Читать книгу Drei große Historical Sagas: Meeresfluch und Hansehaus - Alfred Bekker - Страница 11

JAGD AUF DIE WITCH BURNING Zwei Jahre zuvor. Am Hof zu London.

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Schwere Stiefelschritte hallten zwischen den kalten Steinwänden des Palastes wider. Wachen mit gekreuzten Hellebarden traten zur Seite, nahmen Haltung an. Geckenhaft gekleidete Hofschranzen in Pluderhosen und bunten Gewändern raunten den einen oder anderen spöttischen Kommentar, während hier und da eine der herausgeputzten Damen in schrilles Gelächter ausbrach.

"Man munkelt, dass sein Stern sinkt", flüsterte jemand.

Der Rest seiner Worte wurde von dem Lachen einer Hofdame verschluckt.

Der Mann, der den Saal betreten hatte, war von imposanter Erscheinung.

Lord Donald Cooper hatte eine beispiellose Karriere vom Bürgerlichen bis hinauf in den hohen Adelsstand hinter sich. Er war groß und breitschultrig, bewegte sich mit einer unnachahmlichen Mischung aus Geschmeidigkeit und Kraft. Seine eisgrauen Augen schienen Dinge zu sehen, die allen anderen Augen auf ewig verborgen blieben. Sein mächtiger Degen hing an der Seite und wäre für die meisten Degenkämpfer wohl viel zu schwer und unhandlich gewesen. Lord Cooper aber führte ihn mit beachtlicher Leichtigkeit. Schon so mancher Gegner hatte ihn ihn in dieser Hinsicht unterschätzt. Das wallende Haar, das sonst offen bis zu den Schulterblättern herunterfiel, war jetzt zu einem kunstvollen Zopf geflochten.

Er zog die Kopfbedeckung mit den feinen Stickereien vom Kopf, sank auf sein rechtes Knie nieder und stützte sich leicht auf das angewinkelte linke Bein ab, als er eine höfische Verbeugung andeutete.

"Majestät?"

Königin Elisabeth rümpfte leicht die Nase, der Situation gemäß - und sie galt als Meisterin der höfischen Verstellung.

Ihr Zynismus war gefürchtet.

"So kurz angebunden, Lord Cooper? Er ist doch sonst nicht auf den Mund gefallen und plappert gern die Ohren Ihrer Majestät taub."

"Mit Verlaub..."

Eine Handbewegung der Königin brachte Lord Cooper zum Schweigen. Ihr Wort war Gesetz, ihre Laune ein Todesurteil. Es hatte keinen Sinn, dagegen opponieren zu wollen. Lord Cooper war ein todesmutiger Kämpfer, wenn es sein musste -—aber deshalb noch lange kein Selbstmörder, der darauf aus war, sich mit unbedachten Worten selbst dem Scharfrichter im Tower auszuliefern.

Die Königin hob das Kinn. Die nach vornehmster italienischer Mode ausrasierte bleiche Stirn wirkte dadurch noch höher. Ihr Blick war kalt, hochmütig und von einer fundamentalen Furcht geprägt. Die Furcht der Mächtigen, dachte Lord Cooper. Die Furcht derer, die hoch oben auf dem Gipfel der Macht stehen und sich vor dem Sturz in die Tiefe ängstigen...

Elizabeth war eine misstrauische Frau. Unberechenbar, wie auch Lord Cooper bereits hatte erfahren müssen. Aber in dieser Hinsicht unterschied sie sich nicht von anderen Herrschern.

"Majestät, ich befand mich auf Euren Auftrag hin bereits an Bord meines Kriegsschiffes, der SWORD FISH."

"Na, und? Ist es für ihn zuviel verlangt, dem Ruf seiner Königin in den Palast zu folgen? Meidet er die Unbequemlichkeit, wenn es doch um das Wohl Englands geht, dem einzigen Maßstab, den ich gelten lasse? So soll er sprechen! Bitte!"

"Wir wollten tatsächlich gerade auslaufen, als mich Euer dringlicher Ruf ereilte. Ich..."

Ein kaltes Lächeln glitt über das bleiche Gesicht der von aller Welt für jungfräulich gehaltenen König Elizabeth, über deren ausschweifende Affären sich die Hofschranzen auf der anderen Seite jedoch das Maul zerrissen.

Lord Cooper begegnete selbstbewusst ihrem Blick.

Die Augen der Königin wurden schmal.

Sie vollführte eine schnelle Geste mit der Hand, die an ein scharfes Richterschwert denke ließ.

"Papperlapapp, so schweige er zu Dingen, nach denen er nicht gefragt wurde! Ihre Majestät, die Königin, lässt ereilen, wie es ihr passt, hat er das verstanden?"

"Gewiss, meine Königin."

"Er scheint zu vergessen, wer sein Souverän ist! Seine Aufmüpfigkeit gewöhne er sich ab, andernfalls wird es ihm schlecht bekommen! Im übrigen scheint er zu vergessen, wem er seine Privilegien und seine Stellung verdankt und wem er deswegen tiefen Dank schuldet."

Lord Donald Cooper wollte etwas sagen, aber sie verbot ihm mit einer erneuten, sehr herrischen Handbewegung das Wort. Er sah es, obwohl er jetzt den Kopf gesenkt hielt, wie es die Situation verlangte. Dabei fragte er sich nicht zum ersten Mal, in welcher Weise er gefehlt hatte, was Ihre Majestät, die Königin, dazu brachte, ihn zu sich zu zitieren. Es hat wenig Sinn, darüber nachzudenken, ging es Cooper durch den Kopf. Sie ist die Königin, ausgestattet mit der Gnade Gottes. Sie entscheidet. Sich gegen sie stellen zu wollen wäre so, als ob man sich gegen eine Naturgewalt wendete...

Lord Cooper hatte genug Stürme an Bord verschiedener Schiffe erlebt, um eine lebhafte Vorstellung davon zu haben, wie unsinnig das war.

Sie lachte leise. Das flackernde Licht der Kronleuchter spiegelte sich auf ihrer glatt geschminkten Haut. In Wahrheit ist sie schwach, sie muss Stärke demonstrieren, dachte Cooper. Ansonsten ist sie schnell das Opfer einer Hofintrige oder eines papistischen Meuchelmörders...

Sie hob das Kinn.

"Er ist einer meiner Berater, nicht wahr?" Eine weitere herrische Bewegung deutete an, dass sie keine Antwort auf diese rein rhetorisch gemeinte Frage erwartete. "Mein wichtigster Berater ist zwar William Cecil, aber ich verlasse mich ungern auf das Wort eines Mannes allein, wie er verstehen wird. Ich ließ Lord Cooper allerdings nicht rufen, um seinen Rat einzuholen, sondern weil ich ein wenig... umdisponiert habe."

Er wagte kaum zu atmen.

Umdisponiert?

Nicht umsonst hatte Elizabeth unter vielen der Höflinge und Hofdamen den Beinamen die Launische. Von einem Augenblick zum anderen konnte sie ihre Meinung ändern. Wie ein Wetterwechsel an der Küste von Cornwall. Manchmal bedeutete dies, dass sich das Schicksal vieler Menschen fundamental änderte. Hin und wieder folgte daraus das Rollen von Köpfen.

In diesem Augenblick hätte man eine Stecknadel in dem prächtig ausgestatteten Thronsaal fallen hören können.

So mancher nach neuester italienischer Mode gekleideter Höfling hielt jetzt ebenso den Atem an wie Lord Cooper. Und die Herzen dutzender Hofdamen schlugen schneller. Es war stets ein besonderes Schauspiel für alle, wenn Karrieren und Schicksale durch das Wort der Königin im Handumdrehen befördert oder beendet werden konnten.

Die Königin demonstrierte damit ihre unumschränkte Macht und erinnerte jeden Anwesenden daran, wie dünn jene seidenen Fäden doch waren, an denen ihre eigenen Ämter und Privilegien hingen.

Elizabeth schien der Ansicht zu sein, dass ihre engste Hofumgebung eine derartige Erinnerung in mehr oder minder regelmäßigen Abständen dringend benötigte.

Anders war die Treue dieser korrupten Höflinge wohl nicht zu erhalten.

Angst.

Das war das Zauberwort, mit dem Elizabeth regierte. Eine Methode, die sie bei ihrem Vater Heinrich VIII. gründlich hatte erlernen können. Mochten andere Herrscher mit Hilfe eines gut gefüllten Staatsschatzes regieren können, aus dem heraus man Wohltaten verteilen konnte. Für die Herrscherin eines zwar aufstrebenden, aber im Grunde nach wie vor armen Landes bot sich diese Möglichkeit nicht an.

So blieb die Macht der Angst, die fast ebenso wirksam war wie die Macht des Geldes.

Was folgt jetzt?, fragte sich Lord Donald Cooper.

Die SWORD FISH war klar zum Auslaufen. Ihr Bauch war voll mit genug Proviant für Wochen. Sie hatten soviel Munition an Bord, wie die Lager fassen konnten, als wollten sie in den Krieg ziehen. Dabei ging es lediglich darum, ein englisches Freibeuterschiff zu suchen, zu finden und... aufzubringen. Es war gewissermaßen in Ungnade gefallen, weil es bevorzugt englische Handelsschiffe überfiel, anstatt spanische.

Weshalb die Königin in dieser Sache umdisponiert hatte, wie sie sich auszudrücken pflegte, war Lord Cooper vollkommen rätselhaft.

"Ich möchte ihn allein sprechen!", verkündete sie.

Unter Hofschranzen und Wachen wurde jetzt geraunt und gemurmelt.

Elizabeth machte eine ausholende Bewegung. Der schwere Brokatstoff ihres Kleides, die Reifen, die den Rock hielten und ihm seine Form gaben, das Korsett, das den Oberkörper aufrecht hielt -—das alles ließ sie steif und tot erscheinen, wie eine der Puppen, mit denen Gaukler über das Land zogen, um die Menschen für ein paar Münzen zu unterhalten.

Die Hofschranzen verneigten sich und folgten schließlich zögernd dem Befehl ihrer Königin.

"Worauf wartet Ihr?", fuhr sie schließlich die Wachen an. "Ich möchte allein mit Lord Cooper sein!"

Es dauerte einige Augenblicke, bis nur noch die Königin und ihr Berater im Raum waren.

Was soll das Ganze?, fragte sich Lord Cooper. Welches launische Spiel muss ich diesmal ertragen?

Andererseits hatte er keinen Grund zur Klage. Schließlich war es Elizabeths Machtantritt gewesen, die Lord Cooper so weit emporgespült hatte.

Sie sah ihn mit ihren wässrig blauen, großen und etwas hervortretenden Augen an und sagte mit bedeutungsvollem Unterton: "Was ich Euch zu sagen habe, ist geheim."

"Sehr wohl, Majestät!"

"So höre er und spitze dabei ordentlich die Ohren, weil Ihre Majestät, die Königin, nicht gewillt ist, sich zu wiederholen: Der Auftrag lautet nicht mehr, das Piratenschiff aufzubringen, sondern... finde er das Piratenschiff und stelle er es, aber was er anschließend mit der Besatzung macht, das sei ganz ihm überlassen. Hat er verstanden?"

"Aber...?", hub Cooper zu einer ungebührlichen Frage an, die ihm förmlich auf der Zunge brannte, aber er unterbrach sich sofort wieder, weil er spürte, wie unerwünscht jetzt jegliche Äußerung seinerseits war. "Ja, ich habe verstanden!", behauptete er deshalb rasch.

"Und was hat er verstanden?"

"Der Pirat überfällt englische Handelsschiffe. Das lenkt zwar den Verdacht von England ab, die Piraterie in Wahrheit zu unterstützen. Soweit wäre nichts gegen die Aktivitäten dieses Freibeuters zu sagen, wenn er sich mit ein paar kleineren Prisen zufrieden gäbe. Allerdings -—auf Dauer ist der Schaden für England zu groß, denn dieser Pirat ist außerordentlich erfolgreich und scheint keinerlei Maß zu kennen. Ich sollte es schaffen, das Richtige zu tun."

"Und wenn nicht, kostet es ihn seinen Ruf und vielleicht mehr!" Das klang nicht böse, sondern eigentlich ganz neutral. Der Lord jedoch wusste, wie ernst das wirklich gemeint war. Gelang es ihm nicht, die Piraten auf ihre Seite zu ziehen - wie auch immer! -, um sie ebenfalls zu Saboteuren an der spanischen Handelsschifffahrt zu machen, war er im Abseits und die Königin würde anderen Ratgebern vertrauen.

"Mein Leben für die Königin! Mein Leben für England!", rief er enthusiastisch.

Ein Fingerzeig der Königin genügte. Er war hiermit entlassen.

Ohne auch nur einmal aufzublicken, zog er sich rasch zurück.

Erst, als er den Thronsaal verlassen hatte, entspannte er sich halbwegs. Nur ein Gedanke nagte in ihm: Auf was, um alles in der Welt, habe ich mich da überhaupt eingelassen - wenn auch ohne freien Willen?

Die Antwort war eigentlich ganz einfach: Auf ein völlig aussichtsloses Unternehmen, das mir nur eines bringen wird: Meinen Ruin!

Im Geiste fragte er sich, welcher seiner zahllosen Konkurrenten bei Hof es wohl so eingefädelt hatte, dass ausgerechnet er, Lord Donald Cooper, mit diesem ruhmlosen Kommando betraut wurde!

*



Die ursprüngliche Bezeichnung des schwarzen Schiffes war sorgfältig überpinselt worden. Der jetzige Name lautete WITCH BURNING, was soviel hieß wie "Brennende Hexe". Es bezog sich auf den Kapitän des schwarzen Schiffes. Dieser sah eher aus wie ein Jüngling als der Kapitän eines gefürchteten Piratenschiffes. Kein Außenstehender vermochte sich vorzustellen, dass es sich in Wahrheit um eine Frau handelte. Hinter vorgehaltener Hand galt der weibliche Kapitän der WITCH BURNING als waschechte Hexe. Wie anders als mit Hexenkräften war sie zu einem gefürchteten Piratenkapitän geworden? Für eine Frau wäre das ohne übernatürliche Hilfe aus den Schlünden der Hölle wohl kaum möglich gewesen, so dachten viele und dichteten ihr daher schwarzmagische Kräfte an.

Sie selbst wusste, dass dies alles barer Unsinn war. Aber sie ging nicht dagegen an, so lange dieser Aberglaube ihr Vorteile verschaffte. Was diesen als wahre Hexerei anmutete, war nichts anderes als Fingerfertigkeit im Umgang mit Waffen und eine körperliche Geschicklichkeit, die sie jedem Mann ebenbürtig machte.

Nur wenn sie sich unter ihren eigenen Leuten befand und ihre Weiblichkeit nicht verstecken musste, trug sie ihr flammendrotes Haar offen und ließ es im Wind wehen wie züngelndes Feuer.

Aufmerksam beobachtete sie den Horizont.

Die Sonne beschien ihr feingeschnittenes, hübsches Gesicht und ließ sie blinzeln.

Sie trug enganliegende Männerkleidung, in der sie sich ungehindert bewegen konnte. An der linken Hüfte hing ein leichter Degen in seiner Halterung, rechts einen kurzen Dolch. Vor dem Bauch trug sie eine Pistole, die stets geladen war. Ihre Leute hatten oft genug erlebt, wie präzise sie damit schießen konnte und wie schnell es ging, diese Pistole mit Schwarzpulver und einer neuen passenden Kugel nachzuladen.

Ihr Wams hatte sie wegen der brütenden Hitze an Bord oben geöffnet, sodass der Ansatz ihrer Brüste zu sehen war. Ein Dekolleté, um die sie die meisten höfischen Damen beneidet hätten.

Als Mädchen hatte sie davon geträumt, einen Mann zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Aber dieses Schicksal war offenbar nicht jedem gegeben.

Für sie schien es ebenso wenig bestimmt zu sein, wie für die Jesuiten-Padres, die mit den Schiffen der Spanier in die neue Welt kamen, um die Heiden zu missionieren. Denn wie konnte sie sich als Kapitän einer wilden Piratenhorde auf einen Mann einlassen, ohne die schlimmsten Streitereien zu provozieren?

Man kann nicht alles haben, so hatte sich die Kapitänin der WITCH BURNING immer gesagt.

Sie, als Freibeuterin, als Geächtete, Verfolgte, durfte sich letztlich auf keinerlei Beziehung einlassen. Und selbst ein flüchtiges Liebesabenteuer von nur äußerst kurzer Dauer konnte für die junge Frau verhängnisvoll sein. War es schon schwierig genug für sie, die Autorität auf ihrem Schiff zu behalten, so hätte dies eine eventuelle Schwangerschaft vollkommen unmöglich gemacht.

Es tat jedesmal mehr weh, wenn sie an die heimlich ersehnte Liebe dachte, die ihr hin und wieder in ihren Träumen begegnete.

Sie kniff plötzlich die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und beschattete sie zusätzlich mit der linken Hand. Am Horizont kräuselte sich eine kaum wahrnehmbare Rauchfahne empor. Sie war viel zu weit weg, als dass man sie genau hätte sehen können, aber der Freibeuterin genügte es vollkommen: Sie sah den Rauch sogar noch vor dem Mann oben im Ausguck.

"Alarm", sagte sie ruhig. Sie brauchte nicht herumzuschreien. Dafür hatte sie andere, deren stimmliches Organ dafür weitaus besser ausgebildet war als das ihre.

Sogleich wurde von der Brücke hinuntergebrüllt: "Alarm! Alle Mann auf ihre Plätze!"

Hektische Betriebsamkeit entstand, trotz der eigentlich lähmenden Hitze.

Die meisten Piratenschiffe waren nachts auf Kaperfahrt, um unbemerkt an die zu kapernden Schiffe heranzugelangen, denen sie zumeist schon Tage vorher gefolgt waren. Die Mannschaft der WITCH BURNING jedoch handelte anders. Kaum einer der Männer an Bord war zwar der Meinung, dass es besser sei, von dieser traditionellen Vorgehensweise abzuweichen, aber so lautete nun einmal der Befehl des Kapitäns.

Und diesem Kapitän – mochte es sich nun um eine Frau oder eine Hexe handeln – folgten sie bis in den Tod, vorausgesetzt sie sorgte dafür, dass es immer genug Beute gab.

Das wusste Jeannet nur allzu gut.

Schon so mancher Piratenkapitän war von der eigenen Mannschaft ausgesetzt oder den Haien zum Fraß vorgeworfen worden, wenn der Erfolg ausblieb und sich Fehlentscheidungen häuften.

Es war ein Leben auf einer Schwertschneide.

Aber Jeannet kannte es nicht anders.

"Welche Order, Jeannet?", fragte ihr Erster Offizier.

Das war das einzige, was die Männer von ihrem Namen wussten - den Vornamen Jeannet, den sie ihrer französischen Mutter verdankte. Ihr Nachname Harris, geerbt von ihrem englischen Vater, hatte sie nie erwähnt. Es kam auch keiner auf die Idee, sie danach zu fragen. Unter ihresgleichen war es unüblich, einen Nachnamen zu benutzen oder sich gar damit anreden zu lassen, wie es neuerdings unter den bürgerlichen Ständen Englands Mode geworden war. Ein Vorname genügte den meisten dieser wilden Gesellen, dazu hatte er möglichst gewöhnlich zu sein. Ein auffallender Name erleichterte nur die Strafverfolgung. Jeannet war das Kind einer traditionsreichen Gauklerfamilie. Ihr Vater hatte sie von Kindesbeinen an auf den Umgang mit Waffen trainiert, damit sie ihr Können bei allerlei Vorführungen unter Beweis stellen konnte. Die schlangengleiche Geschmeidigkeit ihres Körpers hatte sie von der Mutter geerbt. Sie war als Schlangenfrau aufgetreten und hatte die Zuschauer mit ihren Verrenkungen in pures Erstaunen versetzt. Einmal war sie deswegen mit knapper Not einer Anklage wegen Hexerei entgangen, denn derartige Körperbeherrschung war nach Ansicht vieler nur möglich, wenn man einen unheiligen Bund mit den Mächten der Finsternis geschlossen hatte.

Sie dachte nicht gerne an die Vergangenheit. Tiefe Trauer erfüllte sie dann.

Jeannet war noch ein halbes Kind gewesen, als marodierende Soldaten ihrer Majestät das Lager der Gaukler überfallen und ausgeraubt hatten. Abergläubische Eiferer hatten die Landsknechte aufgehetzt, als gerade zu dem Zeitpunkt, da die Gaukler in die Gegend gekommen waren, die Blattern ausgebrochen waren. Da musste es doch einen Zusammenhang geben! Schreckliche Szenen hatten sich damals abgespielt. Bilder, die Jeannet niemals in ihrem Leben vergessen würde.

In ihren Albträumen hörte sie noch heute die Schreie...

Jeannet Harris war die einzige aus der Gaukler-Truppe, die diesen Ausbruch des Hexenwahns überlebt hatte. Zitternd hatte sie sich in einem nahen Gehölz verkrochen. Wie Messerstiche waren die Schreie der Geschundenen in ihre Seele gedrungen. Ihre körperliche Behändigkeit hatte ihr die rechtzeitige Flucht ermöglicht und ihr damit das Leben gerettet.

Sie hatte dennoch alles mitansehen müssen.

Ein albtraumhaftes Erlebnis, dass ihr künftiges Leben geprägt hatte: Seitdem hasste sie alles Adelige, hasste die Obrigkeit, verkörpert durch Beamte, Soldaten und Polizei...

In Hafenstädten hatte sie sich herumgetrieben, sich mühsam durchgeschlagen, bis sie schließlich als blinde Passagierin an Bord eines Seglers geraten war, der später von Piraten gekapert wurde. Sie schloss sich den Freibeutern an, errang sich nach und nach Respekt und erlernte die Kunst des Segelns. Ihr Instinkt für Beute hatte sie schnell in der Hierarchie aufsteigen lassen. Jetzt vertraute eine ganze Mannschaft ihrem Befehl und ihrem Urteil.

Zumindest solange sie Erfolg hatte.

Aber zurzeit schien das Schicksal das an ihr ausgleichen zu wollen, was es in ihren jüngeren Jahren an ihr versäumt hatte.

Jeannet Harris war zum Fluch der Meere geworden und es hatte wahrscheinlich niemals zuvor eine Frau gegeben, die darin so erfolgreich gewesen war wie sie.

Mit geblähten Segeln und einer Geschwindigkeit, die man dem schwarzen Piratenschiff gar nicht zutraute, jagte die WITCH BURNING auf die Rauchfahne zu, die mit jedem Yard deutlicher zu sehen war. Jedem an Bord war klar, was diese Rauchfahne zu bedeuten hatte. Dort war ein spanisches Handelsschiff überfallen worden! Und die Rauchfahne bewies, dass es zumindest noch schwimmende Überreste des Schiffes gab. Vielleicht sogar ein führer- und steuerlos dahintreibendes Wrack.

Aber jeder wusste auch, dass dort nichts mehr zu holen war. Darum wunderten sie sich jedesmal aufs Neue, was ihr Kapitän dort überhaupt wollte. Wieso ließ Jeannet jedesmal erst das Wrack anlaufen, die Stelle des Verderbens, wie sie es stets nannte? Wieso nahmen sie nicht gleich die Verfolgung des Freibeuters auf, dem dies anzulasten war und der jetzt mit seinem vom Beutegut überladenen Schiff selbst eine relativ leichte Beute wurde? Zumal sie auch ohne die "Stelle des Verderbens" anzulaufen die ungefähre Route ihres potentiellen Opfers kannten. Jeder dieser englischen Freibeuter nahm schnurstracks den Weg zurück in englische Hoheitsgewässer, um nicht von einem spanischen Kriegsschiff aufgebracht zu werden.

"Die Spanier sind Narren", murmelte Jeannet tonlos vor sich hin - und meinte damit die spanischen Kriegsschiffe. Anstatt mit ihren Galeonen die gefährdeten Handelsschiffe zu begleiten und zu schützen, kreuzten sie viel lieber weitab der Handelsrouten, um die Freibeuter abzufangen. Wann würden sie jemals dahinter kommen, dass die Freibeuter ihnen bei dieser Strategie haushoch überlegen waren, weil sie jeden einzelnen Schritt der Spanier schon im voraus ahnten?

Sie schüttelte den Kopf und heftete ihren Blick auf die Rauchfahne, bis sie mehr als diese zu sehen bekamen. In voller Fahrt lief die WITCH BURNING auf die Unglücksstelle zu. Die ersten Wracktrümmer schwammen ihnen entgegen, von einer unsichtbaren Strömung getrieben. Aber nicht nur Wracktrümmer, sondern ein dunkel verfärbtes Wasser - dunkel verfärbt vom Blut der Abgeschlachteten!

Etwas in Jeannet krampfte sich zusammen. Wieso eigentlich tat sie sich das jedesmal an? Wieso musste sie dieses Bild des Grauens zuerst in sich aufnehmen, bevor sie die Mörder verfolgte?

Sie wusste die Antwort, hätte es jedoch niemals gegenüber einem anderen Menschen zugegeben: Sie brauchte dies als Rechtfertigung für ihr eigenes blutiges Handeln! Sie musste sehen, was die Mörder angerichtet hatten, ehe sie es fertigbrachte, sie zur Strecke zu bringen.

"Ich bin euer Richter!", sagte sie die beinahe schon ritualisierten Worte. Ihre Leute hatten sie oft genug vernommen und es zog ihnen jedesmal die Nackenhaut zusammen, als wären sie selber als Opfer betroffen und nicht die Vollstrecker des Kommenden: "Das Urteil lautet: Tod! Und ich bin euer Henker, der euch gnadenlos zur Strecke bringt!"

Ihre Leute dachten, was sie niemals laut ausgesprochen hätten: Um anschließend unser eigenes Schiff mit eurer reichen Beute zu füllen! Drum gehorchten sie dem Ritual ihres weiblichen Kapitäns, obwohl sie es absolut nicht nachvollziehen konnten.

Sie wussten ja nichts von Jeannets Vergangenheit, denn sie hatte noch niemals zu einem Menschen darüber gesprochen.

Die ersten Toten schwammen im Meer. Und jetzt sahen sie auch, woher der Rauch stammte. Aus unerfindlichen Gründen hielt sich ein besonders großes Wrackteil noch über Wasser, wo es allmählich ausbrannte, ehe es für immer im nassen Grab der See versank.

Nein, da hatte niemand überlebt. Die blutigen Leichen ließen überdies vermuten, mit welcher Grausamkeit alle Menschen zu Tode gekommen waren, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls auf dem Schiff befunden hatten.

Unter dem schwimmenden Gerümpel, das die Freibeuter nicht hatten mitgehen lassen, weil es ihnen zu wertlos erschienen war, befanden sich auch Kleiderbündel und darin eingeschnürter primitiver Hausrat. Das bewies, dass es sich nicht um ein reines Handelsschiff gehandelt hatte, sondern dass auch Siedler für die sogenannte Neue Welt jenseits vom Atlantik an Bord gewesen waren.

Die Piratin wusste: Das waren die Ärmsten der Armen! Sie versuchten, ihrer ausweglosen Armut zu entrinnen mit Flucht über das große Wasser - hinein in eine sehr ungewisse Zukunft. Viele überlebten die Überfahrt schon deshalb nicht, weil sie total unterernährt und gesundheitlich in desolatem Zustand an Bord gegangen waren. Man nahm beinahe jeden mit - sofern er für die Überfahrt bezahlen konnte. Eine schreckliche Spirale der Ausbeutung: Die hoffnungsfrohen Siedler, die aus ungewissen Quellen Geld zusammenkratzten, um in der Neuen Welt zu überleben, ihre Ausbeuter, denen sie die Überfahrt bezahlten, ob sie nun lebend ankommen würden oder nicht - und die Freibeuter, die das Schiff schließlich überfielen, alles von Wert an sich rissen und im wahren Blutrausch alle abschlachteten. Beinahe hätte Jeannet geweint, aber sie tat es aus zweierlei Gründen nicht: Erstens konnte sie sich das als Kapitän eines Piratenschiffes nicht leisten, wollte sie nicht ihrer mühsam errungene Autorität verlieren und zweitens hatte sie schon lange keine Tränen mehr!

Das, was sie mit eigenen Augen sah, war im Grunde dasselbe, was der Gaukler-Truppe damals angetan worden war. Jene Piraten, dies getan hatten, waren um keinen Deut besser als die wahnhaften Mörder von damals. Und jedesmal, wenn sie dieses Blut sah, spürte sie den unbändigen Hass in ihrem Herzen: Sie musste die Mörder dafür bezahlen lassen, die anderen Menschen solches antaten! Sie würden stellvertretend für jene sterben müssen, die damals ihre eigene Familie umgebracht hatten!

Das waren ihre Motive. Deshalb jagte sie statt spanische eben englische Schiffe. Mit Vorliebe Freibeuter, die so handelten, wie sie es mit eigenen Augen immer wieder sehen musste.

Dass sie dadurch im fernen England Königin Elisabeth ein Dorn im Auge geworden war, kümmerte sie nicht, denn England und Elisabeth standen für sie stellvertretend für die blutigen Ereignisse in ihrer Kindheit. Sie wollte niemals wieder damit zu tun haben.

Mit ihrem Heimatland verband sie nichts mehr.

"Holen wir die Brut ein, noch ehe sie englisches Hoheitsgewässer erreicht hat", murmelte sie zwischen zusammengepressten Lippen.

Ihr Erster Offizier, einst ein Marschall, der in Ungnade gefallen war, weil er ein Verhältnis mit der Gattin seines Fürsten gehabt hatte, verstand sie sehr wohl, denn er hatte nur noch darauf gewartet und gab den Befahl lautstark weiter.

Marschall Ben Rider war an ihrer Seite, als die Masten der Verfolgten weit vor ihrem eigenen Bug scheinbar aus den Tiefen des Meeres emporstiegen. Ihr Klüverbaum deutete darauf wie die Pfeilspitze eines Bogenschützen auf das Ziel.

Jeannet warf kurz einen Blick auf den schweigsamen und stets in sich gekehrten Mann, der zuweilen sehr blutrünstig sein konnte. Er war wie sie. Er tötete, was er hasste - und das war alles, was ihn an das adelige England erinnerte. Weil es ihn gehetzt, verfolgt und erniedrigt hatte, obwohl sein Verbrechen in nichts weiter bestanden hatte, als einem Gefühl zu folgen. Dem Gefühl der Liebe zu einer Frau, die durch die Räson von Adelshäusern in ihre Ehe gezwungen worden war.

Es grenzte an ein Wunder, dass er den Häschern seines eifersüchtigen Fürsten damals entkommen war. Wahrscheinlich war es ihm nur deshalb gelungen, weil er ihnen immerhin lange Zeit vorgestanden und sie kommandiert hatte. Vielleicht noch ein Rest von Respekt vor ihrem ehemaligen Marschall?

Doch jetzt war er hier, und das Glitzern in seinem verbliebenen Auge verriet, dass er sich schon auf seine Rache freute - Rache an England, das ihn früher genährt hatte und jetzt ächtete.

Jeannet waren die Motive ihrer Leute gleichgültig, so lange sie nicht genauso bedenkenlos handelten wie die Mörder ihrer Familie. Es war das Einzige, was bei ihr überhaupt noch zählte. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn, tat dies aber völlig ohne Freude.

"Es wird nicht leicht werden", sagte sie.

Ben Rider lächelte und entblößte dabei seine makellosen Zähne wie ein Wolf, der sich auf das Reißen einer Beute vorbereitete.

"Aber am Ende werden wir triumphieren, Jeannet. Dein Instinkt für Beute hat uns mal wieder nicht im Stich gelassen. Es ist eine Gabe."

"Und so lange ich diese Gabe besitze, werden all diese groben Kerle mir folgen, wohin immer ich sie auch führen mag." Sie lachte hell auf. "Sobald sie mich verlässt, wird einer von euch mir den Dolch in den Rücken stoßen und selbst das Kommando übernehmen. Vielleicht sogar du, Ben!"

"Niemals!"

"Sei ehrlich, Ben! Ich will mich darüber auch nicht beklagen. So sind nun einmal die Gesetze der See."

"Gesetze, gegen die du nicht zum ersten Mal verstoßen würdest!"

"Du meinst, weil ich eine Frau bin?"

"Zum Beispiel."

"Auch von einer Frau erwartet man Beute. Kein Pirat folgt einem glücklosen Kapitän."

"Es besteht kein Anlass, davon auszugehen, dass dein unverschämtes Glück dich verlässt, Jeannet."

"Unverschämt?"

"Manche sehen es so."

"Unverschämt war das Schicksal früher gegen mich. Jetzt zahlt es mir wenigstens ein bisschen davon zurück. Darin sehe ich die Gerechtigkeit des Herrn."

"Wessen Gerechtigkeit auch immer", raunte Ben Rider.

Sie sahen dem englischen Freibeuter entgegen.

Schon waren die Stimmen der Besatzung zu hören.

Laute Rufe.

Entsetzte Schreie.

Schroffe Befehle.

Die Angst war zu einem Passagier des englischen Seglers geworden und auch der Kaperbrief ihrer Majestät der Königin Elizabeth würde dieser verfluchten Mannschaft jetzt nichts mehr nutzen.

Aber freiwillig würde sie sich nicht ergeben. Soviel war klar. Sobald sie der WITCH BURNING in Sichtweite gekommen war, wusste jeder an Bord des Freibeuterschiffes: Es ging ums nackte Überleben! Der mörderische Ruf der WITCH BURNING war inzwischen nicht nur auf hoher See bis in die letzte Kajüte vorgedrungen, sondern auch bis in die Adelshäuser ganz Europas. Sicher sogar bis in die Neue Welt jenseits des Atlantiks! Und wie es bei Gerüchten üblich war: Jeder, der von der WITCH BURNING erzählte, tat sein Eigenes hinzu, bis die Taten ihrer Besatzung so fantastisch anmuteten, als säße der Teufel persönlich mit an Bord.

Jeannet konnte das nur recht sein. Die Angst würde ihren Feind lähmen und zu einer leichteren Beute werden lassen.

"Hisst die Todesflagge!"

Das taten ihre Leute nur zu gern. Ein paar hatten scharfe Messer zwischen ihre Zähne geklemmt und sahen dadurch noch verwegener und furchterregender aus als ohnehin schon. Sie hissten die schwarze Totenkopfflagge.

Eigentlich passt der Name gar nicht... WITCH BURNING, dachte Jeannet. Obwohl er sich auf mich bezieht. Denn das Schiff ist nun mal nicht rot, sondern schwarz - genauso wie die Todesflagge: Ein weißer Totenkopf auf schwarzem Grund!

Trotzdem würden die Seeleute an Bord des Handelsschiffes sofort wissen, wer die Verfolgung aufgenommen hatte.

Die WITCH BURNING verminderte nicht die Fahrt. Sie pflügte förmlich durch das Wasser. Das war möglich, weil sie voll vor dem Wind stand, genauso wie das verfolgte Schiff. Aber dieses war aus zweierlei Gründen viel langsamer. Erstens, weil es total überladen erschien, denn es hatte wohl mehr als nur ein spanisches Handelsschiff überfallen, und zweitens war es weitaus größer und von der Bauweise her plumper als ihre Verfolgerin. Dafür allerdings handelte es sich um einen Viermaster, während die WITCH BURNING nur eine sogenannte Fregatte war, ein Dreimaster also.

"Feindliches Schiff geht dwars!", meldete der Erste Offizier Marschall Ben Rider. Das bedeutete Gefechtsform, rechtwinklig zur Mittschiffslinie.

Jeannet schüttelte wie tadelnd den Kopf. "Sie machen immer denselben Fehler, zeigen uns frühzeitig ihre Breitseite und können sich gar nicht vorstellen, dass dies ihrem Untergang gleich kommt."

Ben Rider meinte: "Kein Wunder, denn wer sonst ist jemals auf die Idee gekommen, die vorderen Kanonen hoch an Bord zu hieven, bugwärts auszurichten und damit zu riskieren, sich den eigenen Bugspriet wegzublasen." Obwohl das bisher noch nie geschehen war, blieb es dennoch eine Gefahr, trotz der besten Männer an den Kanonen, die man sich denken konnte.

Halb skeptisch und halb zuversichtlich schaute er nach den Kanonen. Die Vorderen standen erhöht, um leichter über die Aufklotzung am Vordersteven hinwegzielen zu können, die man als Bugspriet bezeichnete.

Der Mann vom Ausguck verließ gerade seinen Platz, um beim bevorstehenden Gefecht nicht in den Tod zu stürzen.

"Gefechtsbereitschaft!", gab Marschall Rider die Meldungen an Jeannet weiter.

Sie knirschte sehr undamenhaft mit den Zähnen, riss die Pistole heraus und schrie: "Feuer frei!"

Die bereits ausgerichteten Kanonen spuckten Tod und Verderben.

Und das aus voller Fahrt heraus!, dachte Marschall Rider, wobei ihm unwillkürlich das Herz stehenblieb. Der erste Schuss war schließlich gefechtsentscheidend. Der Viermaster, den sie im Visier hatten, zeigte jetzt fast seine volle Breitseite, doch seine Kanonen konnte er erst in einer Minute zum Einsatz gegen den Verfolger bringen. Wenn die Schüsse von Bord der WITCH BURNING ins Leere gingen, wurde das Feuer von einem eigentlich überlegenen, weil größeren Schiff erwidert! Schließlich handelte es sich nicht um ein halbwegs wehrlosen Handelssegler, sondern um ein Schiff, das ursprünglich für den Krieg gebaut worden war.

Außer Jeannet wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, mit einer viel kleineren Fregatte einen so stattlichen Viermaster zu überfallen. Es sei denn, er hätte auf die gleiche Strategie gesetzt.

Eines Tages wird dieses Manöver einmal misslingen, vermutete Ben Rider im stillen - und hoffte dabei inbrünstig, dass dieser Tag noch nicht gekommen sein möge.

Und dann waren die bangen Sekunden vorbei, in denen die Kanonenkugeln unterwegs waren.

Deutlich sah man, wie und vor allem wo sie auftrafen: Sie knallten in das feindliche Schiff hinein, einige sogar mittschiffs.

Es hatte verheerende Folgen, denn die gegnerische Crew hielt Kanonenkugeln und Pulver bereit, um damit den Verfolger loszuwerden. Ein Teil des Pulvers ging hoch und riss achtern den Schiffsrumpf auf. Wäre es nicht noch zu weit gewesen und hätte die steife Brise nicht die Schreie der Sterbenden und Schwerverletzten mit sich gerissen, hätte man sie bis zur WITCH BURNING hören können.

"Wir werden diese mörderische Brut auslöschen", murmelte Jeannet an Riders Seite, und er pflichtete ihr bei: "Sie sollen bezahlen - für alles!" Dass er damit auch meinte, sie für seine eigene Situation bezahlen zu lassen, brauchte er nicht extra zu erwähnen, das wusste Jeannet auch so.

Mit unverminderter Geschwindigkeit fuhr die WITCH BURNING auf die feindliche englische Galeone zu. Durch die Treffer drohte das ein wenig dickbauchige Schiff abzudriften. Ruderer versuchten, das aus einer Galeere entwickelte Kriegsschiff wieder dwars zu lenken, um endlich die schweren Geschütze in Stellung gegen den Angreifer bringen zu können.

Doch da wich die WITCH BURNING leicht nach Backbord (also nach links) aus. Die Bewegung des angeschlagenen Kriegsschiffs vor ihnen war sehr träge und es würde ihm schwerlich gelingen, den Ausweichkurs der wendigeren und schnelleren Fregatte durch ihre eigene Drehung auszugleichen.

"Refft die Segel!", kam Jeannets entscheidender Befehl. Ihre Leute befolgten ihn - und schon verminderte sich die Fahrt ihres Schiffes.

"Position!", forderte der Erste Offizier Marschall Ben Rider.

"Feuer frei!", schrie Jeannet, abermals die rechte Hand mit der Pistole hochreißend.

Die Kanonen Unterdecks waren gemeint, denn jetzt war die WITCH BURNING ihrerseits dwars gegangen.

Die Geschütze krachten los und spien den Tod gegen die Galeone.

Diese war ohnehin schon angeschlagen, aber das Hauptziel des neuerlichen Beschusses lag bugseits, denn Jeannet wusste aus Erfahrung, dass viele Kriegsschiffe dort leichte Geschütze platziert hatten. Sie eigneten sich nicht auf weite Entfernung, aber wenn man einer Galeone zu nahe kam... Fast waren sie in Reichweite jener Geschütze, sofern es sie überhaupt gab. Also mussten sie vorbeugen und die Gefahr eliminieren, ehe sie greifen konnte.

Die Kugeln verfehlten auch diesmal nicht ihr Ziel. Jeannet konnte mächtig stolz auf ihre Kanoniere sein. Sie hatte wirklich die besten bekommen, die man sich denken konnte. Ohne sie wäre die WITCH BURNING nicht nur weniger erfolgreich gewesen, sondern keiner von ihnen würde überhaupt noch leben!

Die Kugeln rasierten den Bugspriet der Galeone weg. Der vordere Mast brach wie ein Streichholz. Und Jeannet hatte recht mit ihrer Vermutung, dass dort leichtere Geschütze platziert waren: Das ebenfalls vorhandene Pulver ging hoch und schaffte es beinahe, den Bug bis zum Kiel aufzuspalten.

Dort würde keiner überleben.

Je weniger Überlebende, desto weniger stellen sich uns entgegen, dachte Jeannet grimmig.

Und dann kam ihr nächster Befehl: "Enterkurs!"

Ein Jubel brach an Bord aus. Ihre Leute schrien ziemlich undiszipliniert durcheinander, als würden sie sich auf das bevorstehende Abschlachten der Galeonencrew schon mächtig freuen. In Wahrheit löste sich dadurch nur ihre innere Anspannung, denn dieser Befehl bedeutete auch, dass ihnen die Galeone in ihrem angeschlagenen Zustand nicht mehr gefährlich werden konnte. Das Schiff war weitgehend manövrierunfähig geworden. Sie würden es bugseits entern, um nicht in Reichweite der Kanonen zu gelangen. Und noch etwas kam hinzu: Weiterer Beschuss hätte die Galeone vielleicht zu sehr beschädigt. Dann wäre auch die wertvolle Ladung verlorengegangen. Vielleicht gelang es ja sogar, die Galeone ins Schlepptau zu nehmen, um so nicht auf einen Großteil der Ladung verzichten zu müssen, die sonst an Bord der WITCH BURNING nicht untergebracht hätte werden können?

Das alles ließ die Leute jubelnd schreien, während der Steuermann die Fregatte einen sanften Bogen beschreiben ließ. Anschließend wurden die Segel vollständig gerefft. Den Rest des Weges mussten sie sich auf die eigenen Ruderer verlassen. Aber die waren stark und bereit. Sie legten sich kräftig in die Riemen, die sichere Beute vor Augen. An ihnen jedenfalls würde es nicht scheitern. Und wenn sie die Galeone erreicht hatten, würden die Ruderer selber zu den Waffen greifen, um bei dem Gemetzel mitzumischen.

Keiner an Bord des gegnerischen Schiffes durfte überleben. So lautete der Befehl von ihrem Kapitän Jeannet "WITCH". Sie hatte sich zur Richterin über die Galeone ob deren blutiger Taten erhoben und das Todesurteil bereits ausgesprochen. Ihre Vollstrecker warteten auf die Gelegenheit zum Vollzug.

Egal, wie verzweifelt auch der Widerstand war, den man ihnen entgegenbrachte.

*



Erst auf hoher See gelang es Lord Cooper, seine wirren Gedanken zu ordnen. Er hatte zwar keine Lust, jetzt schon zu sterben, aber nach dem Befehl von seiner Königin würde es wohl keinen anderen Ausweg geben.

Wie sollte er es denn jemals schaffen, ein Piratenschiff, das allgemein als so überlegen angesehen wurde wie noch nie zuvor ein Schiff mitsamt Besatzung, zu kapern und anschließend dazu zu bringen, im Sinne der englischen Krone zu handeln?

Nein, es würde ein Kampf auf Leben und Tod werden - und er konnte dabei nur verlieren. Entweder, indem die Piraten von vorn herein siegten, oder wenn er sie tötete... Ja, dann wartete in London bereits das Henkersbeil auf ihn!

Was für ein ruhmloses Ende für einen Lord, der eine solche Karriere gemacht hatte, dass er sogar bis in den Kreis der engsten Berater der Königin hatte aufsteigen dürfen! Da war es ihm wirklich lieber, im Kampf zu sterben.

Allerdings nicht ganz freiwillig, denn auch Selbstmord wäre für ihn einfach zu ehrlos gewesen.

Ein schlimmer Konflikt für einen als unbesiegbar geltenden Kämpfer für England und die Ehre. Er konnte sich eigentlich nur noch darauf verlassen, dass die Piraten wirklich so unbesiegbar waren, wie es allgemein hieß.

Aber dazu musste er sie erst einmal finden.

Er hatte sich schon bei den ersten Vorbereitungen eine Strategie zurechtgelegt. Zwar passte sie jetzt nicht mehr so völlig ins Konzept, da er seinen eigenen Tod halbwegs mit einplanen musste - gezwungenermaßen, wie er fest glaubte! -, aber leider gab es keine andere Möglichkeit, denn wo sollten sie dem schwarzen Piratenschiff auf offener See begegnen? Niemandem war es bislang gelungen, dem Freibeuter und seiner Besatzung zuvorzukommen.

Nein, das durfte man von vornherein gar nicht in Betracht ziehen. Es sei denn, man legte es auf einen glücklichen Zufall an. Der konnte aber auf sich warten lassen. Sollten sie denn jahrelang die See befahren, um auf diesen Zufall zu hoffen? Das hätte die Königin sicherlich schon vor der Zeit dazu bewogen, ihn einen Kopf kürzer machen zu lassen.

Seine Überlegungen gingen in eine völlig andere Richtung: Wie man sich unter Seeleuten erzählte, handelte es sich um eine wendige und äußerst schnelle Fregatte. Sicherlich keine Standardbauweise, bei dem, was dieses Schiff angeblich alles vermochte. Aber wo mochte ein solches Schiff für diese besonderen Zwecke umgebaut worden sein? Doch wohl kaum auf offener See! Und wohin sollte man die Schätze bringen, die man anderen gestohlen hatte? Auch die würden die Piraten nicht einfach auf dem Meer deponieren können. Mit anderen Worten: Sie brauchten einen Unterschlupf, wo sie Ruhe fanden, ihre Schätze lagerten, neuen Proviant an Bord nahmen, auch Frischwasser...

Das Festland kam dafür nicht in Frage. Die wilde Küste Englands ließ sich recht gut überwachen. Piraten hatten da wenig Chancen, auf Dauer einen guten Unterschlupf zu finden, zumal ihr Hauptoperationsgebiet die Atlantikroute der Spanier war. Aber auch die Kanarischen Inseln wären wenig geeignet gewesen, nicht nur deshalb, weil sie Hoheitsgebiet der Spanier waren. Genauso wenig wie die Azoren...

Lord Donald Cooper war fest überzeugt davon, dass die Piraten ihr geheimes Versteck innerhalb von Englands Hoheitsgewässern unterhielten. Dafür gab es nur eine einzige Möglichkeit, doch diese war geradezu hervorragend geeignet: Die vorgelagerten englischen Kanalinseln! Dort wagte kaum ein englisches Kriegsschiff zu kreuzen, weil das Franzosen oder Spanier als Provokation hätten empfinden können. Aber andererseits hielten sich auch Franzosen und Spanier sich in Bezug auf die Kanalinseln zurück, lagen sie doch nominell in Gewässern, die von der englischen Krone beansprucht wurden.

Faktisch war auf diese Weise eine Art Niemandsland entstanden.

Eine schnelle und wendige Fregatte, schwarz wie die Nacht... Wer würde sie schon bemerken, wenn sie eine der Inseln anlief, die als unbewohnt galten? Und man würde auch kaum den Piraten dort eine Falle stellen können, wenn man dazu sein eigenes Kriegsschiff benutzen wollte: Die Piraten würden rechtzeitig bemerken, dass da schon jemand auf sie lauerte.

Es sei denn, man wusste haargenau, wo man zu suchen hatte. Dann würde man genügend Leute absetzen, die sich auf die Lauer legten, während ihr Schiff sich in sicherem Abstand abwartend verhielt.

Ein Gedanke, mehr nicht, denn erstens hatte Lord Cooper keine Ahnung, um welche der Inseln es sich nun handelte. Außerdem hätte er auch dann nicht gewusst, wie lange seine Leute hätten warten müssen. Vielleicht drei Wochen? Vielleicht länger? Und wenn er dann vor der Zeit die Insel wieder anlief, um seine Leute und die besiegten Piraten aufzunehmen - und jene noch gar nicht zurückgekehrt waren?

Lord Cooper hatte anderes im Sinn: Er würde das Piratenschiff bei der Heimkehr stellen, also wenn es die vorgelagerten Kanalinseln anlief. Dabei musste er sich darauf verlassen, dass es möglichst die einfachste und günstigste Route nahmen.

Der Lord war ein erfahrener Seefahrer und in dieser Eigenschaft nicht umsonst in maritimen Angelegenheiten Berater der Königin geworden, auch wenn es ihm in dieser Eigenschaft niemals vergönnt war, in die Admiralität emporzusteigen.

"Wir haben Position erreicht", meldete sein Erster Offizier. "Sollen wir die errechnete Route kreuzen oder habt Ihr anderslautende Befehle, Mylord?"

"Nein, es bleibt dabei: Kreuzen! Dabei nähern wir uns allmählich spanischen Hoheitsgewässern. Aber ich möchte dort nicht eindringen. Die Gefahr ist zu groß, während dem bevorstehenden Konflikt mit den Piraten die Aufmerksamkeit einer spanischen Galeone zu erregen. Die Spanier hätten das Recht, uns zu beschießen, weil wir ihr Seerecht verletzen..."

"Aye, Sir, Mylord! Wie Sie befehlen..."

Der Erste Offizier salutierte und machte auf dem Absatz kehrt. Er stiefelte davon.

Der Lord schaute ihm leicht kopfschüttelnd nach. Er mochte die militärische Etikette nicht sonderlich. Deshalb gönnte er sich den Luxus, als Kommandant eines Kriegsschiffes Ihrer Majestät, der Königin, in Zivil zu bleiben. Die hohe Admiralität hatte sich schon mehrmals die Mäuler darüber zerrissen, doch das kümmerte ihn wenig. Er trug das am Leib, was er am bequemsten empfand. Nein, die offizielle Uniform würde ihn in einem Nahkampf nur unnötig behindern. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man auch die Uniformen der Soldaten ziviler gestaltet, was sie sicherlich noch besser hätte kämpfen lassen im Ernstfall. Schade, dass die Herren Admiräle das anders sahen und sich auch Ihre Majestät in keiner Weise diesbezüglich von ihm beeinflussen ließ...

Lord Donald Cooper schaute sinnierend über das Meer, das sich endlos auszudehnen schien, und fragte sich, wo sich das gesuchte Piratenschiff wohl zur Zeit befand und was es gerade tat. Vielleicht überfiel es in diesem Augenblick sogar ein Schiff, um die Besatzung blutig niederzumetzeln und anschließend alles zu rauben, was ihnen von Wert erschien?

Wie recht er mit dieser Annahme hatte, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ahnen...

*



Sobald der Abstand gering genug war, warfen die Piraten ihre Enterhaken und zurrten die Seile fest. Die WITCH BURNING schrammte gegen die feindliche Galeone, bewegte sich noch ein paar Yards, bis die Seile sich spannten und das Schiff stoppen ließen.

Sogleich sprangen die Ruderer auf und eilten zu ihren Waffen, um damit rechtzeitig auf Deck zu erscheinen.

Von den Verteidigern war noch nichts zu sehen. Aber das durfte die Piraten nicht unvorsichtig werden lassen, denn gewiss besaßen die Freibeuter der Königin Feuerwaffen und Armbrüste, mit denen sie auf der Lauer lagen.

Jeannet war mitten unter ihnen, die schussbereite Pistole in der Rechten. Ihren Augen entging nichts. Und da sah sie, wieso die Verteidiger noch nicht erschienen waren: Nicht weil sie auf der Lauer lagen, sondern weil die Panik ihre Sinne vernebelte und teilweise zur heillosen Flucht zwang.

Ein großer Teil der Besatzung nahm Reißaus. Sie sprangen im hohen Bogen ins Meer. Dabei wusste die Piratenführerin aus Erfahrung, dass die meisten überhaupt nicht schwimmen konnten. Sie würden elendig ersaufen. Und auch um diejenigen, die schwimmend entkamen, brauchten sie sich nicht mehr zu kümmern. Lange würden sie nicht durchhalten. Falls sie nicht vor der Zeit schon von Haien gefressen wurden, die das Blut anlockte, das in den nächsten Minuten fließen würde.

Aber ein paar Bedachte hatten sich trotzdem auf die Lauer gelegt. Ihnen galt es, nicht vor das Rohr zu kommen.

Jeannet brauchte keine Befehle zu erteilen. Ein jeder wusste selber, was zu tun war. Sie enterten nicht zum ersten Mal ein feindliches Schiff.

Hinter einem der Aufbauten war eine rasche Bewegung zu sehen.

Jeannet sprang blitzschnell aus der Schusslinie und ließ gleichzeitig ihre eigene Pistole loskrachen.

Schon ihr erster Schuss traf. Der Getroffene war zwar nicht sofort tot, aber er hatte nicht mehr die Kraft zu einem weiteren Versuch, sich der Angreifer zu erwehren.

Jeannet erreichte ihn als erste. Sie steckte im Laufen die Pistole in die Schärpe zurück und zog den leichten Degen. Eine blitzschnelle Bewegung.

Unbewegt stellte Jeannet ihren Fuß auf den Sterbenden und zog ihren Degen wieder aus der tödlichen Wunde. Sie hatte keine Gnade mit dieser Brut, die imstande war, arme Amerika-Siedler abzuschlachten wie Vieh.

Mit einem gellenden Schrei auf den Lippen sprang sie weiter. Vor ihr tauchten zwei Männer auf, die ihre Pistolen bereits leergeschossen hatten, offensichtlich ohne auch nur einen einzigen der angreifenden Piraten zu treffen, weil sie einfach zu nervös gewesen waren. Jetzt hoben sie ihre Degen und stellten sich Jeannet in den Weg. Ihr Kampfschrei hatte sie als Frau entlarvt.

Jetzt glaubten sie, mit ihr leichtes Spiel zu haben.

Doch da sollten sie sich gründlich täuschen.

Sie lachte verächtlich und ließ den Degen wirbeln.

Beinahe hätte sie ein blitzschneller Streich des Linken am Bein getroffen, aber sie hatte die Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen und sprang senkrecht in die Luft.

Eine solche Behändigkeit hätten ihr die beiden Angreifer nicht zugetraut.

Dem ersten Gegner hieb Jeannet quer durch das Gesicht.

Sein Schrei ging in dem Kampfgetümmel völlig unter. Aber Jeannet ließ ihn nicht lange leiden. Sie riss den Degen hoch und zerschnitt ihm die Kehle. Gleichzeitig wich sie dem Streich des anderen aus.

Sie parierte geschickt und streckte ihn dann mit einem schnellen Stich nieder.

Schwer fiel sein Körper auf die Planken.

Im nächsten Moment sah sich Jeannet von Angreifern regelrecht umzingelt. Keiner ihrer Leute konnte ihr zu Hilfe kommen.

Sie duckte sich und ließ die blitzenden Degen ins Leere gehen, die gleichzeitig gegen sie geführt wurden.

Dann ließ sie die Degenspitze vorschnellen und und zog sie blitzschnell wieder zurück.

Ein Schrei gellte durch das Kampfgetümmel.

Die Angreifer zogen ihre Degen zurück, und Jeannet wirbelte in der Hocke einmal um sich selber. Ihre Degenspitze zerschnitt dabei nicht nur Beinkleider, sondern auch Fleisch. Die Verletzten schrien, kümmerten sich jedoch nicht um ihre Verletzungen, sondern griffen umso wütender an.

Jeannet parierte mühelos.

Das Kampfgetümmel wurde unübersichtlich.

Es wogte hin und her. Aber letztlich hatten die Verteidiger keine Chance gegen die Übermacht der Piraten.

Vor Jeannets innerem Auge erschienen die Bilder Vergangenheit.

Die Schreie jener, die in diesem Kampf ihr Leben ließen, mischten sich mit den Todesschreien aus ihren Erinnerungen, als ein Lord mit seinen Soldaten dem Mob als Speerspitze gedient hatte. Jenem Mob, der in den Fremden nichts weiter als Diener des Satans gesehen hatte.

Der Kampf wogte weiter.

Jeannet sprang katzengleich an der Takelage empor und krallte sich mit der freien linken Hand fest, während sie in der Rechten den blutigen Degen hielt.

Aus dieser Position heraus konnte sie sich einen besseren Überblick verschaffen und sah sogleich, wo die Verteidigungsfront am schwächsten war. Sie ließ sich einfach los und landete behände auf Deck.

Gerade rechtzeitig, denn mehrere Kugeln pfiffen über sie hinweg. Sie sprang seitlich weg und entging so der nächsten Kugel.

Die Verteidiger hatten begriffen, dass sie die Anführerin der Piraten war. Sie wollten die Angreifer demoralisieren, indem sie sich bemühten, ihre Anführerin zu töten.

"Verdammte Narren!", schimpfte Jeannet halblaut vor sich hin. Sie wollten ihr ans Leder? Sie hatte sich ein einziges Mal in ihrem Leben verkrochen - nämlich damals, als alle sterben mussten, außer ihr. Später hatte sie sich oft genug gefragt, warum sie nicht besser alles getan hatte, um ebenfalls zu sterben. Dann hätte sie nicht mit diesen schrecklichen Erinnerungen weiterleben müssen.

Aber diese Zeiten waren vorbei.

Jeannet sprang hinter einem der Aufbauten in Sicherheit, aber nicht, um sich dort zu verkriechen, sondern um empor zu springen, sich am Rand des Aufbaus hochzuziehen, hinaufzuklettern und weiterzuhetzen.

Im nächsten Augenblick war sie über den Männern, die sie hatten abknallen wollen und sie jetzt mit drohenden Degen erwarteten - allerdings aus der falschen Richtung. Ehe sie ihren Irrtum begriffen, war sie mitten unter ihnen. Noch im Sprung zuckte ihr Degen nieder, um zwei von ihnen zu töten.

Sie kam auf den rutschigen Planken auf und kauerte sich zusammen zu einem kleinen Bündel Mensch, damit sämtliche gegen sie ausgeführten Hiebe ins Leere gingen. Und dann explodierte sie förmlich, sprang umher wie der sprichwörtliche Derwisch, ließ ihren Degen sprechen mit einer tödlichen Virtuosität, der keiner der Männer gewachsen war. Sie wollten ihre Schläge parieren, starben jedoch, ehe es ihnen gelingen konnte.

Vor ihr war die Back, der Aufbau auf dem Vorderschiff.

Sie schrie ihren Kampfschrei und trat gegen die Tür, die in die Back führte. Sie war verschlossen und ließ sich nicht durch einen einzigen Tritt öffnen.

Doch das war auch gar nicht die Absicht von Jeannet gewesen. Sie wich blitzschnell zur Seite hin aus und schmiegte sich an die Wandung.

Keine Sekunde zu früh, denn oben tauchten gleichzeitig zwei Männer auf. In jeder Hand hielten sie eine Pistole. Sie schossen genau dorthin, wo Jeannet sich einen Augenaufschlag zuvor noch befunden hatte.

Jeannet ließ ihren Degen nach oben zucken, und einer der beiden röchelte sein Leben aus. Der andere griff blitzartig nach hinten und brachte eine weitere Pistole zum Vorschein. Ehe er jedoch den Abzug betätigen konnte, traf Jeannets Degen auch ihn.

Sie heftete ihren Blick auf die geschlossene Tür. Jeannet nahm Anlauf und sprang mit beiden Füßen gleichzeitig gegen die Tür.

Es krachte zwar fürchterlich, aber die stabile Tür blieb verschlossen.

Jeannet wandte sich ab und sah nach ihren Leuten.

Egal, die Kostbarkeit konnte warten. Wenn sie erst mal im Besitz der Galeone waren und alle Getöteten oder Sterbenden im Meer schwammen, damit die Haie sich wieder gründlich sattfressen konnten, war immer noch Zeit genug, die Tür aufzubrechen.

Schon wollte sie sich endgültig abwenden, als sie trotz des Kampfgetümmels mit ihren empfindlichen Ohren deutlich ein lautes Wimmern vernahm.

Sie blieb wie angewurzelt stehen und wandte sich erneut der Tür zu.

Das war von dort drinnen gekommen, ganz eindeutig!

Wer befand sich dort?

"Hilfe! So helft mir doch!" hörte sie jetzt den verzweifelten Ruf in schlechtem Englisch, gefärbt mit starkem spanischem Akzent.

"Siehe da", murmelte Jeannet unwillkürlich. Dann ist diese behütete Kostbarkeit ganz schön lebendig und außerdem von spanischem Geblüt, schoss es ihr durch den Kopf. Waren das doch nicht nur arme Aussiedler, die man auf dem Handelsschiff der Spanier abgeschlachtet hatte? Aber was tat denn eine Frau auf jenem Schiff, die kostbar genug erschien, um sie als Gefangene mitzunehmen?

Dass es sich um eine Frau handelte, war an der Stimme zu hören, aber Jeannet zügelte vorerst ihre Neugierde, um ihren Leuten zu Hilfe zu eilen, sofern diese überhaupt noch ihrer Hilfe bedurften.

Sie lief von der Tür fort, um den restlichen Verteidigern der Galeone wie ein wütender Berserker in den Rücken zu fallen.

Bevor diese überhaupt begriffen, dass jetzt die tödliche Gefahr auch aus einer ganz anderen Richtung drohte, waren sie bereits durch ihre Hand gestorben.

Achtlos stiegen die Piraten über ihre Leichen, auf der Suche nach weiteren Überlebenden der Besatzung. Sie würden das gesamte Schiff durchsuchen, damit ihnen auch ja kein einziger entkam. Erst wenn dieses blutige Geschäft erledigt war, würden sie sich daran machen, die Ladung zu sichten und zu überlegen, wie man sie am besten in den eigenen Besitz brachte. Vielleicht würden sie auch am Ende versuchen, die Galeone ins Schlepptau zu nehmen, falls man sie nicht notdürftig manövrierfähig machen konnte? Dann würde ihnen nichts von der wertvollen Ladung entgehen, was sie hätten zurücklassen müssen, weil sie an Bord ihrer Fregatte keinen Platz mehr dafür hatten.

Jeannet winkte zwei ihrer kräftigsten Leute herbei und deutete auf die Tür.

"Dahinter verbirgt sich ein kleines, aber sehr lebendiges Geheimnis. Ein paar der Freibeuter haben es mit ihrem Leben verteidigt."

Die beiden lachten rau. Dann sahen sie sich nach einem von der geborstenen Schiffswandung übriggebliebenen Spriet um, den sie als Rammbock benutzen konnten.

Lange zu suchen brauchten sie nicht. Damit machten sie sich daran, die Tür aufzubrechen.

Endlich gab die stabile Tür nach. Der gepanzerte Eingang zu einem Gefängnis hätte nicht hartnäckiger sein können. Sie zersplitterte am Ende regelrecht in ihrem Rahmen.

Drinnen blieb es verdächtig ruhig. Es herrschte Halbdunkel.

Jeannet kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Für einen Augenblick befürchtete sie, die wertvolle lebende Fracht der gekaperten Galeone hätte gar Selbstmord begangen, um einem vielleicht sogar noch schlimmeren Schicksal zu entgehen. Doch dann beruhigte sie sich selber: Nein, die Gefangene hatte keinen Grund, an eine Verschlimmerung ihrer Lage zu glauben. Bisher hatte man ihr jedenfalls keinen Grund gegeben.

Sie trat langsam näher und gebot den beiden, die in ihrem Auftrag die Tür aufgebrochen hatten, zurückzutreten.

Mit angespannten Sinnen blieb sie kurz vor der Türhöhle stehen. Es war nichts zu sehen. Erst mussten sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnen. Aber so lange wollte Jeannet nicht warten. Sie verließ sich dabei eben nicht allein auf ihre Augen, sondern auf alle anderen Sinne, die sie stets rechtzeitig vor Gefahren warnten.

Sie tat den entscheidenden Schritt - und duckte sich im gleichen Augenblick ab, weil sie mit ihrem übersensiblen Gehör ein verräterisches Zischen gehört hatte, als würde etwas mit tödlicher Präzision durch die Luft sausen. Es war ihr nicht entgangen, obwohl gleichzeitig rein zufällig irgendwo in der stark beschädigten Galeone mehrere Todesschreie gellten, um alles andere zu übertönen.

Noch während sie sich duckte, glitt sie gedankenschnell zur Seite. Dann drehte sie sich um sich selbst. Ihre Füße schabten über die Planken. Ihr Körper bog sich schlangengleich, erreichte endlich die richtige Position - und das war neben der dunklen Gestalt, die aus der Deckung heraus in der Absicht angegriffen hatte, jeden Eindringling auf der Stelle zu töten. Aber die Angreiferin - denn es handelte sich mit Sicherheit um die Frau, die vorher so erbärmlich geklagt hatte - hatte noch gar nicht begriffen, dass ihr tödlicher Stich ins Leere gegangen war, da wechselte ihre Waffe bereits die Besitzerin. Jeannet versetzte ihr einen harten, der sie durch die Tür nach draußen taumeln ließ. Die Piratin erschien hinter ihr, um triumphierend ihr Beutestück hochzuhalten: Ein abgebrochenes Stuhlbein, das so spitz war, dass man damit auch einen ausgewachsenen Stier hätte abstechen können.

Jeannet schürzte die Lippen und sah zu, wie sich die Gefangene fing, um den drohenden Sturz zu verhindern.

Wie eine Wildkatze, genauso fauchend, wirbelte sie um sich selbst und wollte erneut gegen Jeannet vorgehen, doch diese lachte nur.

Das stachelte die Wut der Angreiferin nur noch mehr an. Sie griff nach Jeannet, doch wo diese sich soeben noch befunden hatte, war der Platz leer, als hätte sie sich in Nichts aufgelöst. Stattdessen war sie plötzlich hinter ihrer Angreiferin und nahm sie in einen Klammergriff, aus dem es kein Entrinnen gab. Als sie das spitze Holzstück, das ihr ursprünglich hatte den Tod bringen sollen, an die Kehle ihrer Gefangenen hielt, gab es ein beifallheischendes Gebrüll ringsum: Die meisten ihrer Leute hatten ihr blutiges Handwerk bereits erledigt und waren neugierig gekommen, um zu sehen, was da vor der Back vor sich ging.

"Wie würde es Euch gefallen, meine Liebe, wenn jetzt die Waffe, die mir den Tod hat bringen sollen, stattdessen Euch den Tod brächte?", zischte Jeannet am Ohr der Gefangenen, die sich verbissen zu befreien versuchte, wenn auch ohne die geringste Aussicht auf Erfolg. "Ihr habt euch leider das falsche Opfer ausgesucht."

Jeannet stieß die Gefangene von sich, die gegen die Wandung der Back prallte und sich sofort wieder herumwarf.

"Na, wen haben wir denn da eigentlich? Eine zweibeinige Wildkatze, direkt aus der tiefsten Gosse, wo man anders gar nicht überleben kann?", fragte Jeannet und schürzte die Lippen. "Nein, einige Tatsachen sprechen dagegen: Ihre gute Kleidung zum Beispiel. Außerdem wäre sie dann nicht so wertvoll, dass man sie gleich mit mehreren Wachen beschützen würde, die sogar bereit waren, für ihren Schutz das eigene Leben zu opfern."

Sie erhob ihre Stimme und rief ihren Leuten zu, ohne die Gefangene aus den Augen zu lassen: "Kann mir jemand sagen, wen wir da haben? Ich glaube kaum, dass sie uns das selbst mitteilen will."

"Nach dem kostbaren, wenn auch etwas ramponierten Kleid zu urteilen handelt es sich um eine feine Dame!", meldete sich Ben Rider zu Wort.

"Du Abschaum!", zischte die Gefangene.

Alle lachten, auch Jeannet. "Ihr bezeichnet uns als Abschaum?", fragte sie. "Dann könnt Ihr nur eine Adelige sein, die selbst angesichts des sicheren Todes ihren dummen Hochmut nicht verliert. Mit Verlaub: Wer hier nett zu sein hat, das seid Ihr, Gnädigste, denn Ihr seid eindeutig im Nachteil. Aber sicher reicht Euer Verstand nicht aus, dies zu begreifen."

Die Gefangene hob das Kinn.

"Oder mein Stolz ist groß genug, um alles zu ertragen, eben auch den Tod, ehe ich vor Abschaum zu Kreuze krieche."

Jeannet schürzte mal wieder die Lippen, als müsste sie scharf nachdenken. Da trat Marschall Ben Rider neben sie und sagte wie beiläufig: "Sie ist die Tochter des Königs - eine seiner Töchter zumindest!"

"Des Königs?", echote jemand verblüfft.

"Des Königs von Spanien gar?", wunderte sich Jeannet. Sie tippte darauf wegen dem in ihren Ohren fürchterlichen Akzent der Gefangenen. Und dann fügte sie hinzu: "Was suchte die Tochter von Philipp II. auf einem Schiff mit armen Aussiedlern?"

"Sie ist ziemlich widerspenstig", stellte Ben Rider fest. "Das war sie schon immer. Trotzdem ist sie die Lieblingstochter des spanischen Königs. Ich habe sie damals gesehen, in London, bei einem Staatsempfang."

Jeannet lächelte.

"Als du am Hof noch wohlgelitten warst, Ben!"

"Ja. Manchmal erscheint mir das wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben. Aber so war es. Ich erinnere mich ganz genau an diese Frau! Sie ist wahrlich dem Rang einer Prinzessin in keiner Weise würdig, obwohl sich die Höflinge emsig um sie bemüht haben, wie ich weiß. Zwar ist sie seit damals um einige Jahre älter geworden, doch um keinen Deut klüger. Mit anderen Worten: Sie hat absolut nichts dazugelernt."

"Bist du die Thronfolgerin?", fragte Jeannet an die Gefangene gewandt.

Sie gab keine Antwort.

"Sie ist keine Thronfolgerin!", erklärte Rider statt ihrer. "Aber ich denke, ihr Vater wird dennoch alles tun, seine Tochter wiederzufinden. Mehr noch: Er wird ein saftiges Sümmchen spendieren, damit ihm das auch gelingt. Kein Wunder war dann diese bevorzugte Behandlung. Offensichtlich wusste der Kapitän der Galeone, wen ihm da der Zufall in die Hände gespielt hat." Jeannet erhob wieder ihre Stimme. "Ist noch was von diesem Kapitän übrig, was man befragen könnte?"

"Nur noch der Kopf, leider", rief einer rau. "Doch der bleibt konsequent stumm, wie ich mich soeben überzeugen konnte."

"Na, dann wirf ihn doch einfach über Bord."

"Aye, Kapitän!"

"Kapitän?", wunderte sich jetzt ihre königliche Gefangene.

Jeannet deutete eine spöttische Verbeugung an.

"Gestatten: Jeannet WITCH, Kapitän der WITCH BURNING und Anführerin dieser wilden und blutrünstigen Horde." Sie zog ihre Kopfbedeckung und ließ ihren flammenden Rotschopf ins Freie. "Allerdings nicht zu Euren Diensten, Mylady, zu meinem äußersten Bedauern."

"Eine - eine Frau."

"Gefürchtet wie keine sonst auf dieser Welt", bestätigte Jeannet sarkastisch.

Der Blick der Gefangenen wanderte weiter zu Marschall Ben Rider. "Und einen Lakaien an der Seite, der schon mal... bei Hofe gewesen war? Als was eigentlich? Als Lakai - damals schon?"

Ben Rider lachte nur. Auch er deutete eine höfische Verbeugung an, allerdings wesentlich gekonnter als Jeannet. Schließlich hatte er jahrelang Gelegenheit gehabt, die höfische Vorstellung einzuüben.

"Marschall Ben Rider, auch nicht zu Euren Diensten, Mylady."

"Marschall?"

"Na, streng genommen hat mich die Königin dieses Ranges und des damit verbundenen Kommandos enthoben, aber bitte nicht weitersagen, denn das wäre mir... ein wenig peinlich."

Allgemeines Gelächter aus rauen Männerkehlen.

"Na, wie ist es jetzt mit der Nettigkeit?", erkundigte sich Jeannet. "Schließlich müssen wir eine Weile miteinander auskommen. Ich verspreche, Euch kein Haar zu krümmen. Voraussetzung dafür ist aber Euer Wohlverhalten. Gebt mir Euer Wort als Prinzessin darauf!"

"...falls das noch etwas wert sein sollte!", ergänzte Rider.

Jeannet nahm den Degen mit der Linken und streckte der Prinzessin die Hand entgegen.

Diese warf den Kopf in den Nacken.

"Glaubt Sie, dass ich Abschaum die Hand gebe und mich damit beschmutze?"

Jeannet zuckte die Achseln.

"Ganz wie ihr wollt!"

Die Piraten brachen erneut in raues Gelächter aus.

"Ich habe begriffen", sagte die Prinzessin. "Der gefürchtetste Pirat der Meere ist eine Frau. Sie weiß sich gut zu bewegen und gut zu kämpfen. Wäre Sie kein Abschaum, würde ich Ihr dafür Hochachtung zollen. An Ihrer Seite ein ehemaliger Marschall Ihrer Majestät? Einer mit seemännischer Erfahrung sogar, wie ich vermute? Ein seltsames Gespann, wenngleich wohl überaus erfolgreich. Allerdings werde ich es Euch beiden nicht leicht machen, denn ich würde lieber sterben als zurückzukehren an den Hof meines Vaters."

Jeannet hob die Augenbrauen.

"So, was missfällt Euch denn bei dem Gedanken an den Luxus, den Ihr zweifellos gewohnt seid?"

"Mein Vater will mich aus politischen Gründen mit einem Fürsten aus Osteuropa verheiraten. Ich kann weder seinen Namen noch den seines Landes aussprechen und habe auch keine Lust, lange, eisige Winterabende in irgendeinem düsteren Karpatenschloss zu verbringen!"

"Nun ich fürchte, Ihr werdet diese Angelegenheit mit Eurem Vater ausmachen müssen", sagte Jeannet.

"Ihr seid grausam!"

"Betrachtet das Schicksal jener, die jetzt erschlagen auf den Planken liegen, meine liebe Prinzessin. Und dann redet noch einmal von Grausamkeit oder etwas Ähnlichem!"

Ben Rider hob die Hand und trat auf die Gefangene zu.

"Ihr wart also nicht in einer diplomatischen Mission oder dergleichen unterwegs?", fragte er.

"Nein."

"Und Ihr habt ernsthaft geglaubt, in der Neuen Welt hätte der lange Arm Eures Vaters Euch nicht erreichen können?"

"Nirgendwo sonst ist es leichter, seinen Namen und sein letztes Leben abzulegen als dort, Mylord! Ich wäre als eine andere zurückgekehrt. Natürlich mit einem Vermögen, das ausgereicht hätte, um bis an mein Lebensende eine standesgemäße Existenz zu führen und mir alles leisten zu können, was ich will!"

Ben Rider hob die Augenbrauen.

Ein spöttisches Lächeln spielte um die Lippen des ehemaligen Marschalls Ihrer Majestät.

"Ein einfältiges Kind seid Ihr!"

"Mag sein. Ich hatte einen Traum", verteidigte sie sich.

"Einen Traum, der nun zerplatzt ist, denn wir haben Euch und Euer Vermögen!", lächelte Rider.

"Und bald auch das Lösegeld, dass Euer Vater für Euch bezahlen wird!"

"Nur das nicht! Er würde mich jetzt erst recht wie seine Gefangene halten. Glaubt mir, das ist schlimmer als der Tod, denn es bedeutet lebendig begraben sein. Wie wäre es möglich, dass ausgerechnet eine Freibeuterin wie Sie das nicht verstehen könnte - eine, die ihre Freiheit in schönsten Zügen genießt?"

"Euer Englisch ist wirklich flüssig, obwohl ich den Akzent grausig finde", bemerkte Marschall Ben Rider mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck, "aber zu Eurer sprichwörtlichen Widerspenstigkeit gehört anscheinend auch die Lernverweigerung." Er wandte sich an Jeannet. "Man muss sich vorstellen, dass sie sonst gar nichts zu tun hatte bei Hofe, als Lesen und Schreiben zu lernen und die höfische Verstellung - neben einer Fremdsprache zusätzlich zum Französischen, um bei Staatsbesuchen eine gute Figur zu machen."

"Na, die gute Figur hat sie ja", meinte Jeannet schnippisch, "aber mit allem anderen hapert es gewaltig." Jeannet machte eine herrische Handbewegung: "Sperrt sie weg, auf unserem Schiff!"

Darauf hatten die Umstehenden nur gewartet. Ein halbes Dutzend Hände griffen gierig nach der Gefangenen. Sie konnte schreien und sich wehren, wie sie wollte, aber gegen die rauen, kampfgewohnten Seemannshände hatte sie keine Chance.

Jeannet sah ihren Ersten Offizier an. "Ein nettes Früchtchen, nicht wahr?"

"Das ist sie in der Tat", grinste er. "Und einträglich obendrein - für uns."

"Da sollten wir sie doch eher pfleglich behandeln, wie ich finde. Es wäre doch jammerschade, wenn einem solch edlen Beutestück Schaden widerführe."

*



Die Untersuchung der Schäden an der erbeuteten Galeone zeigten, dass sie das Schiff nicht mehr voll seetüchtig machen konnten. Es ging wenigstens nicht unter, und das blieb die Hauptsache. Also beschloss Jeannet, es ins Schlepptau zu nehmen. Dadurch würden sie zwar mehrfach so lange bis zu ihrem Versteck brauchen, aber es würde ihnen keinerlei Ladung verlorengehen. In ihrem Versteck würden sie außerdem alles demontieren, wofür sie irgendwann Verwendung finden könnten, einschließlich der leichten Geschütze auf dem Vorderdeck. Anschließend würden sie die Galeone vollständig abwracken. Es würden keinerlei Spuren mehr davon bleiben.

Jeannet stand auf der Kommandobrücke ihrer Fregatte, flankiert von Marschall Ben Rider, der manchmal wie ihr zweiter Schatten anmutete, war sie doch die einzige Person auf Erden, der er noch Respekt zollte, obwohl er Jeannet niemals als eine Frau ansah, sondern eher als eine Art Neutrum. Ein Kommandant, keine Frau. Er konnte sich beim besten Willen noch nicht einmal vorstellen, dass Jeannet überhaupt zu so etwas wie weiblichen Gefühlen fähig gewesen wäre. Jeannet trug jedoch auch nichts dazu bei, diese Einschätzung zu ändern. Es war so für sie besser.

"Was habt Ihr vor mit der Gefangenen, Kapitän?", erkundigte sich Rider vorsichtig.

Jeannet erwachte aus ihren Gedanken - sehr düstere Gedanken, wie ihre umwölkte Stirn vermuten ließ. Sie wandte sich nicht an ihren Ersten, als sie entgegnete: "Wir nehmen sie mit in unser Versteck. Sie wird nicht mitbekommen, wo sich dieses befindet, zumal sie mit Sicherheit auf See keinerlei Orientierungsmöglichkeiten hat. Ich nehme an, sie sieht das Meer sowieso zum ersten Mal in ihrem Leben. Wenn wir alles getan haben, was für uns von Bedeutung ist, überlegen wir erst unser weiteres Vorgehen in dieser Angelegenheit. Ich denke, es eilt nicht. Ganz im Gegenteil: Je länger wir Philipp in Ungewissheit zappeln lassen, desto mehr wird er für sein missratenes Töchterchen springen lassen."

"Gut gedacht!", lobte Ben Rider.

Auch er schaute jetzt nach vorn - im doppelten Sinne der Bedeutung. Er war stolz auf seinen weiblichen Kapitän und dessen weise Entscheidungen, obwohl er sich andererseits Sorgen machte wegen der Galeone im Schlepptau. Zwar hatten sie es so arrangiert, dass man die Taue jederzeit kappen konnte, um sofort beweglicher zu werden, aber es war dennoch ein nicht zu unterschätzendes Risiko, mit einem derartigen Anhängsel feindliche Gewässer zu durchkreuzen - und im Grunde genommen waren sämtliche Gewässer der Welt für ihr Piratenschiff feindlich!

Er sagte jedoch nichts in dieser Beziehung, um nicht unnötig als Schwarzseher zu gelten. Sicherlich hatte Jeannet das Risiko abgewogen, und ihre Entscheidung musste er akzeptieren - wie sonst auch immer. Ohne stichhaltige Argumente konnte ihr niemals beikommen.

Er schaute hinauf zu dem Mann im Ausguck. Man konnte ihn von unten nicht sehen, aber Jeannet schickte keinen hinauf, auf den sie sich nicht hundertprozentig verlassen konnte. Es war nämlich lebenswichtig. Falls der da oben schlief, wenn Gefahr drohte, die er dadurch nicht rechtzeitig erkannte, konnte sie das alle das Leben kosten.

"Lieber würde ich einen Umweg fahren", murmelte in diesem Augenblick Jeannet.

Rider schaute sie überrascht an. Schon wieder war ihre Stirn sorgenumwölkt. Was ging dahinter vor? Würde er es jetzt erfahren?

Jeannet fuhr fort, wie im Selbstgespräch: "Ich habe ein ungutes Gefühl. Trotzdem beschloss ich, den direkten Weg zu unserem Versteck zu fahren, denn wenn wir einen Umweg beschreiben, brauchen wir wochenlang bis zu unserer Rückkehr. Ich musste sozusagen zwei Nachteile gegeneinander aufrechnen: Entweder zu lange benötigen, wobei täglich die Unruhe in der Besatzung größer werden würde, oder auf dem direkten Weg ein gewisses Entdeckungsrisiko eingehen."

"Nun, Ihr habt Euch für das Zweite entschieden, aber ich denke genauso. Es wäre doch schade gewesen, auf die Galeone zu verzichten und die Schätze, die sie trägt. Ich glaube kaum, dass es der Besatzung gut zu vermitteln gewesen wäre, und ich bin überzeugt davon, dass es ein klarer Vorteil ist, wenn die Besatzung bei Laune bleibt."

Jeannet lachte plötzlich. "Danke, Marschall. Wie immer habt Ihr den rechten Ton gefunden, um Euren Kapitän zu beruhigen. Man merkt deutlich, dass Ihr nicht umsonst Marschall Eures Fürsten geworden seid." Sie schaute ihn kurz an. "Obwohl er von Eifersucht geblendet diesen Vorteil leider nicht mehr sehen konnte. Aber was heißt leider? Sein Nachteil wurde mir zum Vorteil. Was würde ich bloß ohne Euch tun?"

Das frage ich mich allerdings auch, dachte Ben Rider ketzerisch, sagte jedoch nichts in dieser Richtung, um nicht den guten Eindruck zu gefährden, den er auf Jeannet machte.

Anfangs hatte es ihn enorm gestört, von einer Frau befehligt zu werden, doch Jeannet hatte ihm oft genug bewiesen, dass sie der beste Kapitän war, den man sich auf einem Piratenschiff denken konnte. Sein Unbehagen war allmählich der Bewunderung gewichen - und am Ende in echte Verehrung gemündet. Darum legte er meist auch Wert auf die förmliche Anrede zwischen ihnen beiden. Damit bewies er Jeannet den Respekt, der ihr gebührte, wie er es während seiner Karriere zum Marschall gelernt hatte. Andererseits schien es Jeannet nicht schlecht zu gefallen, mit ein wenig höfischer Etikette das ansonsten von ihr gehasste Gebaren in Fürstenhäusern oder gar am Hofe gewissermaßen zu persiflieren. So hatten beide Gefallen daran, wenngleich aus recht unterschiedlichen, um nicht zu sagen gegensätzlichen Motiven heraus.

"Noch nicht einmal eine Woche, dann haben wir unser sicheres Versteck erreicht", lenkte der Marschall vom Thema ab.

Sogleich schweiften die Gedanken von Jeannet ab zu eben jenem Versteck. Sie nannte es New Antikythera, nach einer kleinen, einsamen und darum recht unbedeutenden griechischen Mittelmeerinsel im Besitz des türkischen Sultans. Da sie noch nie persönlich im Mittelmeer gewesen war, kannte sie die Insel leider nur vom Hörensagen. Aber sie hatten eines Tages ein Handelsschiff gekapert mit einem bedeutenden Gelehrten seiner Zeit an Bord. Dieser war gerade aus dem Mittelmeer zurückgekehrt und wollte zur Königin in London, um ihr eine wichtige Entdeckung mitzuteilen: Ausgerechnet auf Antikythera hatte er rein zufällig die Überreste einer uralten Siedlung entdeckt. Der Ortskern war eingefasst gewesen von einer fast acht Fuß hohen Mauer, darin untergebracht waren Geschosse, Schleudern, Pfeile und Speere und zwar in einer solchen Menge, dass dies nur einen Schluss zugelassen hatte, seiner Meinung nach: Dies war eindeutig eine ehemalige Piratensiedlung!

Der Gelehrte war für Jeannet eine sehr wichtige Begegnung gewesen. Darum hatte sie ihn natürlich nicht nach London zurückkehren lassen wollen, sondern behielt ihn lieber als Gefangenen, von dem sie noch sehr viel mehr zu lernen gedachte. Eines Tages hatte er versucht, sie hinterrücks niederzustechen, um vielleicht so der von ihm gehassten Gefangenschaft zu entrinnen. Jeannet hatte sich gewehrt - und dabei war der Gelehrte unglücklicherweise zu Tode gekommen.

Trotzdem hatte sie ihr Piratenversteck auf einer der unbedeutenden, weil vorgelagerten Kanalinseln in englischem Besitz genau mit jenem Namen bedacht wie die griechische Insel. Jetzt würde zwar niemand auf der Welt vorerst von dieser Siedlung dort erfahren, aber irgendwann würde man sie wiederentdecken, wenn vielleicht auch erst in Hunderten von Jahren. Da war Jeannet sich ziemlich sicher. Ansonsten interessierte es sie nicht als ihre eigene Angelegenheit.

Hätten wir nur schon unser eigenes Antikythera erreicht, dachte sie - nach wie vor pessimistisch, obwohl sie es sich jetzt nicht mehr anmerken ließ.

*



Ein schriller Laut ertönte oben im Ausguck, war praktisch bis in jeden Winkel des Schiffes hörbar und ließ Lord Donald Cooper zusammenfahren, denn er wusste sogleich: Es war soweit!

Er sprang vom Kartentisch weg, über den er sich gerade erst hatte beugen wollen, um mal wieder ihre Position zu überprüfen, und lief zur Tür. Diese öffnete sich bereits, ehe er sie erreicht hatte. Sein Erster Offizier gab sich gewohnt unterkühlt, obwohl Lord Cooper ihm an den Augen ansehen konnte, dass er in Wirklichkeit ziemlich aufgeregt war.

Sie hatten tagelang gewartet. Die Zeit war so zäh geflossen wie flüssiges Blei, und manchmal war sie sogar erstarrt erschienen, wie Blei, das zuviel Temperatur verloren hatte und erst wieder angeheizt werden musste.

Und jetzt war es wirklich soweit? Jetzt war die Wartezeit beendet?

Hoffentlich handelt es sich nicht um das falsche Schiff, dachte Lord Cooper in einem leichten Anflug von Skepsis. Dann stürmte er mit seinem Ersten hinaus.

"Greift in die Riemen!", brüllte er. "Pullt um euer Leben. Wenn ich nur eine einzige Hand sehe, die danach nicht blutet, lasse ich sie abhacken!"

Die Ruderer nahmen das durchaus ernst. Sie gingen die Ruder an, als würde es tatsächlich gelten, ihr Leben zu retten.

"Der Wind steht günstig, und mit der Unterstützung der Ruder sind wir so schnell wie noch nie zuvor ein Schiff auf dieser Welt", sagte der Erste enthusiastisch.

In der Tat war die SWORD FISH eine Neuentwicklung.

Ein Schiff, wie es zuvor noch keins gegeben hatte!

Sie war schneller als man es vordem jemals für möglich gehalten hätte, und konnte noch segeln, wenn aus dem Wind längst ein laues Lüftchen geworden war. Trotz ihrer beeindruckenden Größe. Dafür hatte sie ja auch fünf vollgetakelte Masten.

Ihre ungewöhnliche Schnelligkeit einerseits barg andererseits allerdings enorme Nachteile: Sie hatte kaum Laderaum übrig, brauchte zuviel Besatzung und konnte allein deshalb keine großen Distanzen überbrücken: Die Mannschaft wäre unterwegs verhungert und verdurstet. Auch für den Krieg war sie eher unzulänglich gerüstet. Sie konnte zwar jedes denkbare Kriegsschiff überfallen, locker besiegen und versenken, doch danach besaß sie nicht mehr genügend Munition, um dem nächsten Angriff widerstehen zu können. Geschweige denn, dass sie in der Lage gewesen wäre, eine nennenswerte Beute als Ladung mit an Bord zu nehmen...

Dieses Schiff mit all seinen Mängeln einerseits und seinen Vorteilen andererseits war eigentlich nur für eines geeignet: Das gefürchtete Piratenschiff aufzubringen! Ansonsten war Lord Cooper sicher, dass man kein zweites Schiff in dieser Art mehr bauen würde. Man würde aus den Vorteilen zwar reichlich lernen können - genauso wie aus den Nachteilen -, doch jede weitere Entwicklung sollte schon eine Verbesserung auf ganzer Linie sein. Eine solche Spezialisierung rechnete sich nicht für die Flotte und taugte höchstens zu Studienzwecken. Es war jedenfalls kein Konzept auf Dauer.

Im Moment erfüllt es dennoch seinen Zweck, wünschte sich Lord Cooper grimmig und nahm seinen Platz auf der Kommandobrücke ein.

Das Schiff beschleunigte sozusagen aus dem Stand heraus. Es segelte voll vor dem Wind. Die Seeleute hatten das Kunststück fertiggebracht, innerhalb von einer Minute die wichtigsten Segel zu setzen, und nun folgte der Rest, begleitet von gegenseitigen Zurufen. Sie gingen so geschickt vor, als wären sie Artisten und keine normalen Seeleute.

Die besten, die ich für diese Aufgabe kriegen konnte!, gratulierte sich Cooper im stillen.

Auch die Kanonen wurden gefechtsklar gemacht. Obwohl sie nur die leichteren Geschütze auf dem Vorderdeck benötigen würden, wie Donald Cooper vermutete, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Piraten zum Kampf zu stellen wagten. Nein, sie würden die Flucht versuchen und es wäre für sie eine Kleinigkeit, das Piratenschiff einzuholen und mit den Geschützen auf dem Vorderdeck manövrierunfähig zu schießen, ehe die überhaupt begriffen, wie ihnen geschah.

Leider sollen wir das Schiff nicht mit Mann und Maus versenken, sondern die Besatzung gefangennehmen und danach gewissermaßen umdrehen, dachte er zerknirscht. Wenn das nicht gelingt, bin ich des Todes. Die Worte meiner Königin waren deutlich genug...

Er schob angriffslustig das Kinn vor, wie um sich selber damit Mut zu machen. Sein Erster Offizier schaute ihn dabei merkwürdig von der Seite an. Er ahnte ja noch nicht einmal, dass sein Lord längst ein Todeskandidat war - egal, ob sie die Piraten nun besiegten oder nicht.

"He, die haben eine Galeone im Schlepptau! Seht doch!", rief jemand, und Lord Donald Cooper sah. Aber er konnte auch erkennen, dass die sich verzweifelt bemühten, die Taue zu kappen, um anschließend die Flucht anzutreten.

"Sie haben keine Chance", murmelte er wie zu sich selber. "Das wissen sie nur noch nicht."

"Aber sie werden es bald erkennen", meinte sein Erster. "Für sie steht der Wind weitaus ungünstiger. Außerdem gibt es eine Meeresströmung, die sie direkt auf uns zutreibt. Wenn sie die Galeone los sind, müssen sie im Bogen um die Galeone herumsegeln, um vor uns fliehen zu können."

"Das würde zuviel Zeit beanspruchen. Deshalb werden sie in die Riemen greifen und um ihr Leben rudern", widersprach Lord Cooper.

"Egal, auch dann werden sie viel zu langsam sein. Wir werden uns bereits in Schussweite befinden, ehe die überhaupt erst richtig auf Fahrt kommen. Und dann rasieren wir ihnen das Heck ab."

"Wir werden niemanden töten, sofern es sich vermeiden lässt!", sagte Lord Donald Cooper klar und deutlich und ließ damit erst die sprichwörtliche Katze aus dem Sack, denn bislang waren alle an Bord davon ausgegangen, das Piratenschiff sollte nur aufgebracht und versenkt werden.

Und es handelte sich eindeutig um ein Piratenschiff: Es war komplett schwarz überpinselt und besaß keine Fahne. Jedenfalls war im Moment keine gehisst.

"Aber wieso...?"

"Dies ist ein Befehl, und dem hat jeder Folge zu leisten!", erklärte Lord Cooper und versuchte vergeblich, seiner Stimme dabei die nötige Festigkeit zu verleihen. "Ein jeder, der es wagt, entgegen meinem Befehl das Piratenschiff zu versenken, wird mit dem Tode bestraft!"

Das war überdeutlich. Der Erste erbleichte. Er salutierte - nicht ganz so schmissig wie gewohnt - und gab den Befehl an die Besatzung weiter.

Leichtes Murren kam auf, jedoch nur hinter vorgehaltener Hand, um nicht den Zorn des Lords zu erregen.

Lord Cooper hoffte indessen, dass es sich auch wirklich um das richtige Piratenschiff handelte. Nun, sie würden es herausfinden, wenn sie das Schiff nicht einfach versenkten. Vielleicht würde der gegnerische Kapitän auch vorher schon beweisen, dass er wirklich so clever war, wie von ihm behauptet wurde. Ihm wurden ja Dinge nachgesagt, die an wahre Zauberei grenzten. Es schien sich eher um ein Geisterschiff als um eine gewöhnliche Fregatte mit lebenden Menschen an Bord zu handeln.

Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen sah Lord Donald Cooper dem Piraten entgegen. Er war jedenfalls gespannt, wie sich die Dinge entwickeln würden. Dabei war es ihm beinahe egal, was für ihn dabei herauskam, denn an einen Erfolg seiner Mission mochte er nach wie vor nicht glauben. Ein solcher Erfolg wäre in seinen Augen auch unmöglich gewesen.

*



Als der Alarm an Bord gellte, war Jeannet ausnahmsweise unter Deck in ihrer Kajüte. Sie hatte sich auf die Koje gelegt, in voller Montur, und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. So lag sie gern da, um ihren Gedanken nachzuhängen. Meistens waren es düstere Gedanken. Zur Zeit jedoch dachte sie an die spanische Prinzessin. Ihr war nämlich eingefallen, dass bisher deren Namen kein einziges Mal genannt worden war. Aber der König von Spanien hatte mehr als nur eine einzige Tochter. Ihr Name spielte dabei eine recht untergeordnete Rolle. Viel wichtiger erschien die Tatsache, dass es sich um seine Lieblingstochter handelte.

Die Frage war nun, wie konnte man Philipp II. die Botschaft zukommen lassen, dass sich seine Lieblingstochter in der Gewalt von Piraten befand, die entsprechendes Lösegeld forderten? Und wie musste man strategisch vorgehen, um bei der Übergabe nicht in eine tödliche Falle zu geraten?

Im Grunde genommen hatten diese Überlegungen reichlich Zeit, denn erst einmal mussten sie zurückkehren nach ihrem New Antikythera, die Galeone abwracken und den König von Spanien noch ordentlich zappeln lassen, um ein höheres Lösegeld am Ende zu erzielen...

Der Alarm ließ Jeannet hochschrecken.

Feindberührung! Aber handelte es sich um eine feindliche Galeone, die man überfallen konnte, oder um was sonst?

Sie lief hinaus.

Ben Rider wartete schon auf sie. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Meer hinaus. "Da, seht!"

Und Jeannet sah etwas, was sie bisher niemals auch nur für möglich gehalten hätte: Ein englisches Kriegsschiff raste auf sie zu, mit einer schier unglaublichen Geschwindigkeit. Als würde das nicht mit rechten Dingen zugehen. Ihre eigene Fregatte war schon ungewöhnlich schnell und damit ihren Opfern in der Regel überlegen, aber das da...

"Taue gekappt!", kam der Ruf, und dann legten sich die Männer unter Deck in die Riemen. Sie mussten die Fregatte herum bringen, damit sie vor dem Angreifer fliehen konnte, und dass es sich um einen Angreifer handelte, war wohl jedem an Bord sonnenklar.

"Nein!", schrie Jeannet indessen gellend: "Keine Flucht!"

Zu ihrem Ersten hingewandt, fügte sie hinzu: "Wir hätten keinerlei Chance. Seht Ihr das nicht? Und wenn wir ihnen unser Heck zuwenden, sind wir völlig hilflos. Sie werden uns jagen wie die Jäger ein Wild - und sie werden uns auch genauso zur Strecke bringen. In weniger als einer Stunde wären wir alle tot."

"Was - was schlagt Ihr stattdessen vor?"

"Wir stellen uns zum Kampf!"

"Aber dieser Fünfmaster ist nicht nur schneller, sondern auch voll bestückt. Er ist ein Kriegsschiff, das jeden Beschuss locker wegsteckt, selbst wenn wir aus vollen Rohren darauf schießen."

"Wir stellen uns zum Kampf!", beharrte Jeannet stur. "Wir werden uns verteidigen bis zum letzten Blutstropfen. Auf diesem Schiff wird niemand als Feigling sterben."

"Vielleicht könnten wir die Tochter des spanischen Königs als Pfand einsetzen, um die Vernichtung zu verhindern?", fragte Rider. "Den Engländern könnte sie genauso viel wert sein wie den Spaniern."

"Wie das?", fragte Jeannet.

"Weil sie durch die Rückführung dieser Prinzessin am Hof von Madrid diplomatisch Eindruck machen könnten. Ein Umstand, der den offenen Konflikt zwischen Spanien und England um Jahre hinauszögern könnte."

"Ha, Rider! Man merkt, aus welchem Stall Ihr kommt! Ihr seid ein Höfling und mit den Intrigen des Adels vertraut!"

"Fürwahr."

"Dennoch ist Euer Vorschlag Unsinn."

"So? Warum lassen wir es nicht darauf ankommen?"

Jeannet winkte ab. "Um anschließend von denen gefangengenommen und massakriert zu werden? Einmal abgesehen davon: Wie wollen wir denen das klar machen, wenn sie uns einfach zu Klump schießen? Wir könnten ihnen Zeichen geben, wie wir wollen. Sie brauchen sie ja bloß zu ignorieren..."

"Sollen wir es nicht dennoch zumindest versuchen?"

"Also gut, Marschall, ich höre auf Euren Rat. Schließlich seid Ihr ein gewiefter Kriegsstratege, sonst wärt ihr niemals Marschall geworden." Sie erhob ihre Stimme und brüllte ihre Leute an: "An die Kanonen! Und wetzt die Messer. Geht in Gefechtsposition. Wartet meine weiteren Befehle ab. Und die drei Besten mit Signalflaggen will ich hier auf der Kommandobrücke sehen!"

Ihren Befehlen wurde blind gehorcht. Eine Minute später kamen die drei angeforderten Männer mit ihren Signalfahnen.

"Haltet euch bereit, bis der Angreifer in Reichweite ist!", befahl sie ihnen. "Dann signalisiert denen, dass sie nicht schießen sollen, um die Tochter des spanischen Königs nicht zu gefährden, die unsere Gefangene ist."

"Das Leben der Prinzessin gegen unser eigenes?", erkundigte sich Ben Rider wenig überzeugt.

"Es war Euer Vorschlag, mein Lieber. Schon vergessen? Und inzwischen finde ich diesen Vorschlag nicht nur gut, sondern sogar sehr gut!"

Hoffentlich ist er das auch wirklich, dachte Ben Rider stirnrunzelnd. Sicher war er sich jetzt keineswegs mehr, aber eine Alternative zu diesem Vorgehen konnte er auch nicht erkennen.

Es ging jahrelang gut, dachte er weiter. Jeannet war die ungekrönte Königin der Meere - und wir ihr Hofstaat. Wie sie es der Prinzessin gegenüber schon gesagt hat. Doch jede Königin muss damit rechnen, eines Tages abdanken zu müssen. Ist für Jeannet dieser Tag nun gekommen? Sind wir jetzt alle... wirklich am Ende?

Darauf gab es keine Antwort. Noch nicht!

"Die werden sich wundern, dass wir das Flaggenalphabet der Flotte so gut kennen - und ich hoffe inbrünstig, dass sie überhaupt verstehen und begreifen, um was es geht", murmelte er vor sich hin.

Jeannet hörte und verstand es deutlich genug: "Das ist nicht wirklich ein Problem, mein Lieber: Im Zweifelsfall werde ich überwechseln und sie verbal überzeugen!"

"Nein!", entfuhr es Rider.

"Doch!", beharrte Jeannet.

Rider atmete schwer.

"Ihr seid der Kapitän."

"Vergesst das nicht, Marschall!"

*



Die heranschießende Kriegsgaleone unter dem Kommando von Lord Cooper drehte rechtzeitig bei, um einen Rammkurs zu vermeiden.

"Dwars!", befahl der Lord, und seine Leute hatten eigentlich schon darauf gewartet: Entgegen der Annahme aller dachte die Fregatte gar nicht daran, die Flucht zu ergreifen. Sie waren bereits in Gefechtsposition. Wenn sie jetzt nicht ihre eigenen Kanonen in Position brachten, kassierten sie unweigerlich die ersten Treffer, ehe sie sich überhaupt zur Wehr setzen konnten.

Das große Schiff bewies, dass es dennoch außerordentlich manövrierfähig war. Es glitt in Gefechtsposition und hatte die Fregatte gleichzeitig in Reichweite seiner Kanonen. Da es mit Sicherheit schwerer bestückt war, bildete die Fregatte bei diesem Abstand noch keine echte Gefahr für Schiff und Besatzung. Andererseits hätten sie jetzt schon die Fregatte mit wenigen gezielten Schüssen versenken können.

Keine Pattsituation also, sondern ganz klar die Position der Überlegenheit auf Seiten der englischen Kriegsgaleone.

"Die haben Signalleute an Bord!", rief in diesem Augenblick jemand.

"Wie bitte?", wunderte sich der Lord unkonventionell. Aber er fing sich rasch: "Was signalisieren sie denn?"

"Sie geben auf. Sie wollen keinen Kampf. Wertvolle Fracht oder so ähnlich..."

"Was ist nun: Können die nicht richtig signalisieren oder hapert es auf diesem Schiff am Lesen?"

"Mit Verlaub, Eure Lordschaft, aber bei dieser Entfernung..."

"Wir werden den Teufel tun und näher herangehen."

"Sollen wir etwas erwidern, Mylord?"

"Nein!" Dieser Befehl war eindeutig.

Hinter der gerunzelten Stirn des Lords jagten sich die Gedanken. Er vermutete eine besondere Finte. Aber was steckte dahinter? Was hatten die Piraten wirklich vor? Besaßen die noch einen Trumpf, von dem sie nicht einmal etwas ahnten? Und wie könnte ein solcher Trumpf aussehen?

Im Moment waren die Piraten so gut wie verloren. Sie schienen das selber zu wissen, sonst hätten sie nicht nach dieser List gegriffen.

"König?", wunderte sich der Erste.

Der Lord wurde aufmerksam.

Ihre eigenen Signalleute hatten eine bessere Position, um zu sehen, welche Flaggensignale von drüben kamen. Sie gaben das weiter, was sie verstanden.

Der Lord kniff die Augen zusammen, als könnte er dadurch besser sehen.

Von drüben wurde irgend etwas signalisiert von einem wertvollen Gefangenen!

Dem Lord fiel es wie Schuppen von den Augen: So also sah die Finte aus! Die wollten verhindern, dass man sie versenkte, indem sie vorgaukelten, sie hätten einen königlichen Gefangenen an Bord.

Aber was war, wenn es diesen Gefangenen tatsächlich gab?

Eigentlich war es dem Lord ziemlich egal, denn er hatte ohnehin nicht vor, das Piratenschiff zu versenken. Die ahnten es allerdings nicht. Wie denn auch?

Wie sollte er jetzt weiter vorgehen? Auf die Finte eingehen? Aber was dann?

Er deutete den fragenden Blick seines Ersten richtig: "Wir antworten nicht!"

Wäre ja noch schöner, dachte er im Stillen. Die würden uns wohl für blöd halten, wenn wir sofort auf ihre Finte eingingen. Es genügt, wenn vorläufig kein einziger Schuss fällt. Noch nicht einmal ein Warnschuss. Es besteht ja auch noch kein Grund dafür.

"Mylord!", rief der Mann im Ausguck, sodass es fast jeder auf dem Schiff verstehen konnte: "Die setzen gerade ein Boot zu Wasser. Darin befindet... sich nur eine Person."

"Doch nicht etwa der besagte Gefangene?", überlegte der Lord laut. "Beobachten!", befahl er als nächstes. "Und nichts unternehmen! Sobald das Boot uns erreicht, die Person an Bord nehmen, jedoch streng bewachen!"

"Laut Signalen: Sie schicken uns... ihren Kapitän!", gab der Erste an seinen Lord weiter. Man konnte ihm deutlich anhören, dass er es selber nicht glauben konnte.

"Also nicht den Gefangenen? Der Kapitän persönlich, der sich anstelle seiner Besatzung ausliefert oder wie?", überlegte der Lord laut genug, dass die Umstehenden es verstehen konnten. Es war ihm egal.

Er schürzte die Lippen. "Na, auf diesen Kapitän bin ich besonders gespannt."

"Seid ihr überzeugt davon, Mylord, dass es sich um dieses meistgesuchte Piratenschiff auch tatsächlich handelt?", erkundigte sich der Erste.

"Nun, habt Ihr die Galeone im Schlepptau gesehen? Das ist ein anderes Freibeuterschiff, ein englisches, wie ich meine. Und es war doch eigentlich dieser Fregatte an Kampfkraft deutlich überlegen, nicht wahr? Suchen wir den Piraten nicht deshalb, weil er englische Schiffe überfällt - erfolgreich auch dann, wenn die ihm eigentlich überlegen sind?"

"Es spricht in der Tat alles dafür, Mylord. Verzeiht meine Zweifel."

"Und noch etwas spricht dafür: Diese Finte mit dem wertvollen Gefangenen. Oder handelt es sich gar um mehrere Gefangene?"

"Das ging nicht deutlich genug aus den Signalen hervor, Mylord."

"Also bin ich sogar zweifach gespannt auf den Kapitän und Anführer der Piraten: Ich möchte den kennenlernen, der nun schon seit Jahren die englische Admiralität an der Nase herumführt und durch seine dreisten Überfälle den Nimbus der Unbesiegbarkeit erlangte. Zum zweiten will ich mehr erfahren über diesen Trick mit den angeblich wertvollen Gefangenen, die man als Geiseln gegen die drohende Niederlage einzusetzen gedenkt..."

Der Lord war sicherlich nicht der einzige an Bord der Kriegsgaleone, der so neugierig auf diesen Menschen war, der es jetzt sogar wagte, völlig allein zu ihnen an Bord zu kommen.

Ihr Erstaunen jedoch wuchs, als sie schon von weitem erkannten, dass es sich zweifelsohne... um eine Frau handelte! Sie trug zwar Männerkleidung, doch ihr flammendroter Haarschopf wehte im Wind wie züngelndes Feuer. Sie lag in den Riemen, als würde sie niemals etwas anderes tun, als unermüdlich zu rudern. Und so erreichte sie in relativ kurzer Zeit die Kriegsgaleone Ihrer Majestät, der Königin Elisabeth von England, befehligt von ihrem unmittelbaren Berater Lord Donald Cooper.

*



Das Boot schrammte gegen die Wandungen der Galeone, die sich vor ihr auftürmte wie eine schwimmende Festung. Und genau das war sie ja auch im Grunde genommen.

Eine Strickleiter wurde heruntergeworfen. Die dies taten, sah sie oben an der Reling herabgrinsen. Sie konnten sich anscheinend nicht vorstellen, dass es einer Frau gelingen könnte, so ohne weiteres an einer Strickleiter emporzuklettern. Sie freuten sich offensichtlich schon darauf, ihr dabei einen Schabernack zu spielen.

Jeannet grinste zurück und griff nach der Strickleiter. Sie hakte nicht ihre Füße ein, um hochzuklettern, sondern ließ ihren geschmeidigen Körper leicht hin- und herpendeln und griff dabei jedesmal nach. Das sah so aus, als würde sie sich an der Strickleiter regelrecht emporschlängeln - und das mit beängstigender Geschwindigkeit.

Die oben zogen jetzt kräftig an der Strickleiter, als wollten sie die Besucherin hochziehen, aber im entscheidenden Moment ließen sie wieder los, als würde es unbeabsichtigt geschehen. Dabei erwarteten sie natürlich, dass sie den Halt verlor und zurückfiel auf das Boot.

Ehe sie jedoch ihren Triumph auskosten konnten, mussten sie erstaunt feststellen, dass überhaupt niemand mehr an der Strickleiter hing. Wie war das denn möglich?

Einer war so unvorsichtig und beugte sich weit über die Reling, um alles richtig überschauen zu können.

Ein schlimmer Fehler, denn eine Hand packte scheinbar aus dem Unsichtbaren nach ihm, zupfte kurz - und schon segelte der bärbeißige Maat im Dienste Ihrer Majestät, der Königin von England, im hohen Bogen nach unten. Er schrie wie am Spieß und strampelte verzweifelt, ehe er unmittelbar neben dem Boot auf das Wasser klatschte.

Das Lachen blieb seinen Kameraden im Hals stecken, denn im nächsten Augenblick schwang sich Jeannet mit einer Behändigkeit über die Reling zu ihnen herauf, als hätte sie überhaupt kein Gewicht. Sie duckte sich ab, formte die Hände zu Krallen und fauchte sie an.

Erschrocken fuhren die kriegsbewährten Soldaten vor ihr zurück.

Sie entspannte sich und lachte nun ihrerseits lauthals.

Keiner wusste so recht, ob er in das Lachen einfallen sollte oder nicht.

"Ich bin der Kapitän des Piratenschiffes WITCH BURNING: Jeannet WITCH! Und wo ist der Kapitän dieses Schiffes hier? Oder muss ich mich zufriedengeben mit diesen Tölpeln von unfähigen Matrosen?"

Sie bewegte sich in Richtung Kommandobrücke. Weit kam sie nicht. Die Männer hatten sich von ihrem Schrecken erholt und warfen sich auf sie. Gleich fünf Mann auf einmal.

Doch sie griffen ins Leere. Jeannet tauchte gedankenschnell unter ihnen weg und war plötzlich hinter ihnen. Sie warfen sich zu ihr herum. Sie stürmte auf sie zu.

Unwillkürlich wichen sie aus. Eine Lücke bildete sich.

Jeannet sprang mit einer Hechtrolle zwischen ihnen hindurch, rollte über das Deck und landete wieder auf den Beinen. Dabei drehte sie sich zu den Männern um, die nach ihr hatten greifen wollen.

"Nicht doch", tadelte sie amüsiert. "Ihr braucht mich nicht festzunehmen. Seht doch, ich bin nur eine schwache Frau und hier sind so viele starke Männer. Wovor fürchtet ihr euch eigentlich? Meint ihr, ich könnte allein das ganze Schiff erobern?"

"Genug!", ertönte von oben eine donnernde Stimme. Es war die Stimme von Lord Donald Cooper. "Lasst die Finger von ihr. Begleitet sie zu mir herauf. Ich möchte mit eigenen Augen sehen, mit wem wir es zu tun haben."

Sie wandte sich der Richtung zu, aus der die Stimme gekommen war. Lord Donald Cooper stand vor der Sonne und war für sie nur eine hohe Silhouette, sowieso noch zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können.

Jeannet setzte sich in Marsch zur Kommandobrücke, in sicherem Abstand von den Männern begleitet, die jetzt ihre Waffen gezogen hatten.

"Ihr wird kein Haar gekrümmt!", warnte Lord Cooper. "Sie ist freiwillig zu uns gekommen. Erst werden wir uns anhören, was sie zu sagen hat."

"Sehr nobel von Euch, verehrter Kapitän, aber was mich betrifft: Sollte es Euch entgangen sein, wie ich mich vorgestellt habe?", rief Jeannet respektlos.

"Die richtige Anrede ist Mylord!", hörte sie die strafende Stimme des Mannes, der neben dem Kapitän stand.

"Ein wahrhaftiger Lord?", wunderte sich Jeannet.

Unwillkürlich dachte sie an das Massaker von damals.

Ein Lord?

Seine Soldaten?

Sie hörte ihre grölenden Stimmen. Sie waren betrunken gewesen.

Hier an Bord war niemand betrunken. Das Schiff hatte volle Gefechtsbereitschaft und sein Kapitän war wiederum... ein Lord?

Etwa... derselbe von damals?

Ihr Verstand wusste, dass dieser Gedanke absurd war.

Aber die Erinnerung machte sich bisweilen selbstständig, ergriff dann die Herrschaft über sie und machte sie zu ihrer willenlosen Marionette.

Nein!, entschied sie im nächsten Augenblick im Stillen. Sie hatte vorhin seine Stimme gehört, aber es war nicht dieselbe Stimme wie damals. Diese Stimme würde sie unter tausend wiedererkennen, denn sie war unlöschbar in ihrem Gedächtnis haftengeblieben.

Sie entspannte sich wieder und ging weiter. Niemand hatte ihr die kurze Anspannung anmerken können.

"Sehr wohl, Mylord!", rief sie spöttisch. "Ehre, wem Ehre gebührt - und einem Lord gebührt immer die höchste Ehre, deren ich fähig bin."

"Was erdreistet Ihr euch, Weib!", schimpfte der Mann neben dem Lord.

Jetzt war die Position zur Sonne für Jeannet günstiger: Sie sah, dass es sich um den Ersten Offizier der Kriegsgaleone handelte. Auch von dem Lord konnte sie jetzt mehr sehen - und das, was sie sah, war für sie überaus beeindruckend.

Sie schaute trotzdem nicht mehr länger hin, sondern konzentrierte sich auf die direkte Umgebung und vor allem auf die Strecke, die sie noch zurückzulegen hatte. Dafür hatte sie sich spontan zu einem besonderen Auftritt entschieden, der sich beinahe nahtlos dem anschloss, mit dem sie an Bord des Schiffes gelangt war.

Bevor die Männer in ihrer Begleitung es verhindern konnten, machte sie ein paar rasche Schritte in Richtung Kommandobrücke, sprang am Ende empor und fand mit den Händen Halt. Sie riss sich förmlich hinauf, griff blitzschnell nach, schwang herum - und flankte schließlich über die Abgrenzung, um direkt vor dem Lord auf beiden Beinen federnd zu landen.

Sie deutete eine höfische Verbeugung an, die ihr nicht so gut gelang, dass es ihr das Wohlwollen von Marshal Rider eingebracht hätte. Gottlob brauchte er es nicht zu sehen.

"Zu Diensten, Mylord!"

"Das bezweifle ich sehr!", antwortete er ruhig und ließ Jeannet die Spitze seines Degens sehen.

Sie war sicher, dass er diesen noch nicht gezogen hatte, so lange sie unten gewesen war. Daraus schloss sie, dass er mit der Waffe sehr wohl umzugehen wusste.

Sie schaute in sein Gesicht. Er lächelte.

"Ich mag es kaum glauben, dass Ihr wirklich der Kapitän und Anführer der Piraten sein wollt."

"Hätte ich dafür Zeugen mitbringen sollen, Mylord?"

"Nein, gewiss nicht, aber wie kann es sein, dass eine Frau...? Ach, lassen wir das. Ich habe gesehen, wozu Ihr fähig seid, und kann mir gut vorstellen, dass Ihr Euch an Bord eines Piratenschiffes gegen den rauen Männerhaufen durchaus durchzusetzen vermögt."

Sie deutete erneut eine Verbeugung an.

"Es ehrt mich sehr, solches aus Eurem Munde zu vernehmen."

"Oh, was die Etikette betrifft, müssen wir allerdings noch reichlich üben, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet. Das kommt viel zu holprig daher und beweist, dass Ihr keineswegs von edlem Geblüt seid."

Vielleicht hätte ich es damals von unseren Schauspielern in der Gauklertruppe rechtzeitig lernen sollen, so, wie ich alles andere gelernt habe. Dann würde es heute besser sitzen, dachte Jeannet, aber sie ließ sich durch die Worte des Lords keineswegs provozieren.

Lächelnd richtete sie sich auf und schaute ihn aus sehr aufmerksamen Augen an.

Jetzt erst wurde ihr bewusst, was für ungewöhnliche Augen der Lord besaß. Sie hatte das Gefühl, darin zu versinken. Prompt kamen Schwindel in ihr auf.

Beinahe hätte sie denn Kopf geschüttelt, um ihrer plötzlich aufwallender Gefühle Herr zu werden, aber sie brachte nicht nur das Kunststück fertig, dieses zu unterdrücken, sondern sie erwiderte sogar scheinbar völlig gelassen den forschenden Blick.

"Ich bin nicht Kapitän eines Piratenschiffes geworden, weil ich eine verwöhnte Dame am Hofe bin, Mylord. Ich wurde es, weil es niemanden gibt, der dafür besser geeignet wäre."

"Das glaube ich Euch unbesehen. Und jetzt würde ich gern erfahren, was Euch zu uns führt - und auch noch allein!"

"Die Prinzessin von Spanien. Um genauer zu sein: Die Lieblingstochter von Philipp II: Wir fanden sie auf der gekaperten Galeone, als Geisel für Lösegeld, wie ich vermute. Niemand überlebte unseren Angriff, außer ihr. Und jetzt befindet sie sich in unserer Obhut. Wenn Ihr also befehlt, mein Schiff anzugreifen, verurteilt Ihr sie zum Tode. Andererseits... Ich könnte mir vorstellen, dass die Gefangene für Euch von höchster Bedeutung wäre."

"Und wieso?"

"Man munkelt, dass die Spanier längst Verdacht schöpfen wegen den häufigen Angriffen auf ihre Handelsschiffe."

"Man munkelt?"

"Man nennt diese Freibeuter inzwischen 'Freibeuter der Königin', Mylord, um es deutlicher auszudrücken, und meint damit offensichtlich, dass sie im Auftrag der Königin von England handeln."

"Und ihr glaubt, es wäre günstig, mit der Auslieferung der Königstochter diesem Gerücht entgegenzutreten?"

"Genau dieses. Hinzu kommt, dass sie Zeugin ist, wie die Galeone angegriffen und gekapert wurde - durch uns. Sie weiß, dass wir Engländer sind, aber wir haben eben kein spanisches Schiff angegriffen, sondern ein englisches. Mit anderen Worten: Die Freibeuter machen augenscheinlich keine Unterschiede zwischen Spaniern und Engländern, können mithin unmöglich im Sold der Königin von England stehen."

"Und dann kommen wir und befreien die Prinzessin, um sie sicher nach Hause zu bringen - aus Freundschaft zu Spanien und seinem König?"

"Sehr feinsinnig bemerkt, Mylord. Und deshalb bin ich hier: Ich möchte mit Euch das weitere Vorgehen aushandeln."

"Und was wünscht Ihr im Gegenzug zur Übergabe der Prinzessin von uns?"

"Freies Geleit!"

Ein paar der Männer, die das hörten, lachten wie über einen Scherz. Auch der sonst so gestrenge Erste Offizier konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Einzig der Lord blieb ernst.

"Wer garantiert denn, dass es diese angebliche Königstochter überhaupt gibt?", fragte er.

"Ich persönlich - und bürge mit meinem eigenen Leben dafür! Deshalb bin ich gekommen. Und jetzt liegt die Entscheidung ganz bei Euch. Wollt Ihr es riskieren, dass ich die Wahrheit sage? Wollt Ihr immer noch mein Schiff versenken?"

"Wer sagt Euch denn, dass wir überhaupt jemals vorhatten, Euer Schiff zu versenken?"

Es dauerte Sekunden, bis sich Jeannet von ihrer Überraschung erholte.

"Was denn sonst?"

"Zunächst möchte ich wissen, wie Ihr es zu beweisen gedenkt, dass es diese Königstochter überhaupt gibt bei Euch an Bord."

"Ich kenne Euch nicht, Mylord, weiß also auch nicht, ob Ihr sie erkennen würdet. Aber vielleicht gibt es jemanden an Bord dieses Schiffes, der damit keine Probleme haben würde?"

"Wenn es jemand gibt, dann bin ich selber das, meine Liebe. Ich bin Lord Donald Cooper, persönlicher Berater Ihrer Majestät, der Königin von England. Ich war persönlich zugegen, als Philipp II. mit seinen Töchtern auf Staatsbesuch war."

"Dann kennt Ihr diese eine mit Sicherheit: Sie ist ziemlich aus der Art geschlagen, weiß sich absolut nicht wie eine Prinzessin zu benehmen und brachte es jetzt sogar fertig, ihrem Vater genügend Geld zu stehlen, um damit heimlich eine Überfahrt in die Neue Welt zu bezahlen, weil sie offenbar keine Lust hatte, einen osteuropäischen Fürsten zu heiraten. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ausgerechnet dieses Schiff englischen Freibeutern zum Opfer fallen würde. Und die haben sie rechtzeitig erkannt, sonst wäre sie jetzt genauso tot wie alle anderen auf dem Aussiedlerschiff."

Sir Donald hob die Augenbrauen.

"Ihr meint... Carla?"

"Es tut mir leid, Mylord, aber ich weiß ihren Namen nicht. Sie hat ihn mir nicht gesagt - und der Mann, der sie erkannt hat, konnte sich nicht mehr daran erinnern. Der König von Spanien scheint ja durchaus mehrere Töchter zu haben, und ob überhaupt eine dabei ist, die sich nach seinem Herzen entwickelt hat, weiß ich auch nicht."

Sir Donald Cooper hob die Schultern.

"Das klingt sehr ehrlich, was Ihr da sagt."

"Warum sollte ich Euch etwas vormachen? Es könnte doch sein, dass Ihr absichtlich mir einen falschen Namen nennt. Wenn ich so getan hätte, als würde ich ihn kennen..."

"Ich sehe schon: Ihr seid nicht nur ein ausgezeichneter Kapitän -—obwohl Ihr eine Frau seid -—sondern auch mit genügend Verstand gesegnet."

"Vielen Dank für das Kompliment, Mylord." Ironie schwang in diesen Worten mit. Es war das dritte Mal, da Jeannet sich verbeugte. "Aber jetzt möchte ich meinerseits auch wissen, wieso Ihr uns gar nicht zu versenken trachtet."

"Das werden wir in meiner Kajüte erörtern, nicht in aller Öffentlichkeit. Dabei werdet Ihr mir auch erklären, wie Ihr Euch das weitere Vorgehen vorstellt. Allerdings werde ich mich persönlich davon überzeugen, ob es diese Carla überhaupt an Bord Eures Schiffes gibt."

"Ihr wollt persönlich auf das Piratenschiff übersetzen, Mylord?", platzte der Erste Offizier heraus. "Bedenkt die Gefahr Mylord! Das sind... Tiere!"

"Dafür sprechen sie erstaunlich verständliches Englisch! Ich denke, die Gefahr ist nicht größer als sonst auch, wenn man sich auf See befindet." Sir Donald wandte sich Jeannet zu und fuhrt fort: "Aber noch ist es nicht soweit. Zuerst kommt das klärende Gespräch. Meine Liebe, wenn Ihr mir folgen wollt?"

"Etwa... allein?" Jetzt vergaß der Erste Offizier sogar die höfliche Anrede.

"Ganz gewiss sogar! Denn dann könnte ich ja gleich hier draußen und in aller Öffentlichkeit verhandeln, nicht wahr?"

"Sehr wohl, Mylord, wie Ihr wünscht. Aber ich werde veranlassen, dass Eure Kajüte gesichert wird. Die Gefangene wird nicht entrinnen können."

"Falls ich das überhaupt wollte", gab Jeannet spöttisch zur Kenntnis. "Aber wozu wäre ich dann überhaupt freiwillig und allein hergekommen? Um anschließend wieder alles zu tun, um zu fliehen? Was wäre daran logisch, Erster Offizier?"

Sie folgte Lord Cooper kopfschüttelnd und betrat hinter ihm dessen Kajüte.

Ein interessanter Mann, dieser Lord Cooper, dachte sie. Seine große, breitschultrige Gestalt gefiel ihr ebenso wie der Klang seiner Stimme. Wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten -—wer weiß, was dann gewesen wäre?, dachte sie.

Aber waren die Umstände für eine wie sie nicht immer falsch?

War jemand wie sie nicht eigentlich dazu verdammt, auf Liebe zu verzichten?

Und was den Gesandten und Berater der Königin anging, so standen sie einfach auf unterschiedlichen Ufern eines Ozeans. Da mochte das Timbre einer tiefen, leicht rauen Stimme sich noch so sehr in ihr Herz schmeicheln. Diese Stimme durfte dort keinen Platz finden.

Tritt das Feuer aus, solange es noch klein ist, überlegte die Piratenkapitänin.

So hatte sie es immer gehalten.

Es war wohl auch in Zukunft das Beste so.

*



Lord Cooper hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, und drehte sich zu seiner Gefangenen um. Den Degen hatte er immer noch kampfbereit in der Rechten.

Doch Jeannet war längst nicht mehr an der Tür.

Der Lord war ehrlich überrascht. Auch wenn es nur Sekundenbruchteile andauerte, bis er sich von dieser Überraschung erholt hatte, genügte es Jeannet völlig, ihm von hinten ihr scharfes Piratenmesser an die Kehle zu setzen.

Er lachte überlegen und machte eine Ausweichbewegung, die eigentlich unmöglich war aus der Sicht von Jeannet. Zumindest hätte er sich dabei den blanken Hals verletzen müssen.

Nichts dergleichen. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze und geriet außer Reichweite ihres Messers. Sie selbst aber blieb in Reichweite seines Degens.

Jeannet wich geschmeidig zur Seite hin aus.

Lord Cooper folgte ihr mit der Degenspitze und machte einen blitzschnellen Ausfallschritt.

Jeannet tauchte ab, glitt zur Seite. Lord Cooper wirbelte herum, ließ den Degen durch die Luft zischen, drehte eine Pirouette wie auf dem Eis, bewegte sich dabei ein gutes Stück seitlich, nahm erneut Grundposition ein...

Jeannet stand am Kartentisch.

Ihre Augen wurden schmal. Warum hast du ihn angegriffen? Um dich nicht deinen wahren Gefühlen stellen zu müssen? Um nicht zugeben zu müssen, dass dich in demselben Moment, als du diesen Mann zum ersten Mal sahst, aus heiterem Himmel ein Blitz getroffen hat!

Sie versuchte, diese Gedanken davonzuscheuchen.

Es waren Gedanken, die sie schwach zu machen drohten. Und Schwäche war etwas, das eine Piratenkapitänin um jeden Preis vermeiden musste. Nie wieder wollte sie schwach sein. Das hatte sie sich in dem Moment geschworen, als die fanatisierten Soldaten ihre Eltern ermordeten und sie ohnmächtig die Schreie hatte mitanhören müssen.

Sie atmete tief durch.

Er hätte dich gerade töten können!, ging es ihr durch den Kopf. Aber er hatte es nicht getan. Und das musste seinen Grund haben. Lag es an der ganz besonderen Nuance, die sie in seinem Blick zu entdecken geglaubt hatte? Ein Feuer, von dem sie ihren Blick nach Möglichkeit abgewandt hatte. Du Närrin! Hast du etwa Angst geblendet zu werden? Du hast genau erkannt, was in diesem Mann vor sich geht -—und das, was mit dir selbst los ist! Es hat keinen Sinn, die Wahrheit einfach zu leugnen und den Kopf in den Sand zu stecken.

"Ihr seid ein wahres Phänomen, Mylord", hörte sie sich selbst sagen und dachte dabei: Was redest du nur für dummes Zeug!

Lord Cooper hob die Augenbrauen.

"Danke, gleichfalls", sagte er.

"Es gibt wahrlich nur äußerst wenige wie uns beide."

"Haltet Ihr Euch denn für etwas Besonderes?"

"Das wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen, Mylord, nur bin ich gewissermaßen eine Kuriosität, genauso wie Ihr."

"Nun, Ihr als weiblicher Piratenkapitän und erfolgreiche Führerin einer so wilden Horde von Mordgesellen... Da kann Euch niemand widersprechen."

"Ich frage mich jedoch, Mylord, was einen Mann wie Euch dazu bringt, Lakai der Königin zu werden."

"Ich bin ihr Berater, nicht ihr Lakai."

"Worin liegt da der Unterschied?"

"Ich denke, es würde Euer Verständnis überfordern, Euch das erläutern zu wollen." Er stemmte die Arme in die Hüften. "Eine andere Frage interessiert mich viel mehr."

"So?"

"Was sollte dieses Spielchen vorhin? Wieso habt Ihr mich angegriffen?"

"Eine Gegenfrage: Warum habt Ihr mich nicht getötet?"

Er zuckte die Achseln.

"Ich weiß es ehrlich gesagt nicht so recht. Vielleicht hat mir einfach dieses Leuchten in Euren Augen gefallen! Ein Leuchten, das ich nicht verlöschen sehen wollte..."

Jeannet musste unwillkürlich schlucken.

Mein Gott, diese Stimme!, durchzuckte es sie. Dieses unverwechselbare Timbre...

Schauder überliefen ihren Rücken.

Einerseits war sie fasziniert von diesem Mann, aber andererseits machten ihr diese Gefühle auch Angst. Ich darf es nicht zulassen, es ist ein Weg ins Nichts, den du hier beginnst! -—Oh, doch! Gib dich diesem Gefühl einfach hin. Ein Dolch hilft dir jedenfalls ganz bestimmt nicht dagegen!

In ihrem Inneren tobte ein heftiger Konflikt.

Eine Schlacht der Gedanken und Gefühle, kompromissloser geführt als jedes Gefecht auf See, das sie je erlebt hatte.

Lord Cooper musterte sie von oben bis unten.

Er tat dies auf eine Weise, die Jeannet gefiel und ein wohliges, warmes Gefühl in ihrer Körpermitte erzeugte. Was ist es, was da in seinen Augen leuchtet? Nur das gewöhnliche, ausgehungerte Begehren, mit dem ein Mann, der über längere Zeit hinweg keine Frau zu Gesicht bekommen hat, das erste weibliche Wesen betrachtet, das ihm seit langem begegnet?

Jeannets Puls ging schneller als gewöhnlich.

Ihr Blick hing an Lord Coopers ruhigen Augen fest.

Augen waren Fenster der Seele, so sagte man.

Jeannet hätte liebend gerne einen Blick durch diese Fenster geworfen. Einen Blick ins Innere der Seele von Sir Donald Cooper.

Sir Donald lächelte.

"Wie dem auch sei", begann er, "ich wollte, ich hätte mehr Männer an Bord und in meiner Truppe mit Euren Fähigkeiten. Ein eventueller Krieg gegen Spanien wäre dann fast eine Kleinigkeit."

"Oh, ich weiß dieses Kompliment sehr wohl zu schätzen - und gebe es gern zurück, denn auch Ihr seid gewissermaßen nicht ohne."

Sie kam lächelnd auf ihn zu.

Lord Cooper entspannte sich und steckte sogar den Degen weg. Nicht, weil er jetzt Jeannet voll und ganz vertraute, sondern um ihr zu signalisieren, dass sie auch so keine Chance gegen ihn hatte.

Sie faltete die Hände wie zum Gebet. Und dann, während sie im Gänseschritt immer näher kam, entfaltete sie die Hände aufreizend langsam wieder, um ihm die leeren Handinnenflächen zu zeigen.

"Unbewaffnet, wie Ihr seht."

"Dann habe ich mir das Messer vorhin nur eingebildet?"

"Welches Messer, Mylord?"

Sie schluckte.

"Ihr wollt mich doch nicht zum Narren halten? Wo habt Ihr es verborgen?"

"Hier!"

Sie zog es aus dem Ärmel ihres weiten Hemdes hervor und schleuderte es.

Einen Fingerbreit neben Lord Coopers rechtem Stiefel blieb es zitternd im Holz der Bodenplanken stecken.

Lord Cooper hatte sich nicht bewegt.

Jeannets Gesicht wurde von fiebriger Röte überzogen.

Ihrer beider Blicke verschmolzen miteinander.

Sie sagte: "Ich hätte Euch mit dem Messer getroffen, glaubt mir."

"So?"

"Wenn ich gewollt hätte!"

"Das glaube ich Euch unbesehen, aber es hätte Euch nichts genutzt, denn man tötet mich nicht so leicht mit einem Messer, ohne dass ich noch in der Lage bin, meinen Mörder mit dem Tode zu bestrafen."

"Das hatte ich mir gedacht!" Sie lachte hell.

Das klang in seinen Ohren so weiblich, dass er unwillkürlich zusammenzuckte.

"Ihr seid eine ungewöhnliche Frau", erklärte er. Seine Augen wurden schmal dabei.

Sie forderte: "Sagt mir, Mylord, wieso Ihr mich zu Euch in die Kajüte gebeten habt! Wirklich nur, um unter vier Augen mit mir zu verhandeln? Worüber denn?"

Er wirkte entspannt.

"Da habt Ihr nicht ganz Unrecht, meine Liebe. Es wäre logischer gewesen, Euch an Bord als Gegengeisel festhalten zu lassen und mit Eurem Boot hinüberzurudern, um nach der Prinzessin zu sehen. Erst dann hätte jegliche Verhandlung einen Sinn ergeben."

"Aber?"

"Kein Aber. Ich weiß selbst nicht, wieso ich Euch in meine Kajüte gebeten habe."

"Wie bitte?"

Er lächelte entwaffnend. "Ihr habt schon richtig gehört."

Er bewegte sich jetzt seinerseits langsam auf sie zu.

"Was habt Ihr vor?", rief sie alarmiert.

"Angst? Das verstehe wer will! Keine Furcht vor tödlichen Waffen und Männern, die sie führen, aber wenn ich mich euch als Mann nähere..."

"Ich fragte: Was habt Ihr vor?"

"Keine Bange, ich habe nicht die Absicht, Euch zu vergewaltigen. Nicht nur deshalb nicht, weil ich mir vorstellen kann, daran wenig Freude zu finden."

"Zumal ich mich durchaus zu wehren vermag!", warnte sie vorsorglich.

"Nein, nicht nur deshalb nicht: Ich würde niemals einer Frau dergestalt Gewalt antun. Kein normaler Mann möchte das. Diejenigen, die dies bevorzugen, verachte ich."

"Aber Ihr seid ein... Lord Ihrer Majestät!"

"Was hat das denn damit zu tun?"

Er blieb unwillkürlich stehen, runzelte die Stirn und betrachtete sie forschend.

"Es war ein Lord - damals! Er kam mit seinen betrunkenen Soldaten und überfiel unser Lager. Ich war noch Kind und meine Eltern reisten mit einer Gaukler-Truppe umher. Niemand überlebte, außer mir. Das sind Dinge, die ich niemals wieder vergessen kann."

"Ein Lord überfiel das Lager mit seinen Soldaten? Aber wieso?"

"Weil sie glaubten, dass wir mit dem Satan im Bunde wären! Man hatte sie aufgehetzt. Dabei hatte das Handwerk, dass diese Truppe ausübte, nichts mit Hexerei, sondern nur etwas mit Geschicklichkeit zu tun. Harmlose Gaukler und Spaßmacher. Meine Mutter, die Schlangenfrau; mein Vater, der Jongleur, Kunstschütze und Messerwerfer. Die Schauspieler, dann die anderen Artisten aus allen Ländern Europas. Ich habe alles von ihnen gelernt, auch ihre Sprachen. Nur nicht die höfischen Sitten und Gebräuche. Die Schauspieler hätten mir auch dies beibringen können, aber es war das einzige, was mich nie interessierte."

Jeannet sprach weiter. Fast wie in Trance. Sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Lippen von allein bewegten. Die junge Frau sprach davon, wie sie in den Hafenstädten überlebt hatte, wie sie als blinde Passagierin an Bord eines Seglers gelangt und schließlich in die Hände von Piraten gelangt war, denen sie sich angeschlossen hatte. Sie erschrak plötzlich. "Mein Gott", murmelte sie fassungslos. "Wieso...? Wieso habe ich Euch das überhaupt erzählt? Noch nie zuvor habe ich auch nur ein Sterbenswörtchen zu einem anderen Menschen darüber..."

"Schicksal, meine Liebe", unterbrach sie der Lord. "Seht, es war Schicksal, dass Ihr dieses Schreckliche habt erleben müssen. Es war Schicksal, dass die Natur dafür sorgte, als Einzige zu überleben, weil sie Euch mit den entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet hat. Auch war es Schicksal, dass Ihr daraufhin Piratin wurdet - und hier und heute vor mir steht."

Er trat auf sie zu. Vorsichtig fasste er sie bei den Schultern. Sie ließ es geschehen.

"Ihr zittert ja!"

Sie schluckte.

"Was starrt Ihr mich so an?"

"Ich starre nicht, sondern ich betrachte diese wunderschöne Frau, die mein Herz rührt wie noch niemals zuvor eine andere. Ja, ich will Euch sagen, warum ich mit Euch allein sprechen wollte. Als ich Euch vorhin zum ersten Mal sah, da wusste ich, dass ich mich in Euch verliebt habe. Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und da habt Ihr wirklich geglaubt, ich könnte Euch Gewalt antun?"

"Woher sollte ich das wissen?", flüsterte sie.

"Macht mir nichts vor! Ihr wusstet es!"

"Ich? Nein!"

"Ich habe Euren Blick gesehen. Warum Eure Worte etwas anderes sagen, als Euer Herz, weiß ich nicht. Aber es sollte mich schon sehr wundern, wenn mein Gefühl mich da trügen würde!"

Es ist sinnlos, sich weiter dagegen zu wehren, ging es Jeannet durch den Kopf. Deine Zeit als Nonne unter schwarzer Flagge ist vorbei. Selbst wenn du ihm nie wieder begegnen solltest, wirst du immer an ihn denken müssen!

"War das Erlebnis damals wirklich so schlimm, dass Ihr nicht mehr fühlen könnt wie eine normale Frau?"

"Nein, damit habe ich keine Probleme, Mylord, aber mit Eurem Titel!"

"Weil er Euch an damals erinnert?"

"Ja - und auch daran, dass ich den Adel hasse - den englischen ganz besonders."

"Darum überfallt Ihr bevorzugt englische Schiffe?"

"Das hat andere Gründe: Habt Ihr je gesehen, wie die englischen Freibeuter mit den Menschen an Bord der Schiffe verfahren, die ihnen in die Hände fallen? Es sind dieselben Bilder wie damals. Dieselben Schreie, dieselben Grausamkeiten."

"Und deshalb müssen sie dafür büßen?"

"Ihr habt es erfasst, Mylord - und jetzt lasst mich wieder los, ehe ich handgreiflich werden muss."

"Wollt Ihr das wirklich?", fragte er ruhig und kam mit seinem Gesicht ganz nahe.

Nein!, schrie ihr Inneres. Nein, ich will nicht wirklich, dass du die Hände von meinen Schultern nimmst. Ganz im Gegenteil...

Sein Gesicht war jetzt so nah, dass sie seinen Atem riechen konnte. Das vernebelte gänzlich ihre Sinne. Und seine Augen, so unmittelbar vor ihr... Seine Lippen...

Sie genoss seine Nähe. Ein wohliges, kribbelndes Gefühl machte sich in ihrer Bauchgegend bemerkbar und erfüllte wenig später ihren gesamten Körper. Eine geradezu magische Anziehungskraft.

Ihre Hand glitt hinauf, berührte seinen Unterarm.

Sie sahen sich an und schwiegen dabei.

Er beugte sich etwas vor, berührte mit seinen Lippen ganz sanft die ihrigen, bis diese sich bereitwillig öffneten. Es war ein Kuss, der zunächst tastend und vorsichtig war, dann aber heftiger und fordernder wurde. Ihre Zungen trafen sich, rangen miteinander wie zwei Ringkämpfer, aber es war kein Kampf, sondern vielmehr eine heftige Liebkosung. Es ließ ihr Blut schier zum Kochen bringen.

Jeannet spürte etwas in ihrer Brust, was sie in dieser Intensität noch nie zuvor in ihrem Leben gefühlt hatte. Lord Cooper nahm sie in den Arm. Sie zog ihn zu sich heran und zitterte dabei wie Espenlaub. Denn er fühlte genauso wie sie. Wann jemals war er einer solchen Frau begegnet?

Mein Gott!, schrie es in Jeannets Gedanken. Die Mutter hatte ihr immer wieder erzählt, für jeden Menschen auf Erden würde es den passenden Partner geben. Wie zwei Hälften, die erst zusammen eben das Ganze bildeten. Die Schwierigkeit läge nur darin, jene andere Hälfte zu finden - und auch ja nicht den Augenblick zu verpassen, in dem man dieser verwandten Seele begegnete. Dabei hatte sie immer mit einem sehr zärtlichen Blick ihren Mann angesehen.

Heute erst, in diesem Augenblick, begriff Jeannet endlich, was die Mutter damals immer damit gemeint hatte.

Sie klammerte sich an den Lord wie eine Ertrinkende. Aber auch er umklammerte sie, als wollte er sie niemals wieder loslassen.

"Herr im Himmel", flüsterte er an ihrem Ohr. "Was hast du mit mir gemacht? Was ist das?"

Er versuchte, sich von Jeannet zu lösen, aber dazu fehlte ihm einfach die Kraft. Dieser starke, kampferprobte, bislang als unbesiegbar geltende Mann war so überwältigt von Jeannet, wie er es niemals für möglich gehalten hätte. Und er hatte keine Chance gehabt, sich dem rechtzeitig zu entziehen. Es sei denn, Jeannet hätte diese unbeschreiblichen Gefühle nicht in gleichem Maße erwidert.

Ihre Lippen fanden sich erneut zum Kuss. Es war, als wären sie beide dem Verdursten nahe.

Er spürte den federnden Druck ihrer festen Brüste, und das brachte ihn schier um den Verstand.

Sie spürte die Härte seiner Lenden und unterdrückte einen gellenden Schrei, den die aufschießende Lust ihr über die Lippen scheuchen wollte.

Sie verloren den Halt und polterten zu Boden wie zwei Kämpfende. Dort wälzten sie hin und her wie zwei sich balgende Kinder.

Er spürte ihre Bereitschaft und wünschte sich, es wäre kein Stoff zwischen ihnen. Aber dann hätte er sich von ihr lösen müssen, damit sie sich beide ihrer Kleidung entledigten. Es war ihnen unmöglich. Sie konnten nicht voneinander ablassen.

So ging minutenlang das wilde Spiel, bis es sanfter wurde, zärtlicher. Sie liebkosten sich gegenseitig, schauten sich verliebt und sehr, sehr tief in die Augen, fanden ganz allmählich wieder in die Wirklichkeit zurück.

Und plötzlich, für den Lord völlig unerwartet, warf Jeannet sich auf ihn. Gleichzeitig spürte er etwas Kaltes an seiner Kehle.

Es fühlte sich stumpf an. Also handelte es sich nicht um ein Messer.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass dieses sowieso immer noch im Boden steckte.

"Es ist eine Pistole", zischte sie. "Sie ist geladen."

"Du willst mich... umbringen?"

"Ja!"

"Aber wieso?"

"Weil ich nicht mehr denken kann, seit ich dich kenne. Du machst mich überaus schwach und angreifbar. Es tötet mich. Also muss ich vorher dich töten."

"Und dann wird alles besser?"

"Ja!"

"Was glaubst du, was es ist, das deine linke Brustseite berührt? Fühlst du es? Fühlst du den harten Gegenstand? Erinnert er nicht verblüffend an die Pistole in deiner eigenen Hand?"

Sie blickte hinab.

"Du hast eine Pistole auf mein Herz gerichtet?"

"Das wundert dich?"

"Nein, eigentlich nicht. Wir beide sind aus demselben Holz geschnitzt."

"Und wir lieben uns mit der vollen Inbrunst unserer Herzen."

"Aber es ist aussichtslos, Mylord!"

"Warum meinst du das?"

"Weil du mich töten willst - und ich dich. Was ist das für ein Liebespaar, das sich gegenseitig dermaßen nach dem Leben trachtet?"

"Unglücklich?"

"Was könnte es Schöneres geben, als zu lieben und geliebt zu werden?"

"Wenn es der Falsche ist..."

"Dabei bin ich fest überzeugt davon, du bist der Richtige, Mylord."

"Willst du denn dein Piratendasein aufgeben und mir zum Hofe Ihrer Majestät folgen?"

"Als Hofdame?"

"Ja!"

"Es würde mich zerstören. Du hast mich erlebt. Kannst du dir mich als Hofdame vorstellen, völlig aufgehend in der höfischen Verstellung? Ja, es würde alles zerstören, was meine Persönlichkeit ausmacht. Jeannet Witch würde aufhören zu existieren. Andererseits: Du bist ein Kämpfer, wie ich noch nie zuvor einen erlebt habe. Könntest du dir umgekehrt vorstellen, mich auf mein Schiff zu begleiten - für immer?"

"Nein! Ich bin Ihrer Majestät treu ergeben, bis in den Tod!"

"Siehst du, da haben wir das Dilemma: Wir stammen aus zwei völlig unterschiedlichen Welten. Wir sind uns körperlich so nah, dass es wehtut! Und dennoch sind wir weiter voneinander entfernt als jemals zuvor zwei Liebende."

"Und deshalb wirst du mich töten?"

"Ja!"

"Falsch! Wolltest du das tatsächlich, hättest du dich nicht mit so langen Vorreden aufgehalten. Du hättest es längst getan!"

"Und du?"

"Ich tötete dich nur, wenn du abdrückst. Glaube mir, dieser Sekundenbruchteil bis zu meinem Ableben würde mir genügen, dir ebenfalls eine Kugel ins Herz zu jagen."

"Du hast gar keine Angst vor dem Tod?"

"Wie sollte ich, habe ich ihn doch schon so oft vor Augen gehabt..."

Sie nahm die Pistole von seiner Kehle und richtete sich auf.

Jeannet steckte die Waffe zurück an ihren Ort.

"Willkommen in der Wirklichkeit, Mylord!", sagte sie.

"Ungern, äußerst ungern, meine Liebe!"

Auch der Lord steckte seine Pistole weg. Er schüttelte den Kopf und stand auf.

"Ich liebe Euch wie noch nie zuvor eine Frau. Wir sind füreinander geschaffen."

"Nein, Mylord, das Schicksal spielt uns beiden einen besonders makaberen Streich: Es führte uns zusammen, damit wir erkennen, wie sehr wir uns lieben - und gleichzeitig hat es dafür gesorgt, dass unsere Liebe weder Hoffnung zulässt, noch jemals Erfüllung finden wird."

Traurig senkte er den Blick.

"Ihr hättet mich besser getötet mit Eurer Waffe."

"Dann wäre ich jetzt ebenfalls tot."

"Das ist nicht gewiss."

"Ihr habt es mir angedroht."

"Mag sein." Er wandte sich ab, damit sie nicht in seiner Miene lesen konnte. Schließlich fuhr er in verändertem Tonfall fort: "Ich habe einen klaren Auftrag."

"Einen Auftrag?"

Er wandte sich ihr wieder zu.

"IHR seid dieser Auftrag, meine Liebe. Ich soll das Piratenschiff stellen, das Ihrer Majestät so große Sorgen bereitet. Aber ich soll es nicht versenken, sondern die Besatzung dazu bringen, künftig nur noch im Sinne Ihrer Majestät zu handeln."

"Nur noch Schiffe der Spanier angreifen? All diese Gräueltaten ungesühnt lassen oder sie sogar unterstützen, um nicht zu sagen, sie fördern?", rief sie ungläubig.

"Habt Ihr je die Taten jenes schrecklichen Lords gesühnt, der Eure Leute umbringen ließ, weil er sie für Hexen und Satansdiener hielt?"

Jetzt schlug sie ihrerseits die Augen nieder.

"Nein. Ich weiß noch nicht einmal mehr, wo es geschah. Ich war danach jahrelang wie von Sinnen. Als ich wieder daraus erwachte, um mein Leben endlich in die eigenen Hände zu nehmen, wusste ich nicht mehr zu sagen, wo ich hätte suchen müssen. Es trieb mich auch weg von der Insel, hinaus auf hohe See."

"So wurdet Ihr, was Ihr heute seid..."

"Ja, so ist es! Und dieser Schurke lebt immer noch, wie ich vermute." Sie lächelte warm. "Aber Ihr habt damit nichts zu tun, Mylord."

"Befreit Eure Gedanken von der Vergangenheit,. Das seid Ihr auch Euren Männern schuldig. Überlegt Euch meinen Vorschlag."

"Ja", flüsterte sie. Ein wahres Gedanken- und Gefühlschaos herrschte in ihr.

"Ich liebe Euch, Jeannet", sagte Lord Cooper.

"Ich dich auch", flüsterte sie.

Sie schauten sich tief in die Augen, aber dann rissen sie sich los davon.

Jeannet sagte: "Ich habe die Prinzessin an Bord. Ich schlage vor, sie euch zu übergeben, Mylord."

"Wie hast du dir das vorgestellt?"

"Ich werde sie an Bord der erbeuteten Galeone bringen lassen, weithin sichtbar festgebunden. Meine Kanonen werde ich auf sie richten, während wir uns zurückziehen. Sobald ihr uns folgt, muss sie sterben."

"Ja, das könnte gelingen. Es würde allen das Leben retten. Aber was dann?"

"Es wird sich ansonsten nichts ändern. Es tut mir leid."

"Kein Bündnis?"

"Nein!"

Sie verschränkte die Arme unter der Brust.

"Seid keine Närrin! Eure Leute folgen Euch aus einem einzigen Grund: Weil Ihr offenbar in der Lage seid, ihre Gier nach Gold zu befrieden!"

"Sehr richtig, Lord Cooper!"

"Und genau das könnte Euch ein Bündnis mit England garantieren!"

"So?"

"Zunächst einmal würde ich folgendes vorschlagen: Nachdem wir die Galeone an uns genommen haben, bekommt Ihr später -—zusätzlich zu den an Bord befindlichen Schätzen einen Teil des Erlöses aus der Abwrackung. Allein die Kanonen sind ein Vermögen wert und Ihr hättet sicherlich mehr Schwierigkeiten, sie gewinnbringend zu verkaufen als die Krone Englands!"

"Das ist gewiss!"

"Außerdem versuchen wir seit längerem, an die geheimen Seekarten der Spanier heranzukommen. Möglicherweise gelingt es uns in nächster Zeit. Mehr will ich dazu nicht sagen, aber mit diesen Karten wüsstet Ihr die Seerouten der Spanier und hättet keine Schwierigkeit, mehr Gold in Euren Besitz zu bringen, als Euer armseliger Segler zu fassen vermag."

"Es wäre ein weiteres Treffen nötig, nicht wahr?", fragte Jeannet.

"Ganz gewiss."

Sie traten aufeinander zu.

Ein Mann und eine Frau, die nur durch äußere Umstände daran gehindert wurden, das tu tun, was sowohl ihre Körper als auch ihre Seelen unmissverständlich von ihnen verlangten.

"Vielleicht wäre ein Bündnis wirklich sinnvoll", hauchte sie.

"Oh, ja..."

"Ein Bündnis zwischen Piraten und der Krone..."

"...und ein Bündnis zwischen Euch und mir!"

Er strich ihr über das Haar. Seine Hand glitt tiefer. Sie schloss die Augen dabei und genoss diese Berührung. Schließlich löste er die lederne Waffenschärpe. Sie glitt zu Boden.

Ein prickelnder Schauder überlief Jeannet. Eine Woge überwältigender Gefühle überspülte sie wie eine Welle, die sich in der Brandung an einem vorragenden Felsen brach. Er strich über ihren Hals. Begehren keimte in ihr auf, nahm von ihr Besitz. Das Herz pochte wie wild, so als müsste ihre Brust schier zerspringen. Ihr Atem beschleunigte sich.

"Mylord, Eure Leute...", murmelte sie.

"Keiner von ihnen wird es wagen, diesen Raum zu betreten, wenn ich es ihm nicht ausdrücklich gestattet habe", erwiderte Sir Donald Cooper.

Einen Moment noch zögerte sie, dachte an die möglichen Konsequenzen die aus dem erwuchsen, was sich jetzt anbahnte. Aber sie war nicht mehr in der Lage, nüchtern abzuwägen. Diese Welle der Gefühle riss sie einfach mit sich und Lord Coopers klarer Hinweis darauf, dass keiner seiner Männer es wagen würde, die Kajüte zu betreten, sorgte dafür, dass die letzte Barriere, das letzte Hindernis nun aus dem Weg geräumt war.

Es gab buchstäblich kein Halten mehr.

Sie schlang ihre Arme um ihn, presste ihn an sich.

Und wenn es nur dieser eine Augenblick ist, der uns bleibt, so will ich ihn doch bis zur Neige auskosten, ging es ihr durch den Kopf. Ein Gedanke, der wie ein grellweißer Blitz ihr Bewusstsein durchzuckte. Sie ließ ihn los, atmete heftig und löste eine Schnalle. Im nächsten Moment glitt auch sein Waffengurt samt des Degens zu Boden. Ihre Hände begannen über seinen Körper zu gleiten, zwischen den Knöpfen seines weiten Hemdes hindurch bis auf seine Haut.

Sie sanken zu Boden, nahmen sich nicht einmal die Zeit, sich sämtlicher Kleidungsstücke zu entledigen. Nur das Nötigste wurde entfernt. Hungrig liebkosten sie sich. Jeannet hatte trotz allem nicht das Gefühl, dass irgend etwas zu schnell geschah. Ganz im Gegenteil. Ihrem Empfinden nach hatte sie ein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick gewartet.

Sehr vorsichtig und zärtlich drang Lord Cooper in sie ein. Sie musste einen Schrei der puren Lust unterdrücken. Lord Cooper bedeckte sie mit Küssen, während sie gemeinsam dem überwältigenden Höhepunkt dieser ersten Vereinigung entgegenstrebten.

Als es soweit war, krallte sich Jeannet an seinen Schultern fest.

Sie wollte nicht, dass dieser Augenblick je aufhörte.

Halt dein Glück fest, dachte sie. Halt es fest, solange du kannst!

*



Bevor der Lord in das Boot zu Jeannet stieg, konnte John Kane, der Erste Offizier der SWORD FISH seine Bedenken nicht länger zurückhalten. Es platzte regelrecht aus ihm hervor: "Mylord, seid Ihr wirklich sicher, keinen Fehler zu begehen?"

"Nun, wie sollte es ein Fehler sein, erfolgreiche Verhandlungen abzuschließen?", fragte der Lord seinerseits, gespielt verwundert. "Der Kapitän der Piraten ist sich mit mir einig geworden. Und nun setze ich mit ihr über, um mich davon zu überzeugen, dass es sich wirklich um Prinzessin Carla von Spanien handelt in ihrer Gefangenschaft. Was könnte daran falsch sein?"

"Aber Ihr begebt Euch in Lebensgefahr. Sie werden Euch töten!"

"Und dann wird ihr Schiff untergehen müssen. Es wäre nichts für sie gewonnen. Warum also sollten sie das tun?"

"Mylord, lasst doch wenigstens ihren Kapitän als Pfand da für Euch!"

"Nein! Auch das wäre unsinnig. Wieso sollte ich unterwegs auf so reizende Gesellschaft verzichten? Ich meine, ich tue ihr ja nichts. Also wird sie auch nicht ihr Messer gegen mich wetzen müssen. Genauso wenig wie umgekehrt."

Damit war das letzte Wort gesprochen.

Kaum saßen sie im Boot, als sie sich auch schon gemeinsam in die Riemen legten. Jeannet ließ es sich natürlich nicht nehmen, sich nach Kräften zu beteiligen. Sie war schließlich keine der Hofdamen.

Kopfschüttelnd sah ihnen der Erste Offizier nach.

Allmählich wurde ihm bewusst, dass er sich ziemlich daneben benommen hatte. Er, als oberster militärischer Führer eines solchen Ausnahmeschiffes, direkt nach dem Lord, hatte die Fassung verloren.

In diesem Augenblick nahm er sich fest vor, dafür bei der Rückkehr des Lords um Bestrafung zu bitten. Falls es für den Lord überhaupt eine Rückkehr geben würde, denn Kane war nach wie vor sehr skeptisch. Obwohl ihm klar war, dass er bei weitem nicht alles wusste. Vor allem hatte er überhaupt keine Ahnung, welcher Art die Verhandlungen gewesen waren, die sein Lord hinter verschlossener Tür mit dem weiblichen Kapitän des Piratenschiffes geführt hatte. Er hatte nur erfahren, dass die spanische Prinzessin auf die Galeone gebracht werden würde, damit der Fregatte freier Abzug gewährt werden konnte...

Dass er nicht mehr wusste, war auch gut so, wie nicht nur Jeannet fand, sondern auch Lord Donald Cooper, was er unterwegs ihr gegenüber augenzwinkernd versicherte, als sie sich gemeinsam über die Bedenken des Ersten Offiziers amüsierten.

Doch auch die Piraten waren äußerst verwundert über die neue Sachlage. Sie konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, wieso sich die Dinge so entwickelt hatten, wie sie sich gegenwärtig ihnen präsentierten.

Jeder, der nicht unmittelbar etwas zu tun hatte, drängte sich an der Reling und konnte es kaum erwarten, bis Jeannet und Lord Cooper endlich mit dem Boot anlangten.

Bevor dies geschah, erhob Jeannet ihre Stimme und rief ihren Leuten zu: "Dies ist Lord Donald Cooper, persönlicher Berater Ihrer Majestät, der Königin von England. Somit repräsentiert er hier und heute England. Wir haben verhandelt - und nun kommen wir gemeinsam an Bord, um das Ergebnis unserer Verhandlungen mitzuteilen."

Sie rief es übertrieben theatralisch, was nicht gerade dazu beitrug, ihre Leute zu beruhigen. Sie waren eher noch irritierter denn zuvor.

Am liebsten hätten sie die Kanonen auf das Boot gerichtet und damit den Lord ins Jenseits gepustet. Aber damit hätten sie ihren eigenen Kapitän gefährdet. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass im gleichen Moment ungezählte Kanonenrohre auch auf ihr eigenes Schiff gerichtet waren. Eine einzige Salve konnte ihrer aller Ende bedeuten.

Endlich war das Boot heran, und seine beiden Insassen wurden von helfenden Händen an Bord gehievt.

"Wo ist die spanische Prinzessin?", fauchte Jeannet ihren Ersten Offizier an.

Der konnte nicht den Blick von Lord Cooper lösen und murmelte nur: "Ist bereits unterwegs, äh, Mylady. Ich konnte mir denken, dass der Lord mitkam, um sich von der Identität unserer Gefangenen zu überzeugen."

"Was starrt er mich so an?", beschwerte sich der Lord.

"Mit Verlaub, Mylord, aber ich erkenne Euch deutlich. Gewiss, Ihr seid es tatsächlich: Lord Donald Cooper, der persönliche Berater Ihrer Majestät."

"Einer ihrer persönlichen Berater", relativierte der Lord prompt. "Und auch Euch erkenne ich jetzt: Seid Ihr nicht Marschall Ben Rider?"

"Ihr könnt Euch tatsächlich an mich erinnern, Mylord?"

"Natürlich, denn Ihr habt mich damals sehr beeindruckt. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass Euer Fürst Euch als seinen besten und tapfersten Soldaten lobte. Aber was macht Ihr denn hier an Bord eines Piratenschiffes, um alles in der Welt? Wieso seid Ihr nicht an der Seite Eures Fürsten?"

"Ich bin in Ungnade gefallen, müsst Ihr wissen, Mylord. Am Ende musste ich fliehen, um nicht den Kopf zu verlieren."

"Es tut mir leid, dass Euch das Schicksal so hart getroffen hat", sagte Lord Cooper.

"Was wollt Ihr von mir?", gellte eine helle Stimme auf, die sich vergeblich bemühte, die englischen Wörter einwandfrei über die Lippen zu bringen. Ihr spanischer Akzent hörte sich fast wie eine Verhöhnung der englischen Sprache an. Aber sie konnte nichts dafür.

"In der Tat, die Prinzessin von Spanien!", stellte Lord Cooper fest.

"Wage er es nicht, mich mit Namen zu nennen. Diese elende Brut hier weiß ihn nicht und kann ihn daher auch nicht beim Aussprechen beschmutzen."

"Da geht Ihr aber sehr hart mit der Mannschaft dieses Schiffes ins Gericht, Eure Hochwohlgeborenheit. Schließlich haben diese Leute Euch das Leben gerettet."

"Höre ich Ironie in Euren Worten mitschwingen? Wollt Ihr mich etwa... auf den Arm nehmen, wie Bauerntölpel es auszudrücken belieben?"

Donald musste jetzt unwillkürlich lachen, obwohl er sich vorgenommen hatte, gegenüber der Prinzessin höfische Haltung zu üben.

"Verzeiht mir, Gnädigste, aber Eure Ruppigkeit ist wirklich zu köstlich."

"Ihr nehmt mich überhaupt nicht ernst! Niemand nimmt mich ernst! Kein Mensch!" Sie weinte auf einmal fast.

"Das ist nicht wahr", widersprach Jeannet ungewöhnlich sanft - ungewöhnlich für die Ohren ihrer Leute. "Ihr seid aus zwei Gründen enorm wichtig und könnt gar nicht anders als ernst genommen werden." Sie sagte die folgenden Worte so laut, dass sie jeder hören konnte: "Wir haben Euch aus den Fängen der Freibeuter befreit - und jetzt übergeben wir Euch der Obhut der englischen Krone, repräsentiert vom persönlichen Berater Ihrer Majestät, der Königin von England, innige Freundin Eures Vaters Philipp II."

"Und wie viel Lösegeld kriegt Ihr dafür?", fauchte die Prinzessin, absolut nicht mehr nahe der Tränen. Sie spuckte jetzt sogar äußerst undamenhaft vor Jeannet aus.

"Keinen Penny, meine Liebe", beeilte sich der Lord zu versichern. "Ihr werdet mir aus reiner Hochachtung gegenüber der spanischen Krone übergeben."

"Wer's glaubt..."

"Oh, doch, meine Liebe, auch wenn es sich ein wenig kompliziert gestalten wird, worum ich Euch jetzt schon gnädigst um Verständnis bitte."

"Kompliziert? Wieso? Soll ich etwa in dieses wackelige Boot dort unten? Soll ich etwa selber mich hinüberrudern?"

"Wenn es nur das wäre..." Lord Cooper wechselte ein Blick mit Jeannet. Diese nickte nur unmerklich. Er fuhr fort, dass es jeder hören konnte: "Ihr werdet von unseren gemeinsamen Freunden hier drüben auf der erbeuteten Galeone festgebunden. Nicht als Gefangene, sondern gewissermaßen... damit Euch kein Leid zustößt, indem Ihr womöglich aus Versehen von Bord fallt."

"Ihr macht Euch lustig über mich!", klagte sie ihn an. "Ihr macht Euch lustig über eine Prinzessin von Spanien. Das wird schlimme Folgen für Euch haben. Ich werde es meinem Vater berichten. Er wird Euch und der ganzen englischen Brut den Krieg erklären, verlasst euch darauf."

"Nun, erst einmal müsstet Ihr dazu zurück in Madrid sein ", meinte Donald ungerührt. Dann fuhr er mit seinen Beschreibungen fort: "Sobald Ihr auf der Galeone seid, zieht sich die Fregatte unter der Führung von Kapitän Jeannet zurück. Sie hat dann ja hier nichts mehr zu tun. Meine eigenen Leute werden so lange warten, bis die Fregatte von dannen gesegelt ist, ehe sie sich Euch widmen und zunächst nach London bringen wird, zu Ihrer Majestät, der Königin von England."

"Jetzt verstehe ich endlich!" Sie wandte den Kopf. "Du Kanaille!" Das war an die Adresse von Jeannet gerichtet. "Du lieferst mich aus, um das Schiff und das Leben der Besatzung zu retten!"

"Ist das denn so falsch?", wunderte sich Jeannet ehrlich. "Da seht Ihr, wie wichtig Ihr seid - und wie ernst Ihr genommen werdet: Fügt Euch in Euer Schicksal, und Ihr rettet das Leben von all diesen guten Männern."

"Und vor allem dein eigenes, nicht wahr?"

"Das gewiss auch, obwohl Euch das nicht zu gefallen scheint."

Die Umstehenden grinsten amüsiert - und erleichtert zugleich, weil sie soeben erfahren hatten, dass die schlimmste Gefahr so gut wie vorüber war, der sie sich jemals ausgeliefert gesehen hatten.

"Ihr werdet nicht allein drüben auf der Galeone festgebunden, Prinzessin von Spanien", mischte sich wieder Lord Cooper ein. "Ich werde selbstverständlich mit zugegen sein. Keine Sekunde werde ich von Eurer Seite weichen, wie es meine Pflicht ist als treuer Untertan meiner Königin, der Freundin von Spanien."

Die Prinzessin blinzelte irritiert. Sie schaute ein paarmal von einem zum anderen. Dann murmelte sie kleinlaut: "Auch das verstehe ich jetzt endlich: Ihr habt Euer eigenes Leben riskiert, nur um mich zu befreien? Deshalb seid Ihr hergekommen, sozusagen als mein Held?"

"Nun, das wäre zuviel der Ehre, Prinzessin", mischte sich Jeannet ein. "Immerhin hat niemand hier vor, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Er ist unser lieber Gast - genauso wie Ihr. Würden meine Gäste sich jetzt selber nach achtern bemühen? Wir ziehen die Galeone herbei, um alles vorzubereiten."

"Ist gut", sagte die Prinzessin, plötzlich erstaunlich kooperativ. Doch sie setzte noch hinzu: "Unter einer Bedingung allerdings!"

"Bedingung?", wunderte sich Jeannet.

"Habe ich mit Euch gesprochen, Kapitän? Ich sah dabei eindeutig den Lord an."

"Welche Bedingung denn?", wunderte auch dieser sich jetzt.

"Ja, ich komme mit nach London, aber nur, wenn Ihr die Auslieferung an Spanien möglichst lange hinauszögert!"

"Nun, es liegt keineswegs in meiner persönlichen Macht..."

"Ihr könntet doch zumindest ein gutes Wort bei der Königin für mich einlegen, nicht?"

"Ja, das kann ich fürwahr versuchen. Gut, ich verspreche es hiermit hoch und heilig."

"Vielleicht gelingt es mir sogar, überhaupt in England zu bleiben? Das wäre gut für mein Englisch, und so könnte man das meinem Vater gegenüber auch begründen. Er kann ja persönlich kommen und nachsehen, wie gut es mir in London bei Hofe geht. Ja, das wäre eine gute Idee: Er weiß mich in London wohlbehütet, ich mache ihm auch keinen Ärger mehr - und er kann mich so oft besuchen, wie er nur mag. Schließlich ist er ja mein Vater, nicht?"

Der Lord und Jeannet wechselten abermals einen Blick.

"Sie - sie meint es tatsächlich ernst", sagte Jeannet verblüfft.

Lord Cooper schwenkte geistesgegenwärtig auf die neue Richtung ein, ehe das königliche Gör erneut widerspenstig wurde und alles nur noch unnötig erschwerte.

Lord Donald Cooper setzte sogar noch eins drauf: "Ich bin persönlich überzeugt davon, dass Ihre Majestät, die Königin von England, hocherfreut sein wird über diesen Vorschlag. Wisset doch, Ihre Majestät ist Jungfrau und wird es nach eigenem Bekunden bis zu ihrem Lebensende bleiben. Sie wird ergo niemals eine Tochter haben - und Euch gewiss sofort ins Herz schließen, allein bei Eurem anmutigen Anblick."

Die Prinzessin fiel tatsächlich darauf herein. War sie wirklich so naiv, oder hatte sie nur soviel Furcht vor dem Leben bei Hofe ihres Vaters, dass sie sich in jede noch so absurde Träumerei flüchtete.

Schließlich hatte sie sogar versucht, heimlich über den Atlantik vor ihrem Vater zu fliehen!

Widerstandslos ließ sie sich jedenfalls gemeinsam mit Lord Cooper nach achtern führen.

Ehe die beiden zur Galeone überwechselten, wandte sie sich noch einmal Kapitän Jeannet "Witch" zu.

"Ich danke Euch, meine Liebe. Man nennt Euch die Königin der Meere - und ich kann nur sagen: Nie zuvor sah ich eine Würdigere für diese Aufgabe. Ihr könnt versichert sein, dass ich mich als Prinzessin von Spanien trefflich in diesem Berufszweig auskenne!"

Sie lächelte verschmitzt, deutete eine gekonnte Verbeugung an und fügte hinzu: "Eure Majestät!"

Auch Jeannet musste schmunzeln, aber ihr Gesicht erstarrte, als sie der hochgewachsenen Gestalt Lord Coopers nachschaute, wie er hinüberstieg, um wieder aus ihrem Leben zu verschwinden.

Sie musste unwillkürlich schlucken.

Liebster, auf hoffentlich bald, dachte sie wehmütig und wandte sich ab, ehe ihr die Tränen kamen. Nein, sie konnte sich keine Tränen leisten. Nicht vor den Augen ihrer Besatzung. Deshalb verschwand sie lieber in Richtung ihrer Kapitänskajüte und warf keinen einzigen Blick mehr hinüber zu Lord Donald Cooper.

Auf bald!, dachte auch dieser im selben Moment, als hätte er die Gedanken seiner großen Liebe gelesen.

Doch bevor Jeannet ihre Kajüte erreicht hatte, wehte ihr ein Ruf nach.

Sie verhielt im Schritt und wandte sich um.

Es war die Prinzessin von Spanien. Sie rief: "Ich heiße übrigens Carla! Merkt Euch diesen Namen für immer: Prinzessin Carla von Spanien! Falls Ihr jemals Hilfe braucht, die ich euch gewähren könnte, zögert nicht, sie auch in Anspruch zu nehmen. Vergesst es nicht: Carla, die Prinzessin von Spanien!"

Nein, dachte Jeannet bewegt: Auch dich werde ich wohl niemals vergessen!

Dann wandte sie sich endgültig ab und betrat ihre Kajüte, um hinter sich für die nächsten Stunden die Tür fest zu verriegeln.

Niemand sollte etwas bemerken von ihrer tiefen Trauer über den Abschied!


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