des Volkes’. Sie werden auch sonst in einer Weise gezeichnet, die wenig Vergleichspunkte mit dem Verhalten der Ältesten bietet. Als Experiment kann man Nays extremen Versuch gelten lassen. Wenn er auch in Konkretem wenig überzeugen kann, so hilft dieses Experiment zumindest indirekt, die Schwierigkeiten des Textes besser zu verstehen und sie in einem grellen Lichte erscheinen zu lassen. Wenn je könnten seine Ansichten aber nur für eine Vorstufe des Textes zutreffen, da seine gegenwärtige Fassung jede Visionsunterbrechung unterbindet, wie in 11,24, wo der Prophet erst müsahm ins Exil wieder zurückkehren muß, deutlich wird.

59 W. Zimmerli, Ezechiel, 244: „Daß Ez den Auftrag bekommt, in dieses gottlose Gerede der von ihm visionär geschauten Männer hinein zu prophezeien, hat seine nächste Parallele in dem großen Gesicht 37,11ff., wo dann wie hier das Prophetenwort die Vision mitbestimmt.“

60 Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, 202: „Am unmittelbarsten heben sich 11,1-21 als Fremdkörper aus dem übrigen Zusammenhang heraus.“

61 Vgl. K.-F. Pohlmann, Hesekiel, 135: „ […] den Verweisen auf eine visionäre Erfahrung ‘Ezechiels’ kam lediglich die Funktion zu, auf diesem Weg sicherzustellen, daß ‘Ezechiel’, obwohl im Exil, zugleich doch in Jerusalem dortige Vorgänge wahrnehmen und dazu Stellung nehmen konnte. Veranlaßt zu dieser Konstruktion sah sich die golaorientierte Redaktion im Blick auf Ez 11,1-13. Denn der hier agierende Sprecher war unzweifelhaft in Jerusalemer Vorgänge verwickelt.“

62 R. Mosis, „Ez 14,1-11“, 191, hebt diesen Charakter besonders hervor: „Die Ältesten nehmen jene Haltung ein, die ihnen zukommt, wenn sie zu einer offiziellen Amtshandlung zusammenkommen.“

63 Vgl. R. Mosis, Ezechiel, 150-151, zum Anspruch der Ältesten: „ Wenn also Männer von der Ältestenschaft Israels zum Propheten kommen, um Jahwe für sich zu befragen, nehmen sie für sich in Anspruch, in Wahrheit zur Gemeinschaft des Gottesvolkes zu gehören und mit Jahwe, dem Gott Israels und dem Gott der ganzen Welt, verbunden zu sein.“

64 Weiteres zu dem Thema Älteste im Ezechielbuch soll weiter unten bei der Analyse von 8,12 unter B.1.d) verhandelt werden.

65 R. Mosis, „Ez 14,1-11“, 191, findet es „verständlich, warum nicht gesagt wird, was denn die Ältesten erfragen wollen. Allein die Tatsache ist wichtig, daß sie Jahwe für sich befragen wollen, obwohl sie nicht von ihren Götzen gelassen haben.“

66 Zu diesem Versteil werden recht unterschiedliche Übersetzungen geboten. In dem hier gebotenen Vorschlag wird das „Sich-Entfernen“ auf die Menschen am Tempel und nicht auf Gott selbst bezogen. Zu den Gewährsleuten beider Möglichkeiten vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, 193, 215, Anm. zur Stelle. Von Zimmerli wird das Wort unmittelbar als Entfernung des Altars aus dem heiligen Bereich verstanden. Das schließt aber ein weitergehendes Verständnis dieses Sich-Entfernens wohl nicht aus, wie es M. Greenberg erwägt, der wie Zimmerli übersetzt. M. Greenberg, Ezekiel E, 168-169, meint nämlich, dieses Entfernen „implies more than physical distancing; it includes sentiments of indifference or hostility where attachment formerly existed - i.e., alienation (Jer 2:5; Ezek 44:11; Job 19:13); here the bestowal of worship on objects outside the sanctuary, in disregard of the divine presence inside it (cf. vv. 15-16). Alternatively, there may be an allusion here to a compulsory alienation from the sanctuary in the form of exile - the inevitable effect of people’s misdeeds.“

67 Diese Geistigkeit ist im Sinne des ezechielischen - „Herz“ - zu verstehen, der nach Texten wie Ez 11,19 u. 14,1-11 Ausgangspunkt des Abfalls wie der rechten Gottesverehrung ist.

68 Zur archäologischen Feststellung eines solchen Sonnenkultes vgl. J. Glen Taylor, Yahweh and the Sun. Schon W. Zimmerli, Ezechiel, 221, gab ähnlichen Vermutungen statt: „Dabei ist es auch hier durchaus möglich, ja, wahrscheinlich, daß diese Ritualelemente im Verständnis derer, die sie üben, nicht als Verrat am Jahweglauben, sondern als Elemente einer möglichen solaren Interpretation Jahwes verstanden worden sind.“ Olsan versucht eine Beziehung herzustellen zwischen den Sonnenverehrern bei Ezechiel und den Tempeltorhütern in den Chronikbüchern: D. Olsan, „The Gatekeepers“, 237: „Curiously, Ezekiel does not tell us who or what these approximately 25 (MT) or 20 (LXX) men are. One suspects they are priests, but I think we should not be too quick to role out the 22 nightshift gatekeepers of 1 Chron 26,17-18 who are always on duty ‘at the rising of the day’ and who give particular honour and attention to the east. We should also keep in mind that in the first temple period, the gatekeepers were priests.“ Kritik an deren Kultpraxis hätte darum auch zu ihrer Entfernung vom Tempel geführt. „But my thesis is a very simple one: to the degree that the fluctuating fortunes of the priests and Levites in ancient Israel were due to unacceptable forms of Yahwism running afoul of prophetic condemnation (like Ezekiel’s) and radical reforms (like Josiah’s), the gatekeepers would likely have been swept along, too.“

69 O. Keel, „Kulttraditionen“, 488: „Eine Reihe von Gründen macht es sehr wahrscheinlich, daß Salomo nicht einen neuen Tempel gebaut, sondern einen schon bestehenden Tempel renoviert und ausgebaut hat.“ Der Tempelweihspruch in 1 Kön 8,12f. lasse auf einen ursprünglichen Sonnenkult schließen, denn die Verse, so 489, „besagen nichts Geringeres, als daß JHWH eine Sonnengottheit aus dem Tempel ausgebürgert, sie an den Himmel verbannt und ihren Platz im Dunkel des Allerheiligsten eingenommen habe.“ Darum meint er, 492 Anm. 143, mit Blick auf Ezechiels Anspielung auf die Herkunft der Braut Jerusalem in 16,3: „Ein echtes Wissen um die hurritisch-hetitischen Beziehungen des vorisraelitischen Jerusalem findet sich vielleicht noch beim gelehrten Ezechiel […].“

70 M.S. Odell, „The Image of Jealousy“, 134: „That the chapter can and should be read as an account of a coherent ritual is, in fact, implied in the deity’s announcement of judgement in 8,17-18. Although the abominations constitute a major theme of this chapter, Yahweh does not condemn Judah’s idols so much as its prayers: ‘though they cry with a loud voice in my ears, I will not listen to them’ (8.18b). The declaration of judgement suggests that Ezekiel has witnessed a well-established ritual of Yahwistic petition and prayer, which the deity rejects on both ritual and ethical grounds.“ Bereits W. Zimmerli, Ezechiel, 212, äußerte sich seinerzeit skeptisch gegenüber Versuchen, in Ez 8 einen zusammenhängenden Ritus zu ermitteln: „So wird man darauf verzichten, hinter den vier Greueln von Ez 8 ein kultisches Gesamtgeschehen zu finden, und jeden Akt für sich zu erfassen versuchen.“

71 Nach Vergleich mit hauptsächlich phönizischen Parallelen kommt M.S. Odell, „The Image of Jealousy“, 144 zu dem Schluß: „When we examine the dynamics of the ritual in Ezek 8 in light of the principle of child sacrifice, the image of zeal can be construed as a substitute offering to the deity during a time of great crisis.“

72 M.S. Odell, „The Image of Jealousy“, 136: „Unlike the other sections of the chapter, where people are engaged in specific rites, no one is depicted venerating the image of jealousy. When Ezekiel sees it, the deity does ask him whether he sees what they are doing (8.6); however, the context can as easily imply that the image of jealousy represents the cultic act and is not itself the object of veneration.“

73 Während im Erra-Epos die Vernachlässigung der Statue zur Ursache für die Abwesenheit der Gottheit wird, mit dem Hereinbruch chaotischer Zustände im Gefolge, ist es in Ez 8 umgekehrt die Anwesenheit einer Statue, die den wahren Gott verärgert und darum zum Ausziehen bewegt. Während im Erra-Epos die Statue gereinigt werden muß, damit wieder Ordnung einkehren kann, ist es bei Ezechiel das Volk selbst, das als ganzes eine solche Reinigung nötig hat. Zu Charakter und Inhalt des babylonischen Erra-Epos siehe Kapitel B.2.d).

74 Die Zahlenangabe hängt davon ab, ob man den leinenbekleideten Mann, der eigens aufgeführt wird, unter die sechs zuvor Erwähnten subsummiert oder hinzuaddiert. Durch die Zahlensymbolik empfiehlt es sich, von letzterem Vorschlag und somit von 7 Personen insgesamt auszugehen.

75 Die Zeilenaufteilung erfolgt hier wie bei allen nachfolgenden Zitaten der Redensarten, wenn nicht anders vermerkt, nach: Wolfgang Richter, Biblia Hebraica transcripta. 9: Ezechiel, St. Ottilien 1993. (abgekürzt: BHt).

76 W. Zimmerli, Ezechiel, 194: „ … ist ausmalende Glosse.“

77 W. Zimmerli, Ezechiel, 218: „Hat die Bewegung zur Vermehrung der Andachtsstellen auch zur Einrichtung einer Bilderwand oder eines Bilderwinkels in den Häusern der Vornehmen geführt?“

78 W. Zimmeli, Ezechiel, 218: „Der Zug der Heimlichkeit vor Gott, der im anklagenden Zitat der Worte der Ältesten zu venehmen war, hat […] zur Verlegung der ganzen Ältestenszene in einen verborgenen Raum, der nur durch einen nach dem Vorbild von 12 5. 7 geschilderten Mauerdurchbruch zu erreichen ist, geführt.“

79 Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, 194.

80 Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, 194.

81 Nach P. Joüon, Grammaire, § 116f, kann der als zweiter auf einen ersten folgende Imperativ konsekutiven oder seltener finalen Sinn haben. In Ez 8,9 ist beides möglich.

82 Poetisch-ansprechend wäre auch die Übertragung mit „Menschenkind“. Vorgeschlagen hat sie schon um die Wende zum 20. Jahrhundert C.H. Cornill, Der israelitische Prophetismus, 118: „ […] auch sich selbst empfindet Ezechiel Gott gegenüber nur als ‘Menschenkind’ […]“. Heute könnte sie vielleicht manchen zu süßlich-verharmlosend klingen, oder umgekehrt an den ähnlich klingenden Kraftausdruck ‘Menschenskind nochmal!’ erinnern. Einen tieferen spirituellen Sinn vermag ausgerechnet der jüdische Philosoph Hermann Cohen in der Anrede zu erblicken. Er rückt sie in die Nähe der vom Propheten verkündeten Sündenvergebung, da für diese das Eingeständnis, nur Mensch zu sein, Voraussetzung ist. H. Cohen, Religion der Vernunft, 246: „In der Sprache der prophetischen Poesie konnte es fraglich werden, aus welchem anderen Grunde diese Wandlung sich vollziehen könnte als aus dem, daß der Mensch doch immer nur ein Menschsohn ist und bleibt. Der Güte Gottes entspricht im Menschen der Menschensohn.“ Von der dieser Güte entsprechenden Geborgenheit spricht E. Drewermann, Botschaft, 79: „Menschensohn bezeichnet die Erbärmlichkeit eines Stücks Kreatur, ein Menschenkind, ausgesetzt jeder Angst, preisgegeben jeder Gefahr, hineingeworfen in jede Art von Hilflosigkeit, ein kindlich wimmerndes Etwas, das man von seiner Mutter losreißt und das fortan die ganze Welt durchwandert, um sie wiederzufinden. Irgendeine Geborgenheit müßte es geben für dieses ‘Menschenkind’.“

83 Im angelsächsischen Sprachraum werden schon seit längerem Alternativen zu „son of man“ versucht. M. Greenberg, Ezekiel E, 60, übersetzt einfach mit „Man“; in M. Greenberg, Ezechiel D1, 77, mit „Mensch“ wiedergegeben. Allen, Ezekiel 1-19, 3, hat den sinnreichen Einfall, mit „Human one“ zu übersetzen. Alle Seitenangabe beziehen sich hier auf die Übersetzung von Ez 2,1.

84 Vgl. die verschiedenen biblischen Beispiele, die R. Mosis, „Ez 14,1-11“, 189 Anm. 85, für das anführt, was er den reduplikativen Sinn der Präposition nennt. So erklärt er, 189, mit deutschen Beispielen: „Analog zu anderen deutschen Ausdrücken wie z.B. ‘Männer von der Partei’, ‘Männer vom Sicherheitsdienst’ usw. gewährleistet die Abstrahierung von ‘Ältesten’ zu ‘Ältestenschaft’ das Verständnis im reduplikativen Sinn.“

85 Auch Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 88, macht auf diesen Bezug aufmerksam: „Dies alles, so der Seher in seiner verhaltenen Sprache, war ‘die Erscheinung der Gestalt der Herrlichkeit JHWHs’. Der kabod Gottes, seine ‘Herrlichkeit’ als lichtvolle göttliche Gegenwart, ist dem Gottesvolk vor allem am Sinai erschienen (Ex 24,15b-18). Er ließ sich nieder im Zelt der Begegnung in der Wüste (Ex 40,34-35) und nahm schließlich Wohnung im Tempel, den Salomo hatte erbauen lassen (1 Kön 8,10f., 2 Chr 7,1-3). Dieser kabod JHWHs erscheint Ezechiel im Exil. Er, der Transzendente, offenbart sich als der Lebendige, in der Geschichte wirkende, ihr zugleich immanente Gott. Im Land der Verbannung und der Gottferne wird Ezechiel konfrontiert mit dem machtvollen Glanz des universalen Weltenherrn.“

86 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 149, stellt von der Jahwe-Befragung fest: sie „bezeichnet ein offizielles Geschehen. Als Institution reicht die JHWH-Befragung bis in die Königszeit zurück. In der Regel durch persönliche oder politische Notlagen veranlaßt geschieht sie durch die Vermittlung des Propheten. Es geht in ihr nicht nur darum, Informationen einzuholen, sondern zugleich auch um Überwindung der Notsituation.“ Vgl. auch das in B.1.a) zu den Ältesten Gesagte.

87 Vgl. Cl. Westermann, Genesis 1 - 11, 144, zur Finsternis in Gen 1,2: „Auch dieser Satz will nicht objektive Beschreibung, sondern Darstellung eines Aspekts des der Schöpfung entgegengesetzten Zustandes sein. Finsternis ist nicht objektives Naturphänomen, sondern als das Unheimliche gemeint. Dieser existenzbezogene Sinn der Finsternis kann uns an der bekannten Erscheinung deutlich werden, daß Tiere bei einer Sonnenfinsternis in Panik geraten. Die Tiere kennen den Unterschied zwischen einer bergenden und einer die Existenz bedrohenden, zwischen einer geordneten und einer chaotischen Finsternis; diese chaotische Finsternis ist in Gn 1,2 gemeint.“

88 M.S. Odell, „The Image of Jealosy“, 145: „Far from being an act of rejecting Jahweh, the prostration toward the east reflects the associations between Yahweh and the sun that appeared with increasing frequency during the monarchy […]. The act of awaiting the appearance of the sun is the climax of the ritual, which had begun with the elders entreaties in their darkened room and which will end in the morning, when Yahweh’s appearing is as ‘sure as the dawn’ (Hos. 6.3, see also Pss 44.4b; 80.2b,4,8,20; 89.16; 90.14; 129.1-2; 130.5-6).“ Die genannten Psalm-Stellen sollen einen genuinen Sonnenkult in Israel belegen helfen.

89 H. Wildberger, Jesaia, 1127: „Es gibt im ganzen Abschnitt [Jes 29,15-16, A.R.] keinen Begriff und keine Wendung, die man nicht sehr wohl Jesaja zutrauen kann.“ Nach der Feststellung der aus der Nähe zu Jes 30,1-5 abzuleitenden ägyptischen Bündnispolitik als Hintergrund, fährt er fort: „Die relative Sicherheit, mit der sich also dieses Wort lokalisieren läßt, spricht für seine Authentizität, welche denn auch allgemein anerkannt ist.“

90 H. Wildberger, Jesaja, 1129: „die oben angeführten Parallelen aus den Psalmen [Ps 64,6-7; Ps 94,7; A.R.] zeigen übrigens, daß sie [die sich äußernden Politiker; A.R.] nicht sagen wollen: niemand im Volk weiß ja davon, sondern, daß Jahweh es nicht sieht. Es ist Gottlosigkeit, was sich in ihrem Handeln offenbart.“

91 Zur Bedeutung des Partizips bei der Zitateinführung vgl. H.W. Wolff, „Zitat“, 43: „So eingeführte Zitate sollen den Zitierten charakterisieren, d.h. bei den Propheten meist: seine Schuld durch Selbstzeugnis offen an den Tag legen.“

Zur Weglassung des Personalpronomens in einem Partizipialsatz vgl. P. Joüon, Grammaire, § 154c: „Le pronom sujet est parfois omis dans une proposition participiale, […] Dans tous ces exemples [die vorher aufgeführten, A.R.] c’est le pronom der la 3e p. sg. m. […] qui est sousentendu.“ Als Beispiel für das seltenere Weglassen der 3. P. Pl. führt er gerade unsere Stelle Ez 8,12 an. Im Ezechielbuch ist dies aber zumal in den Einleitungen der Redewendungen fast der Regelfall.

92 Vgl. S. Schwertner, Art. Nichtsein, 129-130: „Die Gottesleugnung […] ‘es gibt keinen Gott’ in Ps 10,4;14,1; 53,2 ist nicht theoretisch, sondern wohl im Sinne von 3,3 ‘er hat keine Hilfe bei Gott’ praktisch als ‘Gott ist nicht gegenwärtig/greift nicht ein’ zu verstehen.“ Ähnlich auch P. Joüon, Grammaire, § 154k: „De même § 160 g (originairement ?) exprime d’abord la non-existence dans le lieu, à savoir l’absence, puis, par extension, la non-existence tout court. Ces adverbes ne sont donc pas de simples copules comme le pronom de la 3e p.: à l’idée copulative elles ajoutent celle d’existence, surtout locale […]“.

93 Vgl. P. Joüon, Grammaire, § 160 g. Er kommt dann zu dem Schluß: „ est la négation ordinaire de la proposition nominale ( ne s’emploie guère en proposition nominale que pour une raison particulière […]).“

94 Auffällig ist die Häufigkeit der Partikel in Ez 34. Möglicherweise liegt eine gewollte klangliche Beziehung zwischen

- „nicht ist JHWH sehend“ und

- „weil nicht ist (jemand), der weidet“ (34,8). Wie eng oder weit man diese Verbindung auch sehen will, unzweifelhaft ist, daß in inhaltlicher Hinsicht das Heilshandeln Gottes um seines Namens willen (vgl. Ez 36) in bewußter Entgegensetzung zum Vorwurf seiner Abwesenheit in Kap. 8 u. 9 steht.

95 Siehe Fr. Sedlmeier, „Füchse“, 297: „Denn nach der alten Landgott-Vorstellung waren das Schicksal eines Volkes und das seiner Gottheit deckungsgleich.“

96 D.R. Clark, Citations, 86: „The former statement is new and Ezekiel creatively reinterprets Israel’s understanding of the land. The latter is stereotypical of psalmic and prophetic usage and is employed in a manner similar to this literature.“

97 Vgl. P. Joüon, Grammaire, zur Bedeutung des Partizips, § 121h: „D’une facon générale, le participe exprime l’aspect durative d’une facon plus forte que le yiqtol.“

98 Vgl. D. Vetter, Art. sehen, 692-693.

99 Vgl. D. Vetter, Art. sehen, 697: „[…] schauen’ meint den Empfang von Vision und Audition (z.B. Num 24,4.16; Jes 1,1; Am 1,1; Mi 1,1). Dagegen bezieht sich r’h auf den Vorgang der Schauung, der in der Regel auch das Hören einschließt.“

100 Ähnlich zur unterschiedlichen Bedeutung von „Sehen“ und „Schauen“ urteilt auch R.A. Dus, Las parabolas, 234: „El verbo en Ezequiel tiene una densidad semántica particular pues califica las visiones que el profeta recibe de Yahwe; sólo al habla y ‘hace ver’ (cf. Ez 8,6.12-13.15.17). Con el verbo se indica en cambio otra cualidad de visión, es una manera de ‘ver’, generalmente calificada como vana y enganosa.“

101 M. Greenberg, Ezechiel D1, 250: „Die Kommentatoren des Mittelalters gleichen an das Vorhergehende an und interpretieren die Aussage als die Scham, die die Exilierten aufgrund ihrer Schande empfinden (Raschi; Kimchi verweist auf Jer 9,18: ‘Wir sind völlig zuschanden, weil wir unser Land verlassen und unsere Wohnungen aufgeben müssen.’)“ In Greenbergs englischer Übersetzung der Jeremiastelle wird der Bezug zur Scham noch deutlicher: M. Greenberg, Ezekiel E, 210: „We are covered with shame because we have had to leave our land, to give up our dwellings.“ Ähnlich auch W. Zimmerli, Ezechiel, 262: „Schande (vgl. die Gebärde der Dirne Gn 38 15; ist noch an einen zusätzlichen Schimpf des Wegzugs, wie er Jes 47 2f. Na 3 5f. durchscheint, zu denken?) und Leid (vgl. die Gebärde der Trauer 2 S 15 30 Jer 14 4 Est 6 12 7 8) der Verschleppung sollen in dieser Gebärde, die auch die verlorene Heimat mitleidsvoll dem Blick der Weggeführten entzieht, verhüllt werden.“

102 M. Greenberg, Ezekiel E, 211: „J. Light suggests, privately, that a symbol is superadded to a predictive act: the furtive fugitive who covers his face so as not to be recognized thereby impedes his sight of the ground - a symbol and omen of his never again seeing his native land; cf. Jer 22:12, the exiled King Jehoahaz […] ‘shall never again see this land’.“

103 D.L. Smith-Christopher, „Ezekiel in Abu Ghraib“, besonders 150: „There is significant evidence to suggest that the metaphor of ‘stripping’ in Hos 2, but especially in Ezek 16, is drawn from the practice of stripping POWs [Prisoners of War, A.R.] in Neo-Assyrian and Neo-Babylonian military practice.“ Und 153: “The ‘humiliation’ of ‘Jerusalem’ as female must be direktly connected to the ideology of, and practice of, Assyrian and Babylonian warfare. I would thus argue that it was the cirumstances and practices of warfare by the Mesopotamian imperial states of the first millennium B.C.E. that suggested the imagery of stripping and not a generally practised punishment of adulterous women in Israelite society.“

104 D.L. Smith-Christopher, „Ezekiel in Abu Ghraib“, 154, macht dabei auf eine etymologische Verwandtschaft aufmerksam: „Consider, finally, the intriguing fact that the common term for exile - ‘Golah’ - derives from the same root as the term often used for ‘stripping’ or ‘uncovering’, the clear meaning of the root in Ezek 16:37.“ Er macht deutlich, wie gerade das, was er „self-blaming ideology“ nennt (etwa Selbst-Bezichtigungs-Ideologie) zur Bewältigung der Krise beitragen kann, 155: „It is arguable […] that such a ‘self-blaming ideology’ does have a creative, even an ironically positive function for defeated peoples.“

105 Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, 57*.

106 A. Ruwe, „Die Veränderung,“ 16, bemerkt dazu: „In der Tempelvision von Ez 10 sieht der Prophet diese Wesen ein weiteres Mal. Nun aber, in der vertrauten Umgebung des Tempels, erkennt er sie als Keruben. Hier ist ihr natürlicher, angestammter Ort, deshalb erkennt er sie hier. […] Die Keruben gehören danach nicht mehr (wie vordem) primär zum Tempel, sondern bilden unabhängig vom Tempel einen Teil der Sphäre Gottes.“

107 Merkwürdigerweise werden gerade die Verse Ez 20,27-29 für sekundär gehalten und einer deuteronomistischen Ergänzung zugeschrieben. Vgl. F.L. Hossfeld, „Ez und die deuteronomisch-deuteronomistische Bewegung“, 288: „Der Hauptgrund für den sekundären Charakter der VV. 27-29 liegt in ihrer vom Konzept des Grundtextes abweichenden Ausrichtung. […] Gemäß dieser Konzeption hat Israel das Gelobte Land nie betreten. Und genau das wird in den VV. 27-29 korrigiert. Die spezifisch ezechielische Pointe wird umgebogen. Israel, d.h. hier die Vorfahren der anwesenden Exulantengeneration, muß ins verheißene Land hineinkommen.“ Zum Charakter der Verse sagt Hossfeld, 290: „Der Abschnitt 20,27-29 folgt einem dem Buch Dtn und dem dtr Geschichtswerk geläufigen Anliegen, der Betonung der Hereinführung ins verheißene Land mit anschließender Verurteilung des Höhendienstes. Die Beziehungen der sprachlichen Bezüge laufen in Richtung priesterlicher-priesterschriftlicher Tradition und deuteronomistischen Sprachbereichs.“ Wie dieser Umstand zu erklären ist, etwa dadurch, daß man alle Stellen mit dem besonderen Verständnis vom „Sehen“ einer solchen dtr Ergänzungsschicht zuweist, kann in dieser Arbeit nicht Thema sein. Es genügt der Hinweis auf den für das Ezechielbuch in seiner Endgestalt typischen Charakter und Stil.

108 J.S. Bergsma / S.W. Hahn, „What Laws“, 207-208: „This word occurs repeatedly in Deut 12, in order to emphasize that it is there, that is, at the central sanctuary, that the Israelites should bring their gifts. But Ezekiel uses four times in 20:28, pointing out that it was not to the central sanctuary, but there, to the high places and sacred groves, that the Israelites brought their sacrifices. The contrast and reference to Deut 12 are unmistakable. In short, Israel failed to keep even the laws of the Deuteronomic code, which as we shall argue below, Ezekiel viewed as a lower law than the Priestly Legislation.

109 In den Praktiken am Tempel vermutet M. Greenberg, Ezekiel E, 202: „The public pagan rites of ch. 8 belong historically to the age of Manasseh […]“ Doch gerade die Verse um die Redensart in 8,12 sondert er von diesem Urteil aus; denn: „the secret cults of vss. 10-12 are another story and may have been practised in Ezekiel’s time […].“ Dagegen entdeckt Johannes Schnocks, „Eine intertextuelle Verbindung“, zumindest was das Bild der Eifersucht in Ez 8,5-6 betrifft, mit guten Gründen auch Beziehungen zu dem nachexilischen Text Sach 5,5-11, wobei aber Sacharja von Ezechiel abhängig ist. W. Zimmerli setzt sich ausdrücklich von der Manasse-Theorie ab, die auf Smith und Torrey zurückgehen soll, und erklärt, Ezechiel, 224, den Unterschied Ezechiels zu Jeremia aus seiner besonderen Perspektive: „In Ez dagegen redet der Priester mit dem Empfinden für die gottesdienstliche Reinheit des Dienstes vor dem, der im Heiligtum wohnt.“ Er schlußfolgert darum: „Ohne Zweifel verdichten sich in der Schau Ez’s Erinnerungselemente aus der Zeit Jojakims, die er selber noch in Jerusalem erlebt hat, und Nachrichten, die mündlich oder brieflich (Jer 29) an die Verbannten gekommen sind, zu dem geballten, eindrucksvollen Gesamtbild des von ihm in einem Akt als Gesamtsünde (Vierzahl) Jerusalems Geschauten.“

110 Ähnliche Beobachtungen äußert auch M. Greenberg, Ezekiel E, 201-202: „The data of ch. 8 are generally thought to give a true picture of the state of Judahite religion contemporary with Ezekiel, but their contrast with the data of Jeremiah and Lamentations, whose authors were actually in Jerusalem at the time of the fall, points to an opposite conclusion. Only a visionary and an audience at a remove from the reality of Jerusalem, and suffering the exile threatened for breach of covenant might have accepted and understood at once the point of such a fantasy: to collect and display vividly the notorious instances of cultic pollution of the sanctuary, so as to bring home the awful realization that its sanctity had been hopelessly injured, and its doom irrevocably sealed.“

111 In bezug auf die Bildrede Ez 17 bemerkt O. Keel, „Zeichensysteme“, 40: „Abfall und Rebellion sind dynamische Vorgänge. Das Ezechielbuch aber schildert sie als stark räumlich konnotiert. Zidkija wendet sich von einer Seite (Nebukadnezzar), auf die hin er eingepflanzt wurde, ab und wendet sich der anderen Seite zu. Dieser Vorgang wird so weniger als zeitlicher denn als räumlicher wahrgenommen. Das hängt eng mit der bei Ezechiel sehr starken visuellen Komponente zusammen.“

112 M. Greenberg, Ezekiel E, 196, vergleicht mit verwandten altorientalischen Vorstellungen: „The image in the pagan temple is literally the seat and residence of the deity; through their images, Marduk dwells in his temple in Babylon and Sin in Haran. Analogously, the cherub statues in Jerusalem’s holy of holies (like their antecedents in the tabernacle) were the throne on which YHWH sat, shrouded in darkness. At the same time the pagan god dwells in heaven or on the montain of the gods (the two may not be sharply differentiated), and moves freely about the universe. […] Similarly YHWH dwells in heaven, his majesty covers the heavens and fills the earth, and he rides the clouds or a cherub on his travels.“

113 W. Zimmerli, Ezechiel, 55*. Vgl. auch die Einleitung unter A.1.

114 Vgl. K.-F. Pohlmann, „Religion in der Krise“, bes. 54-57, wo er nebst anderen Stellen auch den Ausspruch in Ez 8,12 par. 9,9 als Beispiel für den allgemeinen Umgang des Volkes mit der Katastrophe anführt. Diese gehe der prophetischen Reflexion voraus, werde aber, so 51, gerade bei den Propheten in vereinzelten „Zitatfragmenten“ greifbar. Ob aber mit diesen Fragmenten belegbar ist, was Pohlmann mit ihnen belegen will, daß nämlich die theologische Reflexion ausschließlich unter dem Diktat äußerer Umstände entstanden sei und deshalb keine Vorläufer haben könnte, bleibt dennoch zweifelhaft. Der Spruch äußert, was die meisten dachten, die Propheten dagegen, was nur wenige dachten. Ihre unpopulären Ansichten konnten sie darum auch schon früher entwickelt haben. Nur aus dem Zwang der Umstände lassen sie sich nicht erklären. Es mußte schon einen angelegten Kern geben, der durch äußeren Anstoß zur deutlicheren Entfaltung gebracht wurde. Sonst erklärt sich nicht der Umstand, daß nicht andere besiegte Völker denselben Sprung zu einem geistigen Überleben leisten konnten.

115 Man vgl. aber G. Brin, Ijjunim besefer Jecheskel, 18-52, wo er in dem summarisch den Zitaten gewidmeten Kapitel einige beispielhafte Hinweise auf solche Verflechtungen gibt.



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