Читать книгу Drei große Historical Sagas: Meeresfluch und Hansehaus - Alfred Bekker - Страница 15

Das Piraten-Nest

Оглавление


Joao, der entlaufene portugiesische Sträfling stand zur Zeit am Steuer der WITCH BURNING. Er war in seiner Zeit in Jeannets Mannschaft zu einem guten Steuermann geworden, der jedem Seemann auf einem englischen oder spanischen Schiff das Wasser hätte reichen können. Die Gewässer des Kanals hatten ihre Tücken. Schon so mancher hatte sie unterschätzt, dessen Schiff jetzt auf dem Meeresgrund lag. Aber mit der WITCH BURNING schien es das Schicksal im Augenblick gut zu meinen. Eine beständige Westbrise gestattete ihr geradewegs Kurs auf die Inseln im Niemandsland zwischen England und Frankreich zuzuhalten. Das Gesindel beider Küsten sammelte sich auf diesen kleinen Eilanden, die das Klima begünstigt, die Politik aber ins Abseits gestellt hatte. Subtropische Bedingungen herrschten auf Guernsey und Jersey, den größeren dieser Inseln. Darüber hinaus gab noch ein paar kleinere Inseln. Manche von den Seefahrern spöttisch als Felsen, die aus dem Wasser schauten, verspottet.

Eine dieser Inseln war New Antikythera.

Eine Bucht auf dieser Insel diente der WITCH BURNING seit langem als Hafen. Außerdem befand sich das Schatzversteck von Jeannets Mannschaft dort, bewacht durch einige Getreue.

Die Inselbevölkerung bestand aus dahergelaufenem Gesindel aus aller Herren Länder. Verstoßene, Gesetzlose. Manche, die ein schweres Schicksal oder die Ungerechtigkeit eines Fürsten zu Geächteten gemacht hatte. Andere, die einfach nur ihrer Habgier gefolgt waren und sich nun als Verbannte auf einem Felsen mitten im Meer wiederfanden, weil überall sonst nur das Schlimmste auf sie wartete. Hin und wieder gab es auch Bewohner, die es gewagt hatten, ihre Gedanken allzu frei zu äußern und dies vielleicht sogar noch schriftlich niederzulegen. Verurteilte Sträflinge waren ebenso unter den Insulanern wie entlaufene Sklaven.

Aber sie alle wussten, wie wichtig es für sie war, dass die WITCH BURNING regelmäßig ihre Felsen als Heimathafen anlief. Denn durch die Piraten kam ein gewisser Reichtum unter diesen dahergelaufenen Haufen von Ausgestoßenen.

Jeannet Harris stand etwa drei Meter neben Joao. Sie lehnte an der Reling, blinzelte der Sonne entgegen und gab sich ihren heimlichen Träumen hin, während sie dem Spiel von Sonnenlicht und Wolken zusah. Ein einzigartiges Schauspiel aus Farben und Schatten.

Jeannets Gedanken drehten sich nicht um die fette Beute, die die WITCH BURNING gemacht hatte. Die Schätze an Bord waren ihr ebenso gleichgültig geworden wie das Schicksal der Prinzessin, die Jeannet an die Seeleute ihrer königlichen Majestät Elizabeth übergeben hatte.

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Kommandanten der Engländer.

Um Lord Donald Cooper, diesen einzigartigen Mann. Vergeblich hatte sie schon versucht, sein Gesicht, sein Bild, seinen Geruch und den Klang seiner Stimme endlich aus ihren Bewusstsein zu verbannen. Zumindest zeitweise. Schließlich war sie die Kommandantin eines Piratenschiffs, was ständige Geistesgegenwart erforderte. Außerdem war ihrem wachen Verstand durchaus klar, wie töricht jeder Gedanke an eine noch so flüchtige Verbindung zwischen ihr und diesem Lord war.

Er -—ein Berater der Königin. Sie -—eine dahergelaufene Kriminelle, der die Königin das Privileg gestattete, ihre Feinde zu bekämpfen. Der Gegensatz war unvorstellbar.

Und doch sprachen ihre Gefühle eine ganz eindeutige Sprache.

Vom ersten Moment, da sie Lord Cooper gesehen hatte, war das so gewesen. Mit Schaudern erinnerte sie sich der übermächtigen Welle wilder, unbezähmbarer Gefühle, die sie unaufhaltsam in ihren Strudel gerissen hatten. Einen Strudel, aus dem es kein Entrinnen gab.

Alles andere wäre eine Illusion gewesen.

Es gibt kein Zurück, dachte sie. Und vor allem hat es keinen Sinn, an dieser Tatsache irgendetwas leugnen zu wollen. Du hast dich verliebt. Du bist dadurch so schwach wie nie zuvor. Verwundbar wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. So verwundbar, wie du eigentlich nie wieder sein wolltest. Seit damals...

Jeannet atmete tief durch.

Diese Gedanken zerrissen sie förmlich.

Sie wusste einerseits, dass der Weg, auf den sich ihre Gefühle begeben hatten, kein gutes Ende nehmen konnte.

Auf der anderen Seite sah sie allerdings auch keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.

Es war einfach sinnlos.

Das Geräusch eines Stiefelschritts auf den rutschigen Planken der WITCH BURNING ließ Jeannet unwillkürlich zusammenfahren.

Es war niemand anderes als Ben Rider, der jetzt neben sie an die Reling trat. Schon eine ganze Weile war ihr aufgefallen, dass der Erste Offizier und Stellvertreter der Piratenanführerin ziemlich schlecht gelaunt war.

Zunächst hatte Jeannet dies mehr oder minder ignoriert.

Aber insgeheim war ihr durchaus klar, dass das auf die Dauer kein Weg war.

"Es ist ein fauler Handel den wir mit Lord Cooper und seiner Elizabeth-treuen Brut eingegangen sind", meinte Rider.

"Ihr seid nicht einverstanden, Marschall?"

"Ich sage nur, was ich denke. Und ich bin nicht der Einzige an Bord, dem das nicht gefällt."

"Einer muss die Entscheidungen treffen. Das ist auf jedem Schiff so, Ben."

"Ich weiß, Jeannet."

"Und auf diesem Schiff bin ich das!"

"Auch das ist richtig."

"Ihr wärt im übrigen auch der Erste, der es wagt, dies anzuzweifeln!"

"Das würde ich nie tun. Aber ich mache mir meine Gedanken."

"Meine Gedanken gelten der Zukunft der WITCH BURNING und ihrer Besatzung. Sie gelten der Frage, wie man man möglichst leicht möglichst viel Beute machen kann, um uns allen ein sorgenfreies Leben in Freiheit zu ermöglichen."

"Ist das wirklich das Einzige, was in Eurem Kopf herumspukt, Jeannet?", fragte Rider schneidend.

Eine sanfte Röte überzog Jeannets Gesicht.

Im Augenblick wollte sie wild aufbrausen und ihrem Ersten Offizier gehörig den Kopf waschen. Was bildete er sich ein? Was in ihrem Kopf oder ihrem Herzen vor sich ging, das ging ganz allein sie selbst etwas an und sie war keinesfalls bereit dazu, diese Dinge mit ihrer Besatzung zu diskutieren.

Im letzten Augenblick besann sie sich.

Ich muss aufpassen, ging es ihr durch den Kopf. Höllisch aufpassen. Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, als hätte ich vielleicht die Interessen der Mannschaft leichtfertig an die Engländer verkauft, nur weil mir der Blick ihres Kommandanten wohlige Schauer über den Rücken jagte...

Bisher waren ihre Männer ihr treu ergeben gewesen.

Bereit, für ihren Kapitän durch die Hölle zu gehen.

Aber Jeannet wusste nur zu gut, dass sich so etwas im Handumdrehen ändern konnte, wenn die Mannschaft ihre Aussichten auf Beute in Gefahr gebracht sahen. Da war ein Punkt, in dem kein Pirat mit sich spaßen ließ. Dabei spielte es auch keine Rolle, welchen Rang er in der Mannschaft einnahm.

"Seid versichert: Das Beuteglück wird uns noch freundlicher sein, wenn wir die Duldung Englands genießen. Auf die wenigen englischen Schiffe, die wir bisher aufbrachten, können wir Zukunft gut und gerne verzichten. Zumal die Spanischen ohnehin zumeist die lohnendere Prise darstellen!"

"Dieser Handel um die Prinzessin gefällt mir auch nicht, Jeannet!"

"Hatten wir denn eine andere Wahl?"

"Man hat immer eine Wahl, Kapitän."

"Und Ihr meint, ich habe die falsche getroffen?"

Ben Rider zögerte.

Er schüttelte schließlich den Kopf.

"Nein, das wollte ich damit nicht sagen."

"So, was wolltet Ihr denn sagen?"

"Dass mir dieser Lord Cooper nicht gefällt. Ich kann Euch nicht sagen warum, aber er war mir vom ersten Augenblick an unsympathisch."

Jeannet hob die Augenbrauen. Allein die Erwähnung seines Namens brachte einen Schwall von Gefühlen und Erinnerungen aus ihrem tiefsten Inneren an die Oberfläche. So unsagbar kurz war ihre Begegnung nur gewesen, aber Jeannet hatte das Gefühl, dass sich von dem Moment an, da sie Sir Donald Cooper zum ersten Mal begegnet war, sich ihr Leben verändert hatte. Von nun an, das spürte sie, würde sie es in ein davor und danach einteilen. Das war unumstößliche Tatsache. Es war einfach nicht zu ändern, so wie man die Macht der Naturgewalten nicht ändern konnte. Zuerst hatte sie ja versucht, sich dagegen zu wehren, aber es lag auf der Hand, dass das vollkommen sinnlos war.

So als wollte ein Segler den Wind ignorieren.

Andernfalls Narren handelten so -—und Jeannet hatte das Gefühl, in den ersten Momenten ihres Zusammentreffens sich tatsächlich auch wie eine Närrin verhalten zu haben.

"Ich kann bei nüchterner Betrachtung nichts finden, was uns gegen den Lord einnehmen könnte", sagte Jeannet.

Bei nüchterner Betrachtung, echoten ihre eigenen Worte in ihr wieder. Es klang wie ein Hohn.

"Wir sollten ihm nicht zu sehr vertrauen, Jeannet."

"Das hatte ich auch nicht vor", widersprach sie.

Ein dünnes Lächeln spielte um Ben Riders aufgesprungene Lippen.

"Na, dann ist es ja gut!"

Jeannet Witch wandte sich an Joao.

"Wann werden wir New Antikythera erreichen?", fragte sie.

"Vorausgesetzt die Brise, mit der wir segeln hält an, schätze ich, dass wir Morgen früh dort sind."

Jeannet atmete tief durch.

"Gut", sagte sie.

Ben Rider verengte Augen.

Er wirkte nachdenklich.

"Es war ein Fehler, nur die Schätze von Bord der Galeone zu holen", meinte er. "Einige spanische Kanonen hätten wir vielleicht noch an Bord der WITCH BURNING unterbringen oder ein paar unserer alten Geschütze gegen sie austauschen können. Bei einigen unserer Kanonen habe ich nämlich schon seit längerem Sorge, dass sie uns bei nächster Gelegenheit buchstäblich um die Ohren fliegen."

"Ich hoffe, du irrst dich", antwortete Jeannet, die in erster Linie froh darüber war, dass Ben Rider das Thema gewechselt hatte.

*



In der Nacht lag Jeannet lange schlaflos in ihrer Kabine. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lord Donald Cooper vor sich. Er wollte ihr einfach nicht aus dem Sinn gehen, so sehr sie sich auch bemühte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Es war ihr klar, dass sie darauf acht geben musste, dass all das, was sie erreicht hatte, ihr nicht unter den Händen zerrann. Und das eines Traums wegen.

Und dabei lag ein wichtiger Tag vor ihr!

Die Rückkehr nach New Antikythera.

Die Bewohner der Insel erwarteten sehnsüchtig die Ankunft ihres Schiffes. Schließlich brachten ihre Leute ihr erbeutetes Gold auf die Insel, trugen es zu den Dirnen und zweifelhaften Händlern.

Aber auch wenn die Insel in der Vergangenheit ein sicherer Hafen für die WITCH BURNING gewesen war und für die nächsten Jahre wohl keine Gefahr bestand, dass sich Frankreich oder England näher für diese Inseln interessierten, so wusste Jeannet doch nur zu gut, dass sich in derartigen Piratennestern die Stimmung über Nacht ändern konnte.

So wie der Wind im launischen Kanal.

Alles hängt vom Erfolg bei der Jagd nach Beute ab, ging es ihr durch den Kopf. Die Treue deiner Männer ebenso wie der Schutz, den dir dein Hafen bietet.

Jeannet schloss die Augen.

Sie hörte ein paar Stimmen an Deck, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde.

Soll das alles sein?, ging es ihr durch den Kopf. Jagd nach Beute? Wie ein Tier? Oder wird da irgendwann auch nochmal etwas anderes kommen. Ein Leben mit mehr Menschlichkeit und Liebe?

Sie schalt sich selbst eine Närrin.

Konnte sie nicht zufrieden mit dem Erreichten sein? Unter den gegebenen, für sie sehr schwierigen Umständen, hatte sie es weit gebracht. Jeder Gedanke an eine weit entfernt liegende Zukunft war unsinnig. Der Augenblick zählte. Man musste die Chancen des Moments nutzen, wenn man dazu in der Lage war.

Jeannet schlief schließlich doch ein. Sie fiel in einen unruhigen von Träumen erfüllten Schlaf, der nicht einmal ihren Körper wirklich zur Ruhe kommen ließ. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und immer wieder schien die Schlafende heftig nach Atem zu ringen.

Sie wusste, dass sie hin und wieder im Schlaf sprach.

Es hing wohl mit den albtraumhaften Erinnerungen an den Tod ihrer Eltern zusammen. Aber auf der WITCH BURNING schlief sie in einer verriegelbaren Kapitänskabine, sodass keiner ihrer Männer davon je etwas mitbekommen würde. Und das war auch gut so. Neben Erfolglosigkeit gab es nämlich noch etwas anderes, was man sich in ihrer Position nicht erlauben durfte.

Schwäche.

Für sie als Frau galt das in ganz besonderem Maß.

Aber in dieser Nacht waren es keine Albträume, die sie in den Schlaf verfolgten.

Diesmal war es ein Traum, dem sie sich nur allzu gern hingab. Ein Traum, von dem sie sich wünschte, er würde nie enden und mehr sein, als nur die Widerspiegelung ihrer Sehnsüchte.

Lord Cooper stand vor ihr.

In seinen Augen glitzerte es.

Das herausfordernde Lächeln um seinen Lippen ließ sie schlucken.

Jeannet trug nicht ihre einfachen, an praktischen Gesichtspunkten ausgerichtete Piratenkluft, sondern eines jener Kleider, die sich an Bord der spanischen Galeone befunden hatten und eigentlich der Tochter König Philipp II. von Spanien gehörten.

"Ich hätte nicht gedacht, dass hinter Eurer bis dahin groben Schale doch ein ansehnlicher Kern steckt", äußerte Lord Cooper.

"So habt Ihr mich offensichtlich unterschätzt, Mylord."

Sie drehte sich herum. Das Kleid machte diese Bewegung mit geringer Verzögerung mit. Es saß perfekt. Nie zuvor hatte Jeannet so etwas getragen. Aber sie fühlte sich wohl darin und fand, dass es zu ihr passte.

Lord Cooper nahm sie bei der Hand und zog sie sanft aber sehr bestimmt zu sich heran. Nahe genug, um seinen Herzschlag zu spüren. Seine Hand strich zärtlich über ihr wildes, ungebändigtes Haar. "Wenn Ihr eine richtige Lady werden wollt, dann müsstet Ihr aber noch lernen, was man damit anfangen kann", sagte Lord Cooper.

"Bedaure, aber das ist wahrscheinlich ein hoffnungsloser Fall."

"Wie kommt Ihr zu dieser irrige Annahme, Jeannet?"

"Diesen Rotschopf hat noch niemand gezähmt! Und wahrscheinlich bin ich schon auf Grund dieses naturgegebenen Handicaps vollkommen ungeeignet dazu, eine Lady zu spielen..." Sie blickte an sich herab. "Da hilft es auch nichts, wenn ich die Kleider einer spanischen Prinzessin trage!"

"Kleider, die Euch vortrefflich stehen."

"Und wenn schon! An seiner Natur kann niemand etwas ändern!"

"Wenn Euch die Natur dabei im Wege ist, eine Lady zu sein, so müsste dies auch auf unsere Königin Elizabeth zutreffen, den Ihr Haar ist genauso rot wie Eures! Also redet nicht solchen Unsinn!"

"Wenn Ihr mich wirklich für eine Lady halten würdet, so käme es Euch nie in den Sinn, so mit mir zu reden, Mylord! So redet jemand wie Ihr doch nur mit Angehörigen niederer Stände. Mit Mägden, Bettlerinnen oder Huren, aber nicht mit Frauen, die Ihr als Euresgleichen anerkennt!" Sie seufzte. "Ich habe es doch gleich gewusst."

"Was wollt Ihr gewusst haben?"

"Dass jemand wie Ihr nicht über seinen Schatten zu springen vermag."

"Und wie ich das kann."

Lord Cooper zog sie an sich und bevor sie etwas zu erwidern vermochte, hatten seine Lippen ihre verschlossen. Ein Kuss, der sie zunächst besänftigte. Ein angenehmes Prickeln durchlief ihren gesamten Körper. Ein wohliger Schauder überlief sie und sie fragte sich, ob es am Ende gar nur ihre eigene Unsicherheit war, die so viel Unsinn hatte reden lassen. Aber Lord Cooper schien sich nicht weiter darum zu kümmern, oder es ihr gar nachzutragen.

Ihrer beider Lippen fanden sich zunächst zu einer vorsichtigen, tastenden Berührung, dann wurde der Kuss fordernder, leidenschaftlicher. Jeannet spürte, wie eine Hitzewallung sie überkam. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie schlang ihre Arme um seinen muskulösen Hals, schmiegte sich gegen ihn und fühlte, dass auch sein Herzschlag sich offensichtlich stark beschleunigt hatte.

Atemlos lösten sie sich voneinander.

Jeannet schluckte

Lord Cooper war es, der als erster von ihnen die Sprache wiederfand.

"Für mich seid Ihr mehr Lady, als so manche, der diese Anrede von Rechts wegen zusteht", sagte er mit einem fast feierlichen Tonfall.

"Ihr seht nicht auf mich herab -—mich, eine dahergelaufene Kriminelle aus der Gosse?"

"Wie könnte ich!"

"Ich entstamme einer Familie von Gauklern. Einfachen Leuten, nicht einer langen Reihe ruhmreicher Ahnen!"

"Die habe ich auch nicht vorzuweisen, Jeannet! Schließlich war es die Königin, die mich erst vor relativ kurzer Zeit in den Adelsstand erhob. Und das allein auf Grund meiner Leistungen und Fähigkeiten -—nicht auf Grund hoher Geburt oder guter Beziehungen!"

Erneut zog Lord Cooper sie an sich.

Und Jeannet ließ es gerne geschehen.

Sie genoss die Berührungen seiner großen, starken und doch sehr zärtlichen Hände, die sie wie in einem Griff hielten. Als Kapitänin der WITCH BURING war sie ständig dazu gezwungen, sich stark zu geben. Auch dann, wenn es in ihrem Inneren ganz anders aussah. Sie musste ihre Gefühle verstecken und ihren Männern eine Mischung aus Zuversicht und Furcht einflößen, um diese wilde Horde von Seeräubern führen zu können. Stets war sie dabei auf der Hut gewesen, um nicht das Schicksal so vieler anderer Piratenanführer teilen zu müssen, die sich irgendwann als Futter für die Haie im Wasser wiedergefunden hatten, wenn ihnen nicht gar Schlimmeres widerfahren war.

Aber in den Armen dieses Mannes hatte sie keinen anderen Wunsch, als sich einfach hinzugeben. Sie brauchte nicht stark zu sein und hatte doch die Gewissheit, dass ihre Schwäche niemals ausgenutzt werden würde. Sie konnte einfach sie selbst sein, ohne sich verstellen zu müssen. Und ohne, dass irgendeine Gegenleistung von ihr erwartet wurde. Erneut trafen sich ihre Lippen zu einem feurigen Kuss. Eine Welle von Gefühlen überlief sie und versetzte ihr Inneres in ein einziges Chaos. Begehren war ebenso darin enthalten wie Liebe und...

...Furcht!

Was ist es, das dich in Angst versetzt? Was ist es, das dich daran hindert, dich hinzugeben und dich bei eurem ersten Zusammentreffen beinahe dazu veranlasst hätte, diesen Mann zu töten?

Sie verstand sich selbst nicht.

Zu viele Widersprüche stritten in ihrem Inneren. Verschiedene, teils vollkommen gegensätzliche Gefühle kämpften um die Vorherrschaft.

Glaubst du in deinem tiefsten Inneren, dass er dich verletzen könnte? Dass er genau erkennt, was mit dir los ist und es ausnutzt?

Vielleicht musste man dieses Risiko einfach eingehen.

Dieses Risiko und auch andere Gefahren, die mit einer unmöglichen Liebe, die allen Konventionen widersprach, nun einmal einhergingen.

Sir Donald fasste Jeannet bei den Schultern, drehte sie wortlos herum und begann damit, ihr Kleid zu öffnen. Äußerst geschickt tat er dies.

Wenig später glitt es zu Boden. Lord Coopers Hände strichen sanft über ihren Körper. Wohlige Schauer überliefen sie und erfüllten sie mit einem kribbelnden, aufregenden Gefühl.

Jeannet konnte ihrerseits auch nicht an sich halten. Sie drehte sich herum und begann am Waffengurt des Lords zu nesteln. Der Gurt sank zu Boden. Bald darauf war auch sein mächtiger, muskulöser Oberkörper frei.

Sir Donald deutete auf das Bett in der Kapitänskajüte.

"Euer Lager ist nicht gerade groß... Währt Ihr dennoch bereit, es mit mir zu teilen?"

"Von Herzen gern!"

Wenig später sanken sie gemeinsam in den Kissen nieder.

Es war der Ruf des Ausgucks, der Jeannet aus ihrem Traum erwachen ließ. Einem Traum, der ihretwegen eine Ewigkeit hätte dauern können.

Erneut schnitt der Ruf des Ausgucks in ihr Bewusstsein.

Schrill und rücksichtslos.

Männerstimmen waren jetzt an Deck zu vernehmen.

Die Botschaft, die in all dem lag, war eindeutig.

Es war der Morgen eines neuen Tages angebrochen und die WITCH BURNING hatte New Antikythera erreicht. Der Ausguck rief es jetzt zum dritten Mal vom Mastkorb herab und musste damit den letzten Mann an Bord geweckt haben.

Jeannet versuchte die Erinnerung an den Traum, den sie gehabt hatte, so gut es ging festzuhalten. Aber das meiste davon zerrann bereits in den ersten Augenblicken des Erwachens, wurde zu etwas nicht mehr greifbaren. Etwas, von dem ihre Ahnung sagte, dass es dagewesen war, dass sich aber wie Parfum einfach verflüchtigte.

Jeannet schlug die Decke zur Seite und zog sich schnell an.

Mochte ihre Begegnung auch nur ein Traum gewesen sein, so blieb doch die entscheidende Frage: Wie weit würde sie gehen? Wie viel wäre sie bereit für diese im wahrsten Sinn des Wortes verrückte Liebe aufzugeben?

Alles, durchschoss es sie, während sie sich den Waffengurt umschnallte und den Sitz der Degenschärpe überprüfte.

Die Unbedingtheit dieses Gedankens erschreckte sie.

Es war unbegreiflich.

Sie hatte eine nur sehr kurze Begegnung mit einem Mann gehabt, der schon Kraft seines Amtes nicht ihr Geliebter sein durfte und war bereit dazu, mit ihm zu ziehen, wohin immer er ging und alle Konsequenzen zu tragen, die damit zusammenhingen.

Eine Frage ist noch unbeantwortet, dachte sie. Wie steht es mit ihm? Wäre Sir Donald zu denselben Opfern bereit wie du? Oder hat er dich längst schon vergessen und wendet sich gerade einer um so vieles edleren und kultivierteren Mätresse in London zu? Einer Frau, die weiß, wie man sich kleidet, wie man Kleider schnürt und wie man Schmuck anlegt oder sich frisiert! Von gepflegter Unterhaltung einmal ganz zu schweigen!

Diese Gedanken machen sie fast rasend.

Verzweifelt versuchte Jeannet sie fortzuwischen. Sie einfach aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, doch das wollte ihr nicht gelingen. Zu bohrend war die Frage, die dahinter steckte und nach einer Antwort verlangte.

Liebt er mich? Liebt er mich genauso, wie ich ihn?

Bei ihrer viel zu flüchtigen Begegnung hatte sie nicht den Hauch eines Zweifels daran gehabt.

Nein, das ist nicht die ganze Wahrheit, korrigierte sie sich. In Wirklichkeit würdest du ihn doch auch lieben, wenn er sich von dir abwenden würde und nichts mit dir zu tun haben wollte.

An ihrer Kabinentür klopfte es.

"Wer ist da?", rief Jeannet betont streng, betont herrisch und nach Autorität heischend, so als ob sie erst mühsam aus jener Rolle zurückfinden musste, die sie in ihrem wunderbaren Traum gespielt hatte. Einer Rolle, die mit ihrem wirklichen Leben nichts gemein hatte.

"Hier ist Ben Rider", sagte eine sonore Stimme.

"Was gibt es?"

"Wir erreichen unseren Hafen!"

"Irgendwelche Anzeichen für die Anwesenheit fremder Schiffe?"

"Nein, Kapitän. Weder andere Freibeuter noch Engländer, Franzosen oder gar Spanier."

Jeannet öffnete die Tür.

Ben Rider musterte sie.

Nach kurzer Pause des Schweigens sagte der Erste Offizier der WITCH BURNING: "Die Leute auf der Insel warten schon auf uns und unser Gold."

"Die Leute freuen sich immer, wenn wir kommen", erwiderte Jeannet. "Schließlich halten wir die Insel gewissermaßen am leben. Und ich denke, dass die Insulaner klug genug sind, um zu begreifen, dass sie mit jedem anderen Freibeuter-Kapitän weniger gut fahren würden!"

Jeannet trat an Ben Rider vorbei, dann den schmalen Flur entlang bis zu jener kurzen Treppe, die hinauf an Deck führte.

Der Klang von Riders sonorer Stimme hielt sie zurück.

"Jeannet!"

Sie drehte sich herum.

"Was ist noch?"

"Schlagt ihn Euch aus dem Kopf, Kapitän!"

"Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Marschall!"

"Oh, doch. Ihr wisst es so gut wie ich! Ich spreche von Lord Cooper, diesem Halsabschneider Ihrer Majestät."

"Ben! Habt Ihr es wirklich nötig, Lord Cooper zu beleidigen?"

"Ich mache mir Sorgen um Euch und das Schiff. Und letztlich damit auch um mich und meine Anteile!"

"Ah, daher weht der Wind!"

"Jeannet! Es war nicht zu übersehen, wie Ihr diesen Mann angesehen habt!"

"Sind Blicke schon eine Sünde? Ist es nicht mehr erlaubt, sich an dem zu freuen, was die Natur hat wachsen lassen? Ben, Ihr wollt mir doch nicht im Ernst erzählen, dass alle Seeleute an Bord der WITCH BURNING ihre Augen verschließen, sobald wir in den Hafen einlaufen, wo die grellen Freudenmädchen auf sie warten!"

"Natürlich nicht!"

"Aber für mich sollen andere Regeln gelten, als für euch alle? Nur, weil ich eine Frau bin?"

"Damit hat das nichts zu tun!"

"Dann erklärt es mir!"

Ben Rider atmete tief durch. "Ihr wisst, dass ich eine Frau sehr liebte, die ich nicht haben konnte."

"Das erwähntet Ihr nicht nur einmal, Ben!"

"Sie war die Frau eines Adeligen und für mich so unerreichbar wie für Euch dieser Lord! Und darum sage ich Euch aus einer leidvollen Erfahrung: Quält Euch nicht länger als unbedingt nötig. Akzeptiert besser, dass es nichts als Wahnsinn ist, was da in Euch brennt. Ein Wahn, der Euch zugrunde richten kann, wenn Ihr Euch nicht rasch genug von ihm distanziert."

Stimmengewirr erscholl jetzt von Deck.

Jeannet wandte sich zu gehen und sagte: "Ich glaube, dass ich längst bewiesen habe, dass ich mich sehr gut unter Kontrolle habe. Genau wie ihr, Ben."

"Jeannet..."

"Und damit ist das Thema erledigt."

"Aber..."

"Ein für allemal. Haben wir uns verstanden?"

Ben Rider ballte unwillkürlich die Fäuste. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Selbstverständlich akzeptierte er die Autorität seines Kapitäns. Dass dieser eine Frau war, spielte dabei keine Rolle. Aber in diesem Fall war er deutlich anderer Ansicht als seine Kommandantin. Niemand, der ihn auch nur ein bisschen kannte, konnte daran einen Zweifel hegen.

"Aye, Kapitän", sagte er schließlich gepresst und auf eine Weise, die Jeannet nicht gefiel.

Reicht es nicht, dass Lord Cooper mein Seelenleben vollkommen durcheinandergewirbelt hat?, ging es Jeannet durch den Kopf. Sie stieg die wenigen Stufen empor, klappte die Luke hoch und trat an Deck.

Ein Morgen wie aus dem Bilderbuch.

Die Sonne kroch über den Horizont. New Antikythera tauchte aus einer grauen Nebelbank hervor. Wie ein Eiland, das aus einer anderen, magischen Welt hervortrat.

Jeannet lächelte unwillkürlich.

Sie kehrte immer wieder gerne an diesen Ort zurück.

Wenn es so etwas wie Ruhe und Frieden für sie gab, dann konnte sie es allenfalls dort finden.

Auf dieser kleinen Insel im Niemandsland.

Harry Davis, ein grobschlächtiger Ire mit einer schwarzen Filzklappe über dem rechten Auge stand zurzeit am Ruder der WITCH BURNING. Er war in Limerick zum Tode verurteilt worden, weil er während einer Wirtshausschlägerei drei Männer getötet und anschließend ihre Geldbörsen an sich genommen hatte. Allerdings hatte man ihn in Abwesenheit verurteilen müssen, denn Hary Davis war rechtzeitig geflohen.

"Wo ist Joao?", rief Jeannet, während sie sich suchend nach dem Portugiesen umsah.

"Er ist noch nicht an Deck!", rief ihr einer der anderen Männer zu.

"Dann seht zu, dass er geweckt wird und hier erscheint." Sie wandte sich Harry Davis zu. "Nichts gegen dich, Harry. Aber wenn wir in die Bucht von New Antikythera einfahren, möchte ich, dass der Portugiese am Ruder steht!"

"Aye!", nickte der Ire.

Es war ihm zwar deutlich anzusehen, dass er alles andere als begeistert von dem Gedanken war, für den Portugiesen das Ruder räumen zu müssen, aber Joao war nun einmal der deutlich erfahrenere Steuermann und die Bucht hatte ihre Tücken. Einige Felsenriffe warteten nur darauf, einfahrende Schiffe längsseits mit ihren scharfen Felskanten aufzuschlitzen. Keine Macht der Welt konnte ein Schiff dann noch retten.

Jeannet bemerkte, das Harry Davis mit einigen der anderen Männer leise redete. Davis verstummte sofort, als er den Blick seiner Kapitänin bemerkte. Jeannets untrüglicher Instinkt sagte ihr, dass hier irgend etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen.

Harry Davis verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Ein verkrampftes Lächeln, das ebenso als Zähneblecken eines Raubtiers gesehen werden konnte.

Rider war inzwischen auch an Deck getreten.

Er blickte schweigend zur Insel.

Ein ganz besonderer Ausdruck zeigte sich nun in seinen Zügen. Einen Ausdruck, den Jeannet nur selten bei ihm bemerkt hatte. Traurigkeit lag darin. Und Wehmut. Er hadert immer noch mit der Vergangenheit, wurde es Jeannet klar. Seine große Liebe hatte der Erste Offizier der WITCH BURNING nie vergessen können. Auch wenn er sich noch so sehr darum bemühte, die Vergangenheit endlich für immer hinter sich zu lassen.

Sie würde ihm wie ein Schatten überall dorthin folgen, wo es ihn hinzog.

Jeannet fragte sich, ob Lord Cooper für sie vielleicht irgendwann einmal eine ähnliche Rolle spielen würde.

Alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken.

Aber er ließ sich nicht so einfach hinwegwischen, wie sie sich das gewünscht hätte.

Joao kam jetzt an Deck.

Er wirkte etwas verschlafen.

Harry Davis machte aber bereitwillig für ihn Platz.

"Komm her, Portugiese. Ich will mir ansehen, wie du in die Bucht hineinkommst, damit ich es endlich auch so gut kann wie du!", sagte er voll ehrlicher Bewunderung für die seemännischen Fähigkeiten des anderen.

Über das Gesicht des Portugiesen glitt nur ein mattes Lächeln.

Er wusste genau, wie wichtig seine Rolle an Bord war.

Manchmal ließ er das die anderen spüren.

Jeannet sorgte allerdings dafür, dass er dies nicht übertrieb und damit die anderen unnötigerweise provozierte.

Die WITCH BURNING erreichte nach kurzer Zeit die Bucht von New Antikythera. Es handelte sich um einen natürlichen Hafen. Allerdings musste man die Tücken kennen, die in der Einfahrt auf den unbedachten Seefahrt lauerten. Riffe und Sandbänke, die für den unbedachten Seefahrer zur Todesfalle werden konnten. Aber der Portugiese kannte den sicheren Weg und wusste genau, wie weit er von den Uferregionen Abstand halten musste. Sicher lenkte er die WITCH BURNING zwischen den schroff aufragenden Felsmassiven hindurch, die den Eingang des Naturhafens bildeten. Erst danach war der Blick auf die namenlose Ortschaft frei, die von den meisten einfach nur der Hafen genannt wurde. Am Strand und an einigen weit in die Bucht hinausragenden Landungsstegen lagen Dutzende von Fischerbooten. Manche von ihnen waren notfalls seetüchtig genug, um damit die Küsten Frankreichs oder Südenglands zu erreichen. Allerdings galt das nur bei gutem Wetter. Und die Verhältnisse im Kanal waren für ihre Launenhaftigkeit berüchtigt.

Die Häuser waren zum großen Teil aus Holz. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Pinienwälder der Insel waren dem Bau diese wilden Siedlung bereits zum Opfer gefallen. Schnell hochgezogene Bretterbuden waren kennzeichnend für diesen Ort der Ausgestoßenen und außerhalb der Gesetze zweier Länder stehender Menschen, die hier versuchten, ihr Dasein zu fristen.

Es waren Bauten, denen man ansah, dass sie ausschließlich unter praktischen Gesichtspunkten gestaltet worden waren. Für die Feinheiten bürgerlicher oder adeliger Architektur war auf New Antikythera kein Platz.

Aber das galt auch für Dutzende von kleinen Hafenstädten an den Küsten der Normandie oder der englischen Südküste. In vieler Hinsicht glich der Hafen diesen Ortschaften, von denen die Einwohner manch abgelegenen Küstennestes sich unter Umständen sogar ein Zubrot durch Strandpiraterie verdiente.

All das verband New Antikythera mit vielen anderen Orten an den Kanalküsten.

Allerdings gab es keine Kirche in diesem Hafen.

Und das war tatsächlich ein besonderer Umstand.

Jeannet gab die Anweisung, die WITCH BURNING in der Mitte des Hafenbeckens ankern zu lassen. Man durfte auf keinen Fall das Risiko eingehen, zu nah an die Uferregion zu gelangen und dadurch das Risiko eingehen auf Grund zu laufen.

Am Ufer sammelten sich bereits Schaulustige und winkten den Piraten zu.

Hier und da wurden auch Salutschüsse aus Musketen abgefeuert. Munition war etwas, woran auf New Antikythera keinerlei Mangel bestand. Schließlich gab es ständig Nachschub von den gekaperten Schiffen, die mehr als genug davon mit sich führten. Manchmal so viel, dass Jeannet aus Sicherheitsgründen darauf bestand, einen Teil der Beute zu versenken. Schließlich bestand immer die Gefahr, dass Schießpulver ungewollt explodierte und ein Schiff dann buchstäblich in Stücke riss.

Nachdem die WITCH BURNING geankert hatte, wurden die ersten Boote zu Wasser gelassen, um die Besatzung an Land zu bringen. Einige besonders ungeduldige, die es nicht abwarten konnten, eines der hiesigen Freudenmädchen zu besuchen, sprangen einfach über Bord und legten die letzten Meter bis zum Ufer schwimmend zurück, anstatt darauf zu warten, einen Platz auf einem der Boote zu bekommen.

Ein paar wenige Unglückliche allerdings hatten die wenig dankbare Aufgabe das Schiff zu bewachen.

Man würde sie später selbstverständlich ablösen, aber bis dahin würde sich die Ungeduld bei manchem von ihnen ins schier Unerträgliche steigern. Schließlich hatten sie viele Wochen lang keinen Fuß mehr auf festes Land gesetzt, geschweige denn die Annehmlichkeiten eines Hafens genossen.

Jeannet teilte sich selbst diesen Unglücklichen zu.

Ihr stand im Moment ohnehin nicht der Sinn nach dem Trubel, der den Hafen in Kürze bis in den hintersten Winkel erfassen würde. Es war immer dasselbe. Sobald die WITCH BURNING in der Bucht von New Antikythera eintraf, begann eine Verwandlung. Innerhalb kürzester Zeit veränderte sich dieser Ort und wurde zu einem Hafen voller Leben, voller Musik, Spelunken und betrunkener Seeleute.

Jeannet sah den ersten Booten nach, die dem Ufer entgegenstrebten.

"Ihr seid Euch sicher dass Ihr hierbleiben wollt?", fragte Ben Rider.

"Vollkommen sicher", erwiderte Jeannet abwesend.

"Ich hoffe nicht, dass Ihr Euch weiterhin unnötige Gedanken macht."

"Meine Gedanken lasst am besten meine Sorge sein", verteidigte sie sich. Sie konnte die Einmischungen des ehemaligen Marschalls einfach nicht länger dulden. Es wurde längst schon Zeit, dass sie diesen Dreistigkeiten einen entschiedenen Riegel vorschob. Aber im Moment ist nicht der richtige Augenblick, erkannte sie. Sie hatte in diesen Dingen einen sechsten Sinn. Dieser Instinkt für Macht hatte ihr bislang das Leben und ihre Position gerettet. Kein Piratenkapitän kam ohne diesen Instinkt aus, zumindest nicht, wenn er irgendwann lebendig seine Schätze genießen wollte.

"Ihr braucht meinetwegen keinerlei schlechtes Gewissen zu haben", sagte Jeannet an Ben Rider gewandt. "Und was meine Gedanken angeht -—so sind sie frei wie der Wind, Ben!"

"Es mag Euch ein Trost sein, daran zu glauben, Jeannet. Tatsächlich ist Freiheit eine Illusion. Eine Chimäre, der der eine oder andere nachjagen mag, ohne sie je zu erreichen."

"Ich nehme an, Ihr wisst, wovon Ihr sprecht?"

Ben Rider schluckte.

"Oh, ja", murmelte er. "Das weiß ich sehr gut. Besser, als Ihr glaubt, Jeannet."

Jeannet sah dem Marschall noch nach, wie er mit einem der letzten Boote Richtung Ufer aufbrach.

Er selbst hat seine unmögliche Liebe zu dieser Adeligen nicht ausleben können und jetzt gönnt er niemand anderem dieses Glück, ging es Jeannet durch den Kopf. In gewisser Weise hatte sie sogar Mitleid mit ihrem Ersten Offizier. War er nicht viel schlechter dran als sie?

Jeannet hatte schließlich die bislang unwiderlegbare Illusion, dass sie und Lord Cooper sich wiedersehen würden. Die Illusion von irgendeinem, jetzt noch im Nebel liegenden Weg des Schicksals, der sich vor ihnen eröffnen würde.

Ben Rider hingegen hatte sämtliche Hoffnungen auf ein Schicksal, dass es ihm erlaubt, mit der Frau seines Herzens zusammen sein zu dürfen, längst begraben müssen. Das war die bittere Realität.

*



Es war um Mitternacht. Der Mond stand hoch und hell als gelbliches Oval am Nachthimmel. Jeannet stand an der Reling der WITCH BURNING und blickte zum Ufer hinüber. Der Lärm von wilden Feiern und lautstarkem Vergnügen drang zu ihr herüber. Am Strand brannten Lagerfeuer, in den Häusern die Öllampen. Außer Jeannet Harris befanden sich nur noch drei Männer an Bord der WITCH BURNING. Keiner dieser Männer war glücklich darüber und das Versprechen der Kapitänin, sie hätten dafür garantiert in der nächsten Nacht Gelegenheit für einen Landgang, konnte sie nicht wirklich entschädigen.

Die erste Nacht im Heimathafen war einfach etwas, was man mit nichts vergleichen konnte.

Jeannet war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen und hatte gerne mit den Männern am Feuer gesessen.

Aber im Moment stand ihr einfach nicht der Sinn danach.

Darüber hinaus musste in dieser Nacht noch etwas sehr Wichtiges erledigt werden. Etwas, was den Schutz der Dunkelheit erforderte. Jeannet hatte vor, den Großteil der Schätze von Bord bringen zu lassen. Jeannet dachte an die Zukunft. Die Beute von der Galeone ihrer königlichen Majestät Prinzessin Carla von Spanien sollte zumindest zum Teil in die Schatzkammer gebracht werden, die Jeannet angelegt hatte. Eine Schatzkammer, die eine Versicherung für schlechtere Zeiten darstellte. Schließlich würde sie ihre Männer auch dann bei Laune halten müssen, wenn die Aussicht auf Beute einmal geringer war. Und irgendwann -—auch wenn es ihr im Moment noch sehr schwer fiel, sich das vorzustellen -—gab es ja vielleicht auch einmal ein Leben, dass nicht auf den rutschigen Planken der WITCH BURNING und unter schwarzer Totenkopfflagge geführt wurde.

Es war eigenartig.

Seit sie Lord Cooper begegnet war, hatte sie zum ersten Mal seit langer Zeit überhaupt an diese Möglichkeit gedacht. Das konnte kein Zufall sein. Du machst dir nur dumme Illusionen!, schalt sie sich. Wir hatten eine kurze, heftige Begegnung, aber was wird sein, wenn er wieder in England ist und all diese wohlkultivierten Frauen ihn umgeben? Frauen, die wissen, wie man sich schön macht, wie man sich nach der Mode kleidet oder wie man eine interessante Konversation führt...

Jeannet seufzte.

Aber hatte er ihr gegenüber nicht gestanden, ebenso wie sie zu empfinden? Konnte ein derartiger Gefühlsblitz wirklich vollkommen einseitig gewesen sein? Jeannet hielt das für unwahrscheinlich. Das hätte ich gemerkt, dachte sie.

Außerdem gehörte zur Liebe auch Vertrauen.

Wir werden es sehen, dachte sie.

Wenn wir uns das nächste Mal treffen...

Jeannet lehnte gegen die Reling und ein sanfter Wind strich über die Bucht. Das Meeresrauschen betäubte die Sinne und entführte ihre Gedanken in das Reich ihrer Träume. Sie konnte Lord Coopers Stimme hören, wie er ihren Namen flüsterte. Eine Ahnung jenes prickelnden Gefühls durchflutete ihren Körper, das sie bei ihrer ersten Berührung empfunden hatte.

"Es ist Wahnsinn, Donald", flüsterte sie.

"Ein Wahn, dem ich mich gerne hingebe, Jeannet", war seine Antwort. Sie sah seine Augen vor sich, die sie mit einem warmen Blick betrachteten. In diesem Blick lag allerdings noch mehr. Ein Blitzen, ein Glühen, eine Ahnung von loderndem Feuer, das unter der gelackten Oberfläche dieses Mannes verborgen lag. Urgewalten, wie sie bisweilen aus Vulkaninseln hervorbrachen und sich dann unaufhaltsam ihren Weg bahnten. Wer sollte sich diesem Lavastrom zu widersetzen vermögen? Nicht einmal das Schicksal selbst, geschweige denn irgendwelche Konventionen von Standesdünkel und Politik.

Nebel war im Verlauf der Nacht aufgezogen. Wie eine Wand umgaben sie die Insel und hatten sich wie ein immer enger werdender Ring um New Antikythera herumgelegt. Inzwischen war auch die Bucht davon betroffen.

Der Wind ließ nach, trieb nach die ersten dicken Schwaden auf den Strand vor dem Hafen zu, ehe er fast vollkommen aufhörte.

Der Mond wurde zu einem verwaschenen Fleck.

Jeannet hatte kaum bemerkt, wie die Zeit vergangen war.

Zu sehr war sie in ihrer Traumwelt gefangen gewesen.

In ihren Gedanken war sie weit entfernt. Bei Lord Cooper, dem Mann, von dem sie wusste, dass sie ihn bis an ihr Lebensende niemals würde vergessen können, was auch geschah und welche Barrieren sie auch immer trennen mochten.

Die Männer, die an Bord geblieben waren, bemerkten recht rasch ihre innere Verfassung und dass es besser war, sie jetzt nicht anzusprechen.

Am Heck des Schiffes hatten sie sich neben das Ruder gesetzt und spielten Karten. Jeannet nahm ihre Stimmen kaum noch wahr, aber ein einziges Geräusch aus dem Nebel heraus genügte, um sie aus ihren Gedanken herauszureißen. Von einer Sekunde zur nächsten war sie wieder vollkommen gegenwärtig.

Ihre Hand ergriff instinktiv den Griff des Degens.

Schauerlich, was mir in den Jahren auf See so alles zur Gewohnheit wurde, ging es ihr durch den Kopf.

Das Geräusch, das sie gehört hatte, wiederholte sich.

Ruderblätter wurden ins Wasser geschlagen. Die Dolden ächzten dabei.

Wenig später tauchte eines der Beiboote aus dem Nebel auf.

Ben Rider befand sich darauf, zusammen zwei anderen Männern. Albrecht Schneider aus Nürnberg war der größere. Er war tatsächlich Schneider gewesen, bevor er sein Glück als Landsknecht in den Diensten verschiedener Armeen versucht hatte. Später war er bei den oberitalienischen Kriegen der Habsburger in spanische Gefangenschaft geraten und zum Ruderdienst auf einer Galeere verurteilt worden. CONCEPCIÓN hatte dieses Schiff geheißen, bevor eine als Jeannet Witch bekannte Piratin sie gekapert hatte. Albrecht Schneider hatte sich Jeannets Mannschaft angeschlossen. Er war einer jener Männer, denen sie absolut vertraute.

Bei dem anderen Mann handelte es sich um einen grauhaarigen Mann aus Yorkshire. Er hieß Randolph Pitt. Man hatte ihn zu Unrecht wegen Diebstahls verurteilt, woraufhin ihn eine lange Flucht bis in einen verwunschenen irischen Hafen namens Port Kavanaugh geführt hatte, der als Piratennest verschrien war. Dort war er an Bord der WITCH BURNING gegangen und seitdem Mitglied der Mannschaft. Auch ihm brachten sowohl Jeannet als auch Ben Rider großes Vertrauen entgegen.

Albrecht und Randolph waren außer Rider und Jeannet die einzigen an Bord, die die Lage des Schatzverstecks genau kannten.

"Ich denke, dass ich früh genug zurückgekehrt bin", rief Ben Rider zu der an der Reling stehenden Jeannet Witch hinauf.

"Ich hoffe, Ihr hattet Euren Spaß", erwiderte Jeannet.

Albrecht und Randolph grinsten.

Womit genau sich die beiden auf der Insel die Zeit vertrieben hatten, wollte Jeannet gar nicht so genau wissen. Die Hauptsache war, dass sie ihr hier und jetzt zur Verfügung standen.

"Beginnen wir!", forderte sie.

*



Das Aufladen der Schätze, die man von Bord der spanischen Galeone geholt hatte, dauerte allein schon eine gute Stunde.

Immer wieder trugen die Männer schwere Kisten mit Gold und Geschmeide herbei und ließen sie mit einem Flaschenzug hinab gleiten. Zwei Rettungsboote wurden benötigt. Sonst wäre das Gewicht zu groß geworden.

Albrecht und Randolph ruderten. Das zweite Boot war im Schlepptau.

Der Wasserstand war in den vergangenen Stunden stark gesunken. Die Ebbe zog das Boot hinaus in Richtung der Felsen, die den Ausgang der Bucht bildeten.

Den Männern erleichterte dies ihre Ruderarbeit.

Denn bei den Felsen lag ihr Ziel.

Es gab dort eine Grotte, die Jeannet als Versteck diente. Man konnte nur bei niedrigstem Wasserstand mit einem Boot in sie hineinfahren und musste sich dann sehr beeilen, um all das zu tun, was dort zu erledigen war. Denn sobald der Wasserstand wieder stieg wurde es gefährlich. Normalerweise lag der Eingang zur Grotte nämlich unterhalb des Wasserspiegels.

Während die beiden Boote auf die Felsmassive zusteuerten, wurde geschwiegen. Das Rauschen des nahen offenen Meeres vermischte sich mit dem Schlagen der Ruderblätter. Die WITCH BURNING war bald nur noch ein schattenhafter Schemen im Nebel. Ein Umriss, der an Scherenschnitte erinnerte, wie man sie auf so manchem städtischen Jahrmarkt kaufen konnte.

Vom Schiff aus konnte man die Boote vermutlich überhaupt nicht mehr sehen. Verschluckt von der grauen Nebelsuppe. Aber selbst bei gutem Wetter war vom Ufer der in der Bucht ankernden Schiffe aus nicht sichtbar, wenn ein Boot die Einfahrt zur Grotte benutzte. Ein Betrachter an Land hatte lediglich den Eindruck, dass das Boot plötzlich hinter ein paar aus dem Wasser ragenden Felszacken verschwand. Fuhr er dann später selbst mit dem Boot hinaus, um nachzusehen, war es unwahrscheinlich, dass er den Grotteneingang fand. Er lag erstens die meiste Zeit über einem Meter tief unter dem Wasser und war zweitens bei Ebbe nur für eine Stunde passierbar. Selbst in dieser Zeit war er für ein in die Bucht einfahrendes Schiff nicht erkennbar. Weit ins Wasser hineinragende Felsformationen versperrten die Sicht und hielten den Betrachter zum Narren.

Und vom Land aus war die Grotte vollkommen unzugänglich. Selbst für geübte Kletterer, von denen es unter den Menschen der Insel ohnehin nicht viele gab, entstammten doch die meisten eher Seemanns- und Fischerfamilien aus den flachen Küstenregionen der Normandie oder Südenglands.

Die Grotte war ein perfektes Versteck.

So mancher Inselbewohner hatte gewiss schon darüber nachgedacht, wie es kam, dass Jeannet und ihre Schätze irgendwo auf dem Meer vor aller Augen verschwanden, sie aber später ohne ihre Schätze zurückzukehren pflegte.

Die wenigen, die das hatten beobachten können, brachten dies mit den Legenden um Jeannet Witch in Verbindung, nach denen die Piratenanführerin eine wahrhaftige, mit übernatürlichen und vom Teufel entliehenen Kräften ausgestattete Hexe war.

Jeannet wiederum tat nicht das Geringste, um diese Legenden zu entkräften.

Warum auch?

Verhinderte der Aberglaube dieser Leute doch, dass sie sich an ihrem Schatz vergriffen.

Die Boote erreichten schließlich den Eingang zur Grotte.

Ben Rider entzündete Fackeln und befestigte sie am Bug des Zugbootes. Ihr flackernder Schein ließ Schatten auf den kalten Höhlenwänden tanzen. Schatten, die immer neue Formen bildeten und wie Gespenster aus dem Reich des Todes wirkten.

Aber es war nicht die Unterwelt, in die sie einfuhren, sondern das größte Schatzversteck weit und breit. Wahrscheinlich wäre so mancher Fürst neidisch auf das gewesen, was Jeannet Witch und ihre Piratenmeute hier angehäuft hatten.

"Jeannet, ich muss Euch etwas sagen", raunte Ben Rider ihr schließlich zu. "Im Hafen gibt es Gerüchte."

"Von welchen Gerüchten sprecht Ihr, Ben?"

"Von Gerüchten, die Euch betreffen, Jeannet."

"Mich?" Jeannet lachte. Das Echo hallte zwischen den Felswänden vielfach wieder. Es klang gespenstisch.

"Hier sind wir nur von vertrauenswürdigen Menschen umgeben, deshalb spreche ich erst jetzt mit Euch darüber. Vor den Männern an Bord wollte ich es nicht."

"Sie haltet Ihr nicht für vertrauenswürdig?"

Ben Rider zuckte die Achseln. "Wenn es hart auf hart kommt, weiß man das oft erst, wenn es zu spät ist."

"Da mögt Ihr wohl Recht haben, Ben. Aber nun heraus mit der Sprache, was sollen diese düsteren Andeutungen."

"Es heißt, Ihr hättet uns und die WITCH BURNING verraten."

"Was?"

"Es heißt auch, Ihr hättet die Leute von Antikythera verraten."

"Wer verbreitet solche Lügen? Er soll mich kennenlernen! Niemand streut ungestraft unwahre Gerüchte über Jeannet Witch!"

Zornesröte hatte ihr Gesicht überzogen. Die harten Linien, die sich plötzlich in ihrem feingeschnittenen Gesicht gebildet hatten, wurden nur durch den weichen Schein des Feuers gemildert.

"Berichtet mir Genaueres, Ben! Bis jetzt war nichts Greifbares dabei, worüber ich mir Sorgen machen müsste!"

"Das sehe ich anders, Jeannet!"

"Ach, ja?"

"Offenbar haben unsere Leute bemerkt, welche hungrigen Blicke Ihr diesem Lord Cooper zugeworfen habt und daraus ihre Schlüsse gezogen. Schlüsse, die für Euch alles andere als schmeichelhaft sind."

"Nur weiter!", ermutigte Jeannet ihn.

In ihr kochte es.

Die brodelnde Kraft des Feuers in ihr wollte an die Oberfläche, aber aus Erfahrung wusste sie, dass es klüger und erfolgversprechender war, sich so weit es ging zu zügeln.

Rider atmete schwer und fuhr schließlich fort: "Entsprechend gefärbte Berichte haben unter den Leuten im Hafen ihre Runde gemacht. Und jetzt glaubt ein Teil der Leute, dass Ihr sowohl die WITCH BURNING als auch diese Insel dem Lord und seinen Soldaten überantworten werdet."

"Warum sollte ich so etwas tun?"

"Um eine Gegenleistung zu erhalten. Vielleicht einen Adelstitel und ein schönes Landhaus im abgelegenen Yorkshire oder die Besitzung eines aufmüpfigen irischen Adeligen, die ohnehin einen neuen Besitzer finden müsste. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Es kann Euch im Einzelnen auch herzlich gleichgültig sein. Tatsache ist, dass jemand versucht, gegen Euch Stimmung zu machen. Jemand, der vielleicht eigene Interessen verfolgt -—wer vermag das zu sagen?"

Jeannet schluckte.

Dass es brenzlig werden würde, war ihr von Anfang an klar gewesen. Aber jetzt begann sich das Unwetter über ihrem Haupt sehr schnell zusammenzubrauen. Viel schneller, als sie erwartet hatte.

"Wer steckt dahinter?", fragte Jeannet.

"Ich weiß es nicht."

"Dann müssen wir denjenigen zwingen, sich zu offenbaren."

"Wie wollt Ihr das bewerkstelligen?"

"Morgen werde ich an Land gehen. Wir lassen die Hafenbevölkerung zusammentrommeln und ich werde eine Erklärung abgeben. Dann muss der feige Hund aus seiner Deckung herauskommen, will jemand die Konfrontation mit mir wagen!"

Ben Rider zuckte die Achseln.

"Ein gefährliches Spiel, Jeannet."

"Nicht gefährlicher, als die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten."

"Vielleicht solltet Ihr warten, bis Ihr die Kräfteverhältnisse besser einschätzen könnt!"

Aber Jeannet hatte sich entschieden.

Sie schüttelte den Kopf.

"Nein", sagte sie. "Man muss das Feuer austreten, so lange es noch kein Flächenbrand ist!"

*



Sie erreichten die eigentliche Schatzkammer. Man sah es diesem Ort nicht an, welche Reichtümer hier gehortet wurden. Es handelte sich um ein kathedralenartiges Höhlengewölbe. Tropfsteine wuchsen von der Decke herab. Die Boote landeten an einem steinigen Ufer an. Alle fassten mit an, um die geraubten Güter von den Booten zu laden. Auch Jeannet und Ben Rider. Es musste jetzt schnell gehen. Steinblöcke wurden zur Seite gerollt. Dahinter befanden sich die legendären Kisten mit Gold- und Silbermünzen, denen nun noch einige weitere folgen würden.

"Selbst wenn jemand bis hier vorzudringen wagt, so wird er das Gold kaum finden", war Albrecht Schneider überzeugt. Er lachte. "Ein Versteck für die Ewigkeit."

"Die Ewigkeit interessiert mich nicht", erwiderte Jeannet hart. "Und ich häufe diese Schätze auch nicht deshalb auf, damit irgendein glücklicher Nachfahre sie in Hunderten von Jahren durch Zufall findet..."

Gerade noch rechtzeitig schafften sie es, die Grotte wieder zu verlassen. Als die Boote den Ausgang passierten, stand das Wasser bereits wieder so hoch, dass die Insassen der Boote sich ducken mussten, um nicht mit dem Kopf gegen die Höhlendecke zu stoßen.

Sie ruderten zurück zur WITCH BURNING, die schließlich wie ein Nebelphantom vor ihnen auftauchte.

Jeannet schlief in dieser Nacht nicht eine einzige Minute.

Ruhelos ging sie an Deck auf und ab.

Es war ihr klar, dass der nächste Tag entscheidend für ihre weitere Karriere als Piratenanführerin werden konnte. Schon so mancher, bei seinen Männern beliebte Kapitän war später dennoch im Handumdrehen aufgeknüpft worden.

*



Jeannet wartete bis zum Mittag des folgenden Tages.

Dann setzte sie zusammen mit Ben Rider und dem Rest ihrer Männer über zum Hafen. Sie verzichtete jetzt auf jegliche Bewachung des Schiffs. Schon im Morgengrauen hatte sie Albrecht Schneider mit einem Boot zum Hafen geschickt, damit er verbreitete, dass gegen Mittag eine große Versammlung stattfinden würde.

"Sie warten schon auf dich", sagte Ben Rider mit Blick auf die Menge von mehreren hundert Menschen, die sich in der Nähe der Anlegestelle versammelt hatten. Das war ein Schauspiel, das sich keiner entgehen lassen wollte.

"Ich bin mal gespannt, ob es irgendjemand wagt hervorzutreten und die offene Konfrontation zu suchen", raunte Ben Rider Jeannet ins Ohr.

"Ich ebenfalls", knurrte sie grimmig.

Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Mann aus ihrer Crew dazu fähig war, gegen sie zu opponieren. Eher schon traute sie das den Hafenbewohnern zu. Irgend einem Hehler, der vielleicht während ihrer Abwesenheit lohnendere Verbindungen zur ebenfalls schwarzbeflaggten Konkurrenz geknüpft hatte.

Als Jeannet in die Mitte der Versammlung trat, wurde es still.

Es war ein diesiger Tag.

Wolken wurden von einem auffrischenden Wind vom Atlantik herübergetrieben.

Jeannet sah sich um. Ihre Männer standen überall zwischen den Inselbewohnern. Mach einer von ihnen hatte eines der Freudenmädchen im Arm, andere konnten sich kaum auf den Beinen halten, so sehr hatten sie dem Branntwein zugesprochen, der auf der Insel in rauen Mengen hergestellt wurde.

Jeannet wartete noch einige Augenblicke, ehe sie zu reden begann. Sie ließ den Blick schweifen und warf dann ihre wilde, rote Mähne in den Nacken.

"Es gibt einige, die böse Gerüchte in Umlauf bringen. Gerüchte, die besagen, ich hätte die WITCH BURNING und diese Insel an die Engländer verkauft. Kein Wort davon ist wahr. Kein englischer Beamter weiß etwas von diesem Unterschlupf. Und wenn es nach mir geht, wird auch nie ein Lakai ihrer Majestät Elizabeth davon erfahren."

Jeannet machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen.

Schließlich fuhr sie fort: "Wer immer so etwas behauptet, der möge hier und jetzt vortreten, sodass wir die Sache ein für alle mal aus der Welt räumen können, wie es der Piratenehre entspricht!" Sie griff an die Seite und zog ihren Degen. "Hiermit!"

Ein Raunen ging durch die Menge.

Aber niemand wagte es, ihr offen gegenüber zu treten.

Jeannet atmete tief durch.

"Alles was ich tue, ist zum Wohl von uns allen. Und ich würde niemals um eigener Vorteile willen Euch an die Engländer verraten oder Euch ins Verderben führen! Jeder, der mich kennt, wird bezeugen können, dass ich eine gute und erfolgreiche Anführerin war!"

Zustimmendes Geraune entstand.

Aber hier und da war auch Stimmengewirr zu vernehmen, in das sich andere Töne mischten.

"Dann stimmt es etwa nicht, dass du kaum an dich halten konntest, als es zu der Begegnung mit Lord Cooper kam?", rief eine heisere Stimme aus der Menge heraus.

"Zeig dich!", rief Jeannet. "Zeig dich und sag mir diese Worte noch einmal ins Gesicht, wenn du den nötigen Mut dazu hast!"

Die Antwort bestand zunächst aus Schweigen.

Dann teilte sich die Menge.

Jeannets Augen weiteten sich.

Erstaunt hob sie die Brauen.

"Harry!", rief sie.

Harry Davis, der einäugige Ire trat ihr entgegen. In voller Montur stand er da, Degen und Entermesser an der Seite, eine Pistole hinter dem Gürtel.

Aber Davis stand nicht allein da.

Etwa ein Dutzend Mann standen um ihn herum. Einige aus dem Hafen, andere aus der Crew der WITCH BURNING. In wie fern sie Davis tatsächlich unterstützen würden, wenn es hart auf hart kam, war schwer abzusehen.

"Es scheint ein Fehler gewesen zu sein, ihn nicht zum Ersten Steuermann zu machen", raunte Ben Rider Jeannet zu, während sich seine Hand bereits um den Pistolengriff gelegt hatte. "Soll ich..."

"Nein, das erledige ich selbst!", bestimmte Jeannet auf eine Weise, die keinerlei Widerspruch duldete.

Harry Davis blickte sich um, so als wollte er sich der Unterstützung seiner Getreuen versichern.

"Ist es nicht wahr, dass du uns an die Engländer verraten hast? Was haben sie dir dafür gezahlt, Jeannet Witch? Oder war das gar nicht nötig? War der Preis nur das Lächeln eines englischen Lords?"

"Jeder weiß, dass ich nicht käuflich bin und niemals meine Mannschaft oder irgendwen sonst ans Messer liefern würde!"

"Ich weiß das nicht", erwiderte Davis. "Und ich glaube, in dieser Hinsicht bin ich nicht allein!"

Jeannet trat einen Schritt auf ihn zu.

"Du willst mich herausfordern?"

"Tritt freiwillig ab, Jeannet Witch! Deine Zeit ist um! Die Hexe ist selber behext worden, das hat jeder gesehen. Und ich bin zusammen mit anderen der Meinung, dass eine Frau, die von schwankenden Gefühlen beherrscht wird, nicht mehr unser Anführer sein kann!"

Jeannet hielt ihm die Degenspitze entgegen.

"Genug der Worte! Fechten wir es aus. Besiegst du mich und die Mannschaft folgt dir, so bist du mit Recht Kapitän. Aber ich werde es nicht dazu kommen lassen, sondern dich zur Hölle schicken, Harry Davis!"

Davis' Hand griff nicht zum Degen.

Stattdessen riss er die Pistole heraus, richtete sie mit ausgestrecktem Arm in Jeannets Richtung und feuerte.

Jeannet warf sich zu Boden, der Schuss verfehlte sie.

Die Piratin rollte sich auf dem Boden ab. Den Degen hatte sie zur Seite geworfen. Stattdessen griff sie nach dem leichten Dolch, den sie im Stiefel stecken hatte und schleuderte ihn Davis entgegen. Der Wurf saß. Der Dolch bohrte sich durch den Hals des Iren, der röchelnd zu Boden sank und dort regungslos liegenblieb.

Jeannet erhob sich.

Sie wandte sich an die Männer, die um Davis herumgestanden hatten.

"Ich weiß nicht, was er Euch versprochen hat, aber er wird es nun wohl nicht mehr halten können", stellte sie kühl fest.

"Wir haben Davis niemals unterstützt", behauptete einer von ihnen.

Jeannets Augen wurden schmal.

"Ihr könnt euch von den Vorräten mitnehmen, so viel ihr braucht. Aber zum Sonnenuntergang habt ihr euch eines der Boote genommen und die Insel verlassen. Andernfalls würdet ihr es bitter bereuen, glaubt mir!"

Einer der Kerle wollte zum Degen greifen, aber in diesem Moment stellten sich Ben Rider und Albrecht Schneider neben Jeannet, den Degen in der Hand.

"Besteht Bedarf an einer Abreibung?", fragte der ehemalige Marschall.

Die Männer schwiegen.

Sie hatten keine Wahl.

Die Mannschaft stand nach wie vor hinter ihrer Kapitänin. Für die Aufrührer war hingegen kein Platz mehr in der Crew. Das verstand sich von selbst.

"Wenn noch irgendjemand etwas in dieser Sache vorzubringen hat, so möge er vortreten!", verlangte Jeannet.

Aber das war nicht der Fall.

Jedem war klar, dass ihre Autorität unantastbar blieb.

"Ich gratuliere Euch", raunte Ben Rider seiner Kapitänin zu. "Ihr habt Euch wacker geschlagen", stellte der ehemalige Marschall ihrer Majestät fest.

"Danke, ich kann jede Ermutigung gebrauchen", erwiderte Jeannet mit vor Sarkasmus triefendem Tonfall.

"Mir liegt es fern, einen Aufstand gegen Euch anzuzetteln, Jeannet! Und wie es scheint, war nur eine kleine Minderheit der Auffassung, dass wir einen neuen Kapitän brauchen."

Rider blickte sich um.

Es war totenstill.

Alle Anwesenden hingen förmlich an seinen Lippen.

Jeannet war leicht verwirrt. Was sollte das? Was hatte der Erste Offizier der WITCH BURNING vor? Dass er sich gegen Jeannet stellen würde, um sich selbst an die Spitze der Crew zu setzen, hielt Jeannet für unwahrscheinlich. Schließlich war er bereit gewesen, sich vor sie zu stellen, als Harry Davis sie herausgefordert hatte.

Aber irgend etwas führte er im Schilde.

Kenne ich dich wirklich so schlecht, Ben Rider?, durchzuckte es Jeannet. Offenbar längst nicht so gut, wie ich bisher dachte....

Rider machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Arm.

"Ich nehme an, dass ihr alle genauso wie ich genauer wissen wollt, worin die Übereinkunft mit Lord Cooper, seines Zeichens Gesandter der Königin Elizabeth, besteht und auf welche Weise wir alle davon letztlich profitieren können. Dann werden die dummen Gerüchte, die es hier und da in der Mannschaft und unter der Bevölkerung von New Antikythera gibt, verstummen!"

Zustimmendes Gemurmel erhob sich.

"Der Marschall hat Recht!", rief jemand.

"Jawohl! Jeannet Witch soll uns endlich sagen, was mit dem Lord vereinbart ist!"

"Und zwar alles!"

Dieser Teufel!, dachte Jeannet und sah Ben Rider mit funkelnden Augen an. Aber der ehemalige Marschall ihrer Majestät hatte diese Runde gewonnen. Er hatte es geschafft, sein Spiel zu spielen und Jeannet zumindest in diesem Augenblick zu seiner Schachfigur zu machen. Vom ersten Moment an, da Jeannet ihren Fuß auf die SWORD FISH des königlichen Gesandten gesetzt hatte, war es für den Ersten Offizier der WITCH BURNING offenbar sehr schwer erträglich gewesen, dass zwischen Jeannet und Lord Cooper etwas war, dass sich seiner Kontrolle entzog.

Eifersucht war es wohl nicht, die Rider umtrieb.

Bisher zumindest hatte Jeannet kein Anzeichen dafür finden können, dass der Marschall romantische Gefühle für sie hegte. Wenn doch, so hatte er es vortrefflich zu verbergen gewusst.

Nein, Jeannet ging eher davon aus, dass kaltes Machtkalkül hinter Riders Vorstoß stand.

Und die Gier nach Gold und Reichtum, die wohl allen Piraten eigen war. Der Traum von einem besseren Leben, der für die meisten in einem nassen Grab endete.

Jeannet schluckte ihren Ärger herunter.

Sie entschloss sich, die Flucht nach vorn anzutreten. Ihren Degen steckte sie zurück in die Halterung. Ihre Linke umfasste den Griff. Sie hob die Hand, um das inzwischen aufkommende Geraune unter den Leuten zum Schweigen zu bringen. Ihrer Aufmerksamkeit konnte sich Jeannet jetzt gewiss sein. Jeder wollte wissen, was sie zu sagen hatte.

"Also gut!", rief sie. "Folgendes kann ich euch sagen. Ich habe euch alles über die Vereinbarungen mit der Krone gesagt, was ihr wissen solltet. Je weniger ihr wisst desto besser. Wer weiß schon, was man dem einen oder anderen von euch vielleicht irgendwann einmal unter der Folter an Geständnissen abpressen werdet."

"Mit diesem Argument dringt Ihr nicht mehr durch, Jeannet!", rief Rider zurück. "Unter uns gibt es keinen Verräter. Das wisst Ihr so gut wie ich!"

Jeannet atmete tief durch.

Ihr wurde jetzt klar, dass sie tatsächlich alles Preis geben musste. Selbst auf die Gefahr hin, dass es doch einen Verräter unter ihnen gab. Jemanden, der vielleicht glaubte, sein Wissen an die richtige Seite bringen und dafür Gold verlangen zu können. Wie konnte man einer solchen Gefahr begegnen? Jeannet war erfahren genug, um das richtige Mittel zu kennen. Gold... Die Aussicht auf Reichtum. Das war es, womit man diese Meute regieren konnte. Diese Männer waren wie Jagdfalken. Sie gehorchten nur bei Aussicht auf reichliche Belohnung. Keine Drohung oder irgendwelche Formen der Einschüchterung fruchteten bei ihnen.

"Also gut, so sollt ihr alles wissen. Und Gnade Gott demjenigen, der dieses Wissen an die Spanier verraten sollte!"

"Jeder von uns würde einen Verräter schwer bestrafen!", rief Joao, der Portugiese.

"Der Verräter würde vor allem sich selbst mit seiner Tat bestrafen", gab Jeannet zu bedenken. Sie atmete tief durch. In den Gesichtern der Männer sah sie noch immer Skepsis. Es hatte keinen Sinn, ihnen jetzt noch irgend etwas vorenthalten zu wollen. Gib ihnen das, was diese Falken brauchen, Jeannet!, durchzuckte es sie. Die Aussicht auf Gold wird zahme Lämmer aus ihnen machen!

"Die Spanier hüten das Geheimnis ihrer Route in die Neue Welt wie ein Staatsgeheimnis. Seekarten werden unter Verschluss gehalten. Aber wir wissen doch, dass ein unablässiger Zug von mit Gold beladenen Galeonen aus der neuen Welt nach Spanien unterwegs sind. Die Engländer wollen dieses Geheimnis lüften und wären bereit, uns daran teilhaben zu lassen."

"Heißt das...", begann Ben Rider stockend.

"Wir könnten in die Neue Welt fahren, wüssten um die Geheimnisse der Winde, die die spanischen Schiffe über den Atlantik bringen und bekämen vielleicht sogar Karten der von den Spaniern in Besitz genommenen Gebiete. Männer, dort wartet mehr Gold auf uns, als wir uns vorstellen können. Aber es ist spanisches Gold -—und die einzige Bedingung, die mir der Gesandte der Königin für die Duldung ihrer Majestät nannte war, dass wir in Zukunft nur noch spanische Schiffe plündern. Angesichts der ungeahnten Reichtümer, die auf uns warten, ist das kein unbilliger Wunsch, wie ich finde. Wir werden reichlich dafür entschädigt. Jeder von euch wird förmlich im Gold schwimmen!" Jeannet seufzte.

Die Gesichter der Männer hatten sich aufgehellt.

Das klang nach rosigen Zeiten für die Besatzung der WITCH BURNING.

Allein, es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Mochte auch die Gier nach Gold die Herzen dieser Männer an erster Stelle regieren, so waren sie doch Realisten genug, um sich nicht so einfach von märchenhaften Geschichten beeindrucken zu lassen.

"Wie und wann sollt Ihr in den Besitz der Karten gelangen?", fragte Ben Rider misstrauisch.

"Ich werde mich in einigen Wochen aufs englisches Festland begeben und nach London gehen... Mit Lord Cooper habe ich einen geheimen Treffpunkt vereinbart, an dem ich unseren Anteil an dem Erlös für die Galeone erhalten werde."

"Und der Rest, den Ihr erwähntet?", hakte Rider nach.

"Wenn uns das Schicksal gnädig ist, auch den. Wenn nicht, dann wird es sich noch etwas hinziehen, aber irgendwann werden wir in den Besitz dieses Wissens gelangen. Das steht so fest wie das Amen in der Kirche!" Jeannet machte eine Pause, sah von einem zum anderen. Hier und da erhob sich Stimmengewirr und Gemurmel. Zweifellos hatte die Kapitänin ihre Männer beeindruckt. Die Aussicht auf Beute in nie gekannter Höhe beschäftigte die Köpfe der Piraten. Jeannet kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass die inneren Bilder von wahren Goldbergen die Männer nicht mehr loslassen würden.

Es wird schwer sein, die Erwartungen der Mannschaft nicht ins Uferlose steigen zu lassen, überlegte sie.

"Was ist?", rief Jeannet nach einer längeren Pause. "Seid ihr dabei oder wollt ihr euch doch noch einen anderen Kapitän sichern! Dann nur zu! Es wird sicher in anderen Häfen genug Männer geben, die Mumm genug haben, mir zu folgen -—und einen Handel mit den Engländern zu erfüllen!"

"Es lebe Jeannet Witch!", rief der Portugiese.

"Es lebe die rote Hexe!", rief ein anderer.

Zustimmendes Stimmengewirr erhob sich.

Ben Rider trat auf sie zu.

"Ihr habt gewonnen, Jeannet", stellte er fest und neigte leicht den Kopf, wie ein Untertan, der seiner Fürstin huldigte.

Jeannet lächelte dünn.

"Nein, nicht ich habe gewonnen", widersprach sie. "Sondern Ihr!"

"Wenn es so sein sollte, dann gewiss nicht zu Eurem Schaden, Jeannet!"

"Das werden wir sehen", meinte Jeannet. Ihr Tonfall hatte jetzt eine düstere, dunkle Note.

Ihre Männer standen jetzt zweifellos wieder hinter ihr.

Jeder einzelne dieser verwegenen aus ganz Europa zusammengewürfelten Bande.

Jeannets Gedanken hingegen galten jetzt der Zukunft. Das Gesicht von Lord Donald Cooper erschien vor ihrem inneren Auge. Wie sehr wünschte sie sich jetzt, in seiner Nähe zu sein, den Klang seiner Stimme zu hören... Es ist nur ein Traum, Jeannet, meldete sich eine sehr skeptische Stimme aus ihrem Hinterkopf. Ein wunderbarer Traum von Liebe, Geborgenheit und Harmonie, dem aber die kalte Realität entgegensteht...

Jeannet wollte daran nicht denken.

"Macht euch ein paar schöne Tage hier auf der Insel", rief Jeannet den Männern zu. "Es liegen anstrengende Aufgaben vor uns, die uns das letzte abverlangen werden. Aber die Belohnung übersteigt bei den meisten von uns das Vorstellungsvermögen." Jeannet wandte ihren Kopf in Richtung von Ben Rider. "Vielleicht mit Eurer Ausnahme, Ben. Schließlich wart Ihr auch vor Eurer Piratenkarriere einen gewissen Luxus gewohnt."

Ben Riders Gesicht blieb vollkommen regungslos.

Mit keinem Wort, keiner Geste und keinem Zucken irgendeines Gesichtsmuskels ließ der ehemalige Marschall erkennen, wie er Jeannets spitze Bemerkung aufgenommen hatte.

"Ich hoffe, dass Ihr Recht behaltet, Jeannet", murmelte er nur zwischen den Zähnen hindurch.

*



Was ist nur los mit der Prinzessin?, ging es Lord Cooper durch den Kopf, während er hinaus auf das Meer blickte.

Ein stetiger Wind trieb die SWORD FISH an der englischen Küste entlang.

Tatsächlich zeigte sich Prinzessin Carla von Spanien ungewöhnlich folgsam und verließ ihre Kabine für den Rest der Fahrt nach London kein einziges Mal. Sie war auch ansonsten sehr zurückhaltend und äußerte kaum Wünsche.

Dem Lord indessen bereitete das allmählich Sorgen, anstatt dass es ihn freute: War die Prinzessin etwa krank geworden?

Er ahnte nach wie vor nichts von ihren Gefühlen ihm gegenüber. Ja, sie gab sich in der Tat, als wäre sie krank, aber es war kein Leiden, gegen die ein Arzt hätte etwas tun können. Zweimal schaute er nach ihr. Wenn sie ihn sah, zeigte sie sich hocherfreut, obgleich sie sich sichtlich bemühte, ihre Freude nicht allzu offen zu zeigen. Er erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden und sie antwortete stereotyp, alles sei in Ordnung mit ihr. Er verabschiedete sich danach rasch wieder und wies dabei auf die immense Arbeit hin, die ihm als Kommandant eines solchen Schiffes oblag.

Sie zeigte dafür vollstes Verständnis, zumal er jedesmal erneut darauf hin wies, in London habe er weit mehr Zeit übrig, die er ihr widmen könnte.

Das Ganze machte den Lord dennoch ziemlich nachdenklich. Er grübelte immer wieder darüber nach, ohne jedoch zu einem befriedigenden Ergebnis kommen zu können.

Um den Schmerz in seiner Brust, jenes ihm bislang unbekannte Brennen und Ziehen als Folge seiner Zuneigung zu Jeannet, nicht noch unerträglicher werden zu lassen, beschäftigte er sich sehr intensiv mit seiner Aufgabe als Kommandant des Schiffes. Insofern hatte er Carla keineswegs belogen, wenngleich so übertrieben viel Engagement seinerseits nicht wirklich nötig gewesen wäre, denn auf seinem Schiff hatte er ausschließlich gute Leute, die auch einmal ohne ihn ausgekommen wären.

Dem Ersten Offizier fiel das auf, dass Lord Donald Cooper ziemlich übertrieben tat, wie der Lord anhand seiner verstohlenen Blicke gewahrte, mit denen der Erste ihn immer wieder heimlich bedachte. Sicher fiel es auch Naismith, dem Zweiten Offizier der SWORD FISH, auf, doch dieser ließ es sich nicht anmerken.

Und dann hatten sie ihr Ziel endlich erreicht: Sie liefen in den Hafen von London ein.

Das geschah völlig ohne Aufsehen, denn in einem solch großen Hafen war es wahrlich nichts Besonderes, wenn ein Schiff einlief.

Lord Cooper war ungewöhnlich angespannt. Er dachte an die bevorstehende Audienz bei der Königin. Er würde auf direktem Wege dorthin fahren. Gewiss stand die entsprechende Kutsche bereit. Er war politisch eine sehr wichtige Persönlichkeit, also musste man eine gewisse Etikette wahren, wenn er sozusagen als Offizieller zurückkehrte.

Während er mit brennenden Augen seinen Blick über die Anlegestellen gleiten ließ, wusste er genau, dass ihre Ankunft nicht ganz so unbeobachtet geblieben war. Mit Sicherheit war der entsprechende Kurier längst unterwegs, um seine Rückankunft zu melden.

Die Königin wusste noch nichts von der brisanten Fracht mit Namen Prinzessin Carla von Spanien. Woher auch? Sie würde sehr überrascht sein über das Ergebnis seiner Mission - und es sich nicht anmerken lassen. Die jungfräuliche Königin von England war eine erklärte Meisterin der Verstellung. Niemals würde ein Untertan auch nur die geringste Gefühlsregung bei ihr erkennen, so diese nicht einer bestimmten Absicht diente.

Sobald sie angelegt hatten, ging der Lord hinunter zur Kabine der Prinzessin.

Als er eintrat, stand sie fix und fertig neben ihrer Koje und lächelte ihn an. Sie hatte auch ohne spezielle Order mitbekommen, dass sie am Ziel ihrer Reise angelangt waren, wie es schien. Doch ihr Lächeln erstarb auf einmal, als sie ihn genauer betrachtete.

"Oh, Mylord", entfuhr es ihr unwillkürlich, "ich sehe Euch müde und erschöpft. Wollt Ihr wirklich so Ihrer Majestät gegenüber treten?"

Er lächelte ein wenig zu schief. "Mit Verlaub, Prinzessin, aber ich kam leider nicht zur Ruhe. Bedenket, wir sind sogar des Nachts gefahren - und das ist seemännisch eigentlich gar nicht vertretbar. Es war zwar eine sternenklare Nacht mit einem ungewöhnlich hellen Vollmond, aber das Risiko ist nicht zu verachten. Es galt halt, möglichst schnell hier zu sein, auch Euch zuliebe, Prinzessin."

"Aber ich finde es nicht gut, dass Ihr dermaßen Raubbau an Eurer Gesundheit verübt!", tadelte sie ihn offen und er hatte in diesem Augenblick sehr deutlich den Eindruck, als würde sie die Besorgte keineswegs nur spielen. Das irritierte ihn zwar, doch die Prinzessin fuhr rasch fort, ehe er auf den richtigen Gedanken kommen konnte: "Aber wer bin ich, die einem Lord des englischen Hochadels Vorschriften zu machen versucht? Zumal ich leider nicht gerade ein gutes Vorbild bin, was vernünftiges Verhalten betrifft, wie es sich hinlänglich bewiesen hat."

Ja, stimmt, dachte er respektlos und konnte es nicht verhindern, dass sich seine Stirn bei dieser Überlegung kraus zog: Die Prinzessin wirkt außerdem mindestens ebenso übernächtigt wie ich. Sie hat nur als junge Dame von Rang ihre Methoden, das besser zu überschminken.

Laut sagte er: "Ich muss allerdings zugeben, dass Ihr trotz der Strapazen der letzten Tage und sicher auch Wochen nichts von Eurer Schönheit und Anmut eingebüßt habt, Prinzessin, ganz im Gegenteil...!"

"Oh, Ihr wisst durchaus, wie man einer Frau schmeichelt. Vielen Dank, Mylord. Ich weiß Eure wohltuenden Worte sehr wohl zu schätzen."

Insgeheim jedoch dachte sie: Wann wirst du es endlich zugeben, dass auch du mich liebst? Oder bist du dir noch gar nicht darüber im Klaren? Du bist ein erwachsener Mann, der sicher schon viel Erfahrung gesammelt hat in der Liebe, aber die wahre Liebe dürfte auch für dich neu sein, sonst wärst du doch schon längst in festen Händen, nicht wahr? Gedanken, die keiner Logik entsprangen, sondern ihren überschäumenden Gefühlen, deren sie kaum Herr wurde.

Es war ein bitterer Fehler, dass er so gar nichts von solchen Gedanken ahnte. Vielleicht hätte er vorzeitig einlenken können, um die durchaus mögliche Katastrophe rechtzeitig aufzuhalten, die sich anzubahnen drohte? Wie hieß es noch so treffend im Sprichwort: "Wehret den Anfängen!" Ja, die Schwärmerei der Prinzessin steckte gewissermaßen noch in den Anfängen, trotz alledem. Jetzt wäre es jedenfalls noch vergleichsweise einfach gewesen, dem entgegen zu wirken. Mit seiner Lebenserfahrung und seinem diplomatischen Geschick, das ihn schließlich zum persönlichen Berater der Königin hatte empor steigen lassen, wäre schon einiges zu gewinnen gewesen. So jedoch gab es nicht einmal den Verdacht, also auch keinerlei Handlungsbedarf.

Schade, sehr schade, denn mit jeder Minute, die verstrich, würde es immer schwieriger werden, die Prinzessin von ihrer wahrhaft fixen Idee abzubringen, in die sie sich mehr und mehr verrannte. Und was war schon die hohe Weltpolitik zum Wohle der Reiche von England und Spanien gegenüber den mächtigen Gefühlen, die dieses Chaos in ihrer bebenden Brust erzeugten und alles andere Null und Nichtig erscheinen ließen?

Der ahnungslose Lord Cooper verbeugte sich artig und bot der Prinzessin seinen Arm an.

"Euer Gepäck wird von zuverlässigen Männern sicher verladen. Dafür ist bereits vorgesorgt", versicherte er.

"Ich vertraue Euch voll und ganz, Mylord - Ihnen mehr als jedem anderen. Nicht nur, was mein Gepäck betrifft, das Eure Leute gottlob vom Wrack geborgen haben. Wie ich feststellen konnte, sind sogar meine Vermögenswerte beinahe ohne Abstriche vorhanden."

"Ja, die Piraten haben sie auf dem Wrack gelassen. Jener weibliche Captain..."

"...Jeannet", unterbrach Carla ihn. "Verzeiht, dass ich Euch unterbrochen habe. Was wolltet Ihr noch sagen?"

"Nun, sie hat es anscheinend veranlasst."

"Würde es Euch sehr wundern, wenn ich Euch gestände, dass wir eine Art... Freundinnen geworden sind in der kurzen Zeit seit unserer ersten Begegnung?"

Ach, meine Gute, wenn Ihr wüsstet..., dachte er und hätte beinahe sehnsüchtig geseufzt, aber er konnte es im letzten Moment unterdrücken. Stattdessen wagte er ein höfliches Räuspern.

"Ja, das würde mich, in der Tat", behauptete er, damit sie nicht auf "falsche" Gedanken kommen konnte. Als hätte es dahingehend auch nur nur die geringste Gefahr gegeben bei ihr. Wenn hier jemand völlig ahnungslos war, dann war vor allem er selber das, denn für ihn war das eine ganz normale höfliche Konversation ohne besonderen Sinn. Ein Wortgeplänkel, mehr nicht. Ja, davon war er sogar fest überzeugt.

Nur für die Prinzessin war es indessen wesentlich mehr. Sie hatte sich bei "ihrem" Lord untergehakt und spürte seine aufregende Nähe, nach der sie sich so quälend lange Stunden gesehnt hatte - Stunden, in denen sie praktisch keinen Schlaf hatte finden können. Wie denn auch?

"Na, egal letzten Endes, Mylord. Tatsache ist, Jeannet hätte alles an sich nehmen können, denn es ging ja in erster Linie um meine Person, nicht wahr? Es gab keine Bedingung, dass sie alles zurückgeben musste, oder irre ich mich da."

"Nun, nicht direkt", meinte der Lord vorsichtig. Es war ihm höchst unangenehm, auf diese Weise seine Jeannet verleugnen zu müssen. Das war wie schlimmster Verrat an ihr, obwohl ihm wahrlich nichts anderes übrig blieb und Jeannet selber dafür vollstes Verständnis aufgebracht hätte, wäre sie als Lauscherin dabei gewesen.

Er räusperte sich erneut und fuhr fort, weil er es für diplomatisch am sichersten fand: "Sie hat ja auch einiges behalten, was ihre Leute rechtzeitig von Bord des Wracks geschafft haben. Es war viel Wertvolles darunter."

Viel lieber hätte er zu der Prinzessin gesagt: "Meine Jeannet hatte ganz andere Sorgen, glaubt mir! Wir lieben uns und die Welt darf es niemals erfahren, sonst sind wir beide so gut wie tot! Die Piraten würden den Respekt vor ihr verlieren und ich meinen Kopf, weil ich mich auf eine Freibeuterin eingelassen habe - in meiner Stellung. Dies alles ist einerseits so unbeschreiblich schön, diese Gefühle... und andererseits so quälend, so gefährlich... eigentlich irre. Oder wie seht Ihr eine solch schreckliche Situation?"

Natürlich sagte er in Wirklichkeit kein einziges Wort in dieser Richtung, nicht bedenkend, dass es möglicherweise der Prinzessin gegenüber wesentlich besser gewesen wäre. Vielleicht hätte es diese zum Nachdenken gebracht? Vielleicht hätte sie angesichts dieser Tatsachen ihre Gefühle gegenüber dem Lord neu überdacht und wäre möglicherweise darauf gekommen, dass sie sich einer sinnlosen Schwärmerei hingab und somit eine Situation schuf, die niemand so wollte?

"Den allergrößten Teil ließen sie jedoch an Bord des Wracks!", betonte Carla deutlicher als beabsichtigt und riss ihn mit diesen Worten aus den trübsinnigen Gedanken.

Lord Cooper blinzelte irritiert und schaute sie dann sichtlich überrascht an. Aber er sagte nichts, sondern führte die Prinzessin endlich aus der Kabine.

Der wachhabende Matrose salutierte, wie man es von ihm erwartete und blieb an seinem Platz, obwohl es jetzt nicht mehr nötig war. Lord Cooper kümmerte sich nicht darum. Der Matrose würde schon noch seine neuen Order bekommen und so lange durfte er seinen Posten nicht verlassen.

Lord Cooper konnte nicht sagen, dass er das steife und starre militärische Reglement mochte, aber es blieb auch ihm nichts anderes übrig, als sich zumeist dem zu beugen, denn das Reglement hatte im Krisenfall durchaus seine Berechtigung, wie er erfahrungsgemäß wusste. Eine allzu lasche Handhabung in Normalzeiten führte zwangsläufig zu einer Art Schlendrian - und der konnte sich im Krisenfall als tödlich oder zumindest äußerst gefährlich erweisen.

"Ich muss Euch voll und ganz zustimmen, Prinzessin", erklärte Lord Cooper zur Überraschung von Carla und eigentlich nach einer viel zu langen Gesprächspause. "Diese Piraten sind schon recht ungewöhnlich - in ihrer Eigenschaft als Piraten, meine ich. Raue Burschen einerseits, aber andererseits..."

Er brach ab.

Die Prinzessin vollendete den Satz lächelnd: "...andererseits von einer richtigen Frau geführt. Wolltet Ihr etwa das sagen? Es ist sichtlich ein Unterschied zwischen der Führung einer Frau und der eines Mannes. Vielleicht liegt das daran, dass eine Frau einfach... intelligenter ist und gefühlvoller?"

"Jene Frau mit Sicherheit - äh, ja, zumindest was die Intelligenz betrifft jedenfalls, denke ich!" Er biss sich auf die Zunge, auf dass nur ja kein weiteres Wort mehr entschlüpfen sollte, ehe er sich noch deutlicher einem möglichen Verdacht aussetzte.

Mit seinen seltsam unsicher ausgesprochenen Worten überraschte der Lord die Prinzessin zwangsläufig, wenngleich in anderer Hinsicht als vom Lord befürchtet: Sie hatte eigentlich angenommen, er als männliche Führungspersönlichkeit würde darüber völlig anders denken - über die Intelligenz nämlich einer Piratenführerin.

Doch Lord Cooper, der endlich die nötige Fassung wiedererlangte, fügte erklärend hinzu, weil er nach wie vor befürchtete, mit seiner Aussage wesentlich zu weit gegangen zu sein und weil er noch mehr von möglichen Gefühlen ablenken wollte: "Bedenket, Prinzessin, Jeannet ist in jeder Beziehung einmalig. Oder hat man schon öfter davon gehört, dass eine wilde Piratenhorde ausgerechnet von einer Frau angeführt wird? Wenn das keine besondere Frau ist..."

"Da ist etwas Wahres dran!", rief die Prinzessin unwillkürlich. "Etwas Besonderes, ja, das ist sie, Jeannet. Wusstet Ihr, dass ihre Leute sie deshalb gern Königin der Meere nennen?"

"Ja, das habe ich ebenfalls mitbekommen. Allerdings nennen ihre Feinde sie völlig anders."

"Wie denn, Mylord?"

"Fluch der Meere!", antwortete er knapp.

"Das ist ja fürchterlich!", entfuhr es Carla. "Ausgerechnet... Jeannet?"

"Na, ich würde mal sagen: Es bezieht sich auf ihre ganze Horde, nicht so sehr auf ihre Person. Also sollte man es nicht zu persönlich nehmen."

"Tu ich ja nicht, aber ich denke gerade an die Piraten, die sie mit ihren Leuten besiegt hat, um mich zu retten."

"Sie hat es nicht nur für Euch getan, mit Verlaub. Es gab schließlich fette Beute."

"Natürlich nicht meinetwegen", brauste sie auf, als müsste sie jetzt den Lord gehörig zurecht weisen, "weil sie zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht wissen konnte, dass ich mich überhaupt auf dem Schiff befand. Es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ich jetzt auf freiem Fuß bin, an Eurem Arm dahin schreite, um meinen Weg an den Hof von England zu finden. - Ob Ihre Majestät, die Königin von England, wohl schon bereit sein wird, mich zu empfangen?" Damit hatte sie blitzschnell das Thema gewechselt und strahlte ihn wieder an.

Ihm war das nur zu recht. Nicht die Tatsache, dass sie ihn anstrahlte, sondern das Wechseln des für ihn viel zu verfänglichen Themas.

"Wir werden sehen, Prinzessin. Wir werden sehen", beschwichtigte er sie allerdings. "Mit einer eskortierten Kutsche werden wir zur Residenz gefahren. Das ist üblich, wenn ich nach einer Mission an den Hof zurückkehre. Ich persönlich mag diese Umstände zwar nicht so besonders, aber es gehört zu Etikette des Hofes, der wir uns beugen müssen."

"Danke für den Hinweis, dass die Eskorte keineswegs meinetwegen bestellt wurde."

Lord Cooper hub schon zu einer diplomatischen Umschreibung an, um eventuellem Ärger vorzubeugen, aber er sah vorher kurz in ihr Gesicht und erkannte das verschmitzte Lächeln.

Er musste selber lachen.

"Wohl formuliert, Prinzessin, aber niemand weiß in England ja von Euer Ankunft. Ich bin mir sehr sicher, dass es ansonsten einen wahren Staatsempfang geben würde. Allerdings, falls Ihr Wert darauf legen solltet, könnte ich das selbstverständlich veranlassen."

"Oh, nein!", rief sie erschrocken aus. "Ihr kennt mich nun schon gut genug, um zu wissen, dass ich noch nie gesteigerten Wert auf solches gelegt habe. Es ist mir schon lieber, wenn Ihre Majestät, die Königin von England, eine der ersten sein wird, die von meiner Ankunft erfährt. Wenn ich Euch also bei der Fahrt begleite, ist es beinahe... inkognito. Sagt man dazu nicht so?"

"Das tut man, in der Tat, Prinzessin. Erlaubt mir zusätzlich die Bemerkung, dass Ihr dadurch natürlich weitaus schneller zu Ihrer Majestät gelangen könnt. Sozusagen auf dem direkten Wege."

"Umso besser!" Sie nickte zu diesen Worten und schaute voraus.

Sie hatten die Gangway erreicht. Der Erste und der Zweite Offizier standen persönlich mit anderen Marinesoldaten Spalier. Mit einem vorbildlichen militärischen Gruß, von dem entsprechenden mehrfach wechselnden Pfeifsignal begleitet, wie bei der Marine üblich, wurde die Prinzessin am Arm des Lords von Bord verabschiedet.

Die Prinzessin zeigte sich ein wenig verwirrt. Die für sie sehr aufregende Konversation mit dem geliebten Lord hatte ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen, dass sie überhaupt nichts von den Vorbereitungen mitbekommen hatte, die zu dieser für sie sehr beeindruckenden Verabschiedung geführt hatten.

Lord Cooper indessen dachte: Alle sind ihr dankbar, dass sie so ein angenehmer Gast war, der niemandem Sorgen bereitete. Zumal man es ganz anders erwartet hatte. Sollte es sein, dass die Prinzessin inzwischen ein wenig... erwachsener geworden ist? Noch größer könnte kein Irrtum mehr sein.

An der Mole stand bereits die eskortierte Kutsche. Er hatte sich zumindest in dieser Hinsicht nicht getäuscht. Die waren die ganze Zeit über sozusagen in Alarmbereitschaft gewesen, um ihn auf dem kürzesten Weg in den Palast zu bringen. Egal, wann seine Ankunft auch erfolgen würde - und sei es erst in Monaten.

Ein livrierter Offizier der Hofgarde salutierte zur Begrüßung. Lord Cooper stellte seine Begleiterin vor, mit der Ehrerbietung, die einer Prinzessin aus einem verbündeten Land gebührte.

Der Offizier ließ sich nicht anmerken, wie überrascht er war.

Seine Leute salutierten nun ebenfalls. Sie standen Spalier auf dem Weg zur Kutsche, als gelte es, schlimme Gefahren von dem Lord und seiner Begleiterin fern zu halten. Der Lord indessen wusste es besser: Es gehörte einfach nur zum üblichen Ritual.

Der Offizier sah sich bemüßigt, noch etwas zu sagen, ehe Lord Cooper mit seiner hochwohlgeborenen Begleiterin weiter zur Kutsche schritt:

"Mit Verlaub, Mylord, niemand wusste von dem hohen Besuch, sonst hätten wir das Nötige veranlasst."

"Macht Euch keine Sorgen darum. Die Prinzessin ist inkognito hier und wünscht keinerlei Aufsehen. Es wäre also keineswegs ratsam, ihre Ankunft allzu publik zu machen. Betrachten Sie es als einen wichtigen und für die Freundschaft der Krone zu Spanien äußerst bedeutsamen Umstand und mitnichten als einen offiziellen Staatsbesuch, dem man gebührend in aller Öffentlichkeit Rechnung tragen müsste."

"Sehr wohl, Mylord. Wenn Ihr erlaubt, werde ich dennoch einen Kurier voraus eilen lassen, um Ihre Majestät, die Königin von England, entsprechend auf den Empfang vorzubereiten..., äh, zumindest rechtzeitig über die näheren Umstände in Kenntnis zu setzen."

"Ich bitte sogar darum."

Der Offizier salutierte erneut und der Lord ging mit Prinzessin Carla von Spanien am Arm durch das Spalier zur Kutsche.

"Ich muss gestehen, Ihr Engländer beeindruckt mich sehr mit Eurer Disziplin", lobte die Prinzessin. "Bei meinem ersten Besuch habe ich zu wenig darauf geachtet, wie ich außerdem gestehen muss. Mein Besuch damals war auch nicht ganz freiwillig gewesen, wie Ihr Euch vielleicht denken könnt."

"Ist es denn dieser jetzt?" Diese Frage konnte er sich nicht verkneifen.

Er überlegte allerdings, ob er damit nicht zu vorlaut gewesen war, doch die Prinzessin lachte nur leise und konterte: "Zumindest gehe ich freiwillig an Eurer Seite, Mylord und das ist eine besondere Ehre für mich, wie ich versichern darf. Die Umstände waren unfreiwilliger Natur, aber was könnte als Anlass für einen Besuch Englands schöner sein als meine vorangegangene Befreiung aus der Gefangenschaft von Piraten, damit man mich anschließend in Eure Obhut übergeben konnte? Ihr seid mein Held - und ich folge nunmehr Eurer Einladung. Dagegen verblasst auch der offiziellste Staatsempfang!"

Er lachte seinerseits.

"Es ist immer wieder erquicklich, Euren Ausführungen zu lauschen, Prinzessin, mit Verlaub. Bei dieser Gelegenheit muss ich unwillkürlich daran denken, dass Ihr mich als Euren Lehrer wünscht. Dabei seid Ihr in vielen Dingen so perfekt, dass ich mich als Lehrer beinahe überflüssig vorkommen muss."

"Untersteht Euch, damit Euren Rückzug aus diesem wichtigen Amt anzukünden", drohte sie scherzhaft.

"Nichts dergleichen, Prinzessin. Ich schwöre! Es war einfach nur die Wahrheit. Bei einer so talentierten Schülerin - falls Ihr diese Bezeichnung erlaubt - ist es mehr als nur eine Ehre für einen Lehrer, tätig werden zu dürfen."

"Ich seid ein diplomatisches Genie. Wisst Ihr das? Ihr dreht stets alles so, wie es für Euch am besten passt. Das macht Euch so schnell niemand nach - wenn überhaupt jemand auf dieser Welt."

"Oh, aus Eurem Munde nehme ich ein solches Lob ganz besonders gern an", behauptete Lord Cooper lächelnd.

Sie hatten die Kutsche erreicht, die von einem Diener geöffnet wurde. "Darf ich Euch bitten, Prinzessin?"

Sie ließ sich von ihm über die ausgeklappten Stufen helfen, wie es schicklich war: An ihrem eigens dazu angewinkelt dar gebotenen linken Arm, während ihre rechte Hand leicht das Kleid raffte damit sie sich nicht selbst auf den Saum trat. Lord Cooper zeigte ihr dabei, dass er auch dieses Ritual perfekt beherrschte. Wie anders hätte er jemals eine so hohe Position erlangen können?

Danach nahm er den traditionellen Degen an seiner linken Hüftseite ab, stieg ebenfalls ein und nahm ihr gegenüber Platz.

"Ich muss mich in aller Form entschuldigen, dass Ihr genötigt seid, Prinzessin, mit mir Unwürdigem eine Kutsche zu teilen. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es beinahe einem Affront Eurer hohen Stellung gegenüber bedeutet, Euch solches zuzumuten."

Sie lachte schallend.

"Also, jetzt übertreibt Ihr aber, Mylord! Ich meine, das klingt ja gerade so, als wolltet Ihr mich auf den sprichwörtlichen Arm nehmen? Geht man denn so mit einer echten Prinzessin um?"

Auch er lachte und antwortete dabei: "Und wenn es dazu dient, jene hochwohlgeborene Prinzessin aufzuheitern, um ihr den Aufenthalt im mal wieder verregneten England so angenehm wie möglich zu gestalten?"

Das ist der Richtige, der einzig Richtige!, jubelten ihre Gedanken. "Das wiederum ist Euch vortrefflich gelungen!", sagte sie laut und unterstrich es auch noch mit einem allzu heftigen Nicken.

In der Tat war ihre Laune bestens - nach außen hin zumindest. Lord Cooper war das sehr recht, denn er hatte schon ein wenig Sorge vor der Begegnung mit der Königin. Zwar hatte er auf der ganzen Linie vollen Erfolg zu vermelden, was der Königin sicherlich gefallen würde, aber die bevorstehende Weiterreise der Prinzessin war ein Problem, das ihm schier unlösbar erschien. Er hatte es ja geschafft, die Prinzessin weitgehend darauf vorzubereiten, aber nun oblag es ihm, der Königin klar zu machen, dass sie dabei keine übertriebene Eile an den Tag legen durfte. Wenn die gute Laune der Prinzessin erst einmal verflog, konnte alles sehr problematisch werden. Und wenn sie gegen ihren erklärten Willen, sozusagen mit äußerster diplomatischer Gewalt, zurück gebracht wurde nach Madrid, war dadurch zu Gunsten der Belange Englands sicher nichts gewonnen, sondern ganz im Gegenteil: Je zorniger sie über den englischen Hof sein würde, desto übler würde sie über diesen ihrem Vater gegenüber berichten. Zur Zeit war sie noch gut gelaunt und freute sich auf die Königin und auf alles andere, was sie ihrer Meinung nach erwartete. Aber wenn es zu arg wurde, vergaß sie ihre gute Erziehung, wie die Praxis oft genug gezeigt hatte - und der Schaden für England würde größer werden als der mögliche Nutzen jemals hätte sein können.

Es galt, in dieser Hinsicht nicht nur das Schlimmste zu vermeiden, sondern alles sogar auch noch zum absolut Guten zu wenden.

Lord Cooper war es allerdings zum jetzigen Zeitpunkt schleierhaft, wie ihm dieses eigentlich Unmögliche gelingen mochte. Letztlich war dies alles ja nicht seine Entscheidung, sondern die Entscheidung der Königin. Egal, wie diese ausfallen würde: Alle würden sich dem beugen müssen, ohne jegliche Abstriche. Die Königin hörte sich nur dann einen Rat an, wenn sie danach verlangte. Ob, wie und wann sie den Rat jemals befolgte, war ganz allein ihr überlassen.

Trotz all der guten Nachrichten, die er sozusagen im Gepäck mit brachte, schlich sich eine gewisse Skepsis in sein Denken ein und verdarb ihm die Laune. Dabei dachte er nicht zufällig auch wieder an seine Jeannet: Sie würde es sicher nicht leicht haben, in ihrer rauen Piratenwelt. Zwar war sie Herrscherin über die Piraten, aber in ihren Entscheidungen genauso Sachzwängen unterworfen wie er. Obwohl sie ihm doch noch um einiges freier erschien in ihren Entscheidungen, weil sie nicht noch jemanden über sich hatte, der weitgehend unberechenbar war - wie Ihre Majestät, Königin Elisabeth von England.

*



Während der Fahrt mit der Kutsche war Prinzessin Carla von Spanien äußerst zurückhaltend. Lord Cooper dachte sich nichts weiter dabei. Er vermutete, dass es wegen der bevorstehenden Audienz bei der Königin war. Außerdem schaute sie sehr aufmerksam aus dem Seitenfenster, als würde sie London zum ersten Mal in ihrem Leben sehen.

Ja, sie war ja eigentlich das zweite Mal in London, doch beim ersten Mal hatte sie sich eigenem Bekunden nach dafür offenbar überhaupt nicht interessiert. Vielleicht fand sie London mit seinen ehrwürdigen Gebäuden deshalb jetzt so beeindruckend?

Die Wahrheit sah - wie so oft in den letzten zwei Tagen - völlig anders aus: Für Prinzessin Carla war es ziemlich schlimm, dass "ihr" Lord unmittelbar vor ihr saß. Egal, in welche Richtung sie innerhalb der ihrem Empfinden nach viel zu engen Fahrgastkabine schaute: Immer sah sie Lord Cooper, zumindest aus den Augenwinkeln.

Nicht, dass sein Anblick in irgendeiner Weise unangenehm für sie gewesen wäre. Ganz im Gegenteil: Er vergrößerte zu sehr das Gefühlschaos in ihrer Brust. Sie hatte Sorge, sich letztlich zu verlieren und sich zu Dingen hinreißen zu lassen, die einer Prinzessin in keiner Weise würdig waren und die sie möglicherweise später bitter bereute. Selbst wenn er die gleichen Gefühle für sie hegte, durfte sie ihm nicht zu offen zeigen, wie wichtig er ihr war. Das wäre unschicklich im höchsten Maße. Was sollte er denn von ihr denken? Sollte er gar... enttäuscht sein von ihr?

Dabei: Ach, wie gern hätte sie sich einfach auf seinen Schoß gesetzt, hätte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihm ihre Lippen zu einem zärtlichen Kuss angeboten...

Nein!, schrien ihre Gedanken prompt und äußerst entsetzt: Nein! Denke an etwas anderes. Bitte! Da, dieses Gebäude. Wie hoch es doch ist und so prächtig...

Es war zwar lächerlich, mit welchen Banalitäten sie sich abzulenken versuchte, aber anders ging es einfach nicht mehr. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, ihre Hände waren schweißnass, sie vibrierte am ganzen Leib und glaubte manchmal sogar, im nächsten Augenblick sich nicht mehr länger aufrecht halten zu können und einfach umzukippen, aber sie musste sich meisterlich beherrschen, damit der Lord nicht das Geringste mitbekam von alledem, trotz seiner Nähe.

Ach, wären wir nur schon angelangt!, dachte sie völlig verzweifelt. Sie ist so schön, die wahre Liebe, aber sie kann auch unglaublich schmerzen. Vor allem, sie trübt den Verstand und macht einen regelrecht... krank!

Beinahe hätte sie über diese Gedanken jetzt gekichert. Auch das konnte sie im letzten Moment verhindern.

Sie schaute durch das andere Seitenfenster. Lord Cooper sagte irgend etwas. Zwar hörte sie seine wohltönende, männliche Stimme, doch der Sinn ging ihr völlig verloren.

Sie blinzelte verwirrt und schaute ihn an, dabei inbrünstig hoffend, darüber nicht den letzten Rest ihres Verstandes zu verlieren.

Er lächelte entwaffnend und meinte höflich: "Wie ich sehe, seid Ihr völlig abgelenkt von den Sehenswürdigkeiten Londons. Leider weiß das unsereiner nicht mehr so sehr zu schätzen, wie ich zugeben muss. Man sieht sie gewissermaßen viel zu oft."

"Verzeiht, Mylord, aber was waren Ihre vorausgehenden Worte gewesen?" Sie lauschte ihrer Stimme nach und wunderte sich darüber, wie sicher und fest sie klang. Wie hatte sie das überhaupt fertig gebracht?

"Nun, ich wies darauf hin, dass es nicht mehr lange dauern mag, bis wir Buckingham Palace erreicht haben."

Nicht mehr lange?, echoten ihre Gedanken. Viel zu lange! Wie soll ich das überstehen? Wie soll ich es aushalten, ohne ohnmächtig zu werden oder dass mir noch Schlimmeres widerfährt?

Wenn sie sein Gesicht so nah sah, war es ihr, als würde es sich immer mehr nähern, als wollte es sie berühren. Dabei tat er nichts dergleichen.

Der Wunsch wird Vater all deiner Gedanken, Carla! Vorsicht! Verliere dich nicht zu sehr! Bleibe stark. Du bist schließlich die Prinzessin von Spanien. Du kannst das. Solchermaßen machte sie sich Mut, um es wenigstens zu schaffen, seinem Blick zu widerstehen und dann sogar ihre Augen abzuwenden und wieder nach draußen zu schauen, als könnte es nichts auf der Welt geben, was interessanter wäre.

"Einerseits schade, dass die Fahrt bald zu Ende geht", behauptete sie - immer noch mit ungewöhnlich fester Stimme, was niemanden mehr überraschte als sie selbst. "Denn London hat wahrlich viel zu bieten. Außerdem... in so angenehmer Gesellschaft wie der Ihrigen...! Andererseits ist es selbstverständlich wichtig, dass wir Ihre Majestät, die Königin, nicht über Gebühr auf unsere Ankunft warten lassen. Ob sie uns wohl sofort empfängt oder ob wir zuerst Gelegenheit bekommen werden, uns frisch zu machen?"

Sie fragte es, ohne ihn dabei wieder eines Blickes zu würdigen. Das hätte sie einfach nicht mehr geschafft.

Lord Cooper antwortete dennoch: "Nun, ich denke mir, dass sie zunächst mich allein zu sprechen wünscht, damit ich Ihre Majestät vorab über alles unterrichten kann, was sich während meiner Abwesenheit ereignete. Danach wird sie sehr wohl auch Euch empfangen wollen."

"Dann bleibt mir ja sogar eine Art... Schonfrist?"

Er hielt es für einen kleinen Scherz, weshalb er pflichtschuldig lachte. "Mit Verlaub, so würde ich das allerdings nicht nennen. Ihre Majestät würde sicher Euch bevorzugt als Erste empfangen, aber sie weiß nichts über die Umstände Eures Hierseins und möchte selbstverständlich nicht das geringste Risiko eingehen. Bedenket bitte, sie ist die mächtigste Frau Englands und legt erheblichen Wert auf die höfische Verstellung."

"Ob sie überhaupt Verständnis haben wird, meine Lage betreffend? Ich meine, weil ich einen ungeliebten und vor allem mir völlig fremden Mann zu heiraten genötigt war und aus diesem Grund dem Hofe meines Vaters den Rücken kehrte, um sogar ein ungewisses und gefährliches Schicksal in Kauf zu nehmen?"

"Oh, mit Verlaub, Prinzessin, wenn überhaupt jemand auf dieser Welt Verständnis dafür aufbringen würde, dann wäre das mit Sicherheit Ihre Majestät. Vergesst bitte nicht, sie hat geschworen, jungfräulich zu bleiben, um all ihre Liebe und all ihre Kraft allein England zu widmen. Was könnte ihr da fremder sein, als die Zwangsvermählung mit einem ungeliebten Mann?"

"Ach, das habe ich so eigentlich noch gar nicht bedacht!", entfuhr es ihr. Darüber vergaß sie sogar vorübergehend ihr Gefühlschaos und konnte somit dem Lord wieder in die Augen sehen, ohne das Gefühl zu haben, den Verstand oder zumindest das Bewusstsein zu verlieren.

Er lächelte unentwegt, weil er es für angebracht hielt, um die Sorgen der Prinzessin zu zerstreuen.

"Ihr dürft versichert sein, Prinzessin, dass ich Ihrer Majestät entsprechend berichten werde. Ganz in Eurem Sinne natürlich."

"Ich bin Euch ja so dankbar dafür!", rief sie enthusiastisch - und wäre nun doch beinahe zu ihm geflüchtet, um ihm ihre Dankbarkeit allzu offen zu zeigen und mit vielen Küssen zu unterstreichen.

Ach, warum ist die Liebe nur so schrecklich kompliziert?, fragte sie sich indessen entsagungsvoll und beherrschte sich lieber.

Das schaffte sie sogar noch bis zum Ende der Fahrt. Zwar waren das wirklich nur noch wenige Minuten, doch sie kamen ihr schier wie Ewigkeiten vor: Als die längsten Minuten ihres gesamten bisherigen Lebens. Einzig der Gedanke daran, dass die Königin vollstes Verständnis für sie haben würde, gab ihr genügend Kraft, alles ohne äußere Anzeichen gut zu überstehen.

Und dann rollte die Kutsche durch das offene Tor. Sie wurden also in der Tat bereits erwartet. Der Kurier war hoch zu Ross natürlich viel schneller gewesen als sie mit der eher gemächlich dahin polternden Kutsche.

Sobald die Kutsche direkt vor dem Hauptportal das Palastes stoppte und sich die Seitentür öffnete, stieg Lord Cooper als erster aus. Er streckte der Prinzessin den rechten Arm hin, während seine Linke auf dem Knauf seines Degens ruhte, den er wieder traditionsgemäß an der Hüfte trug.

Carla hatte Mühe, ihren zittrigen Knien das Gewicht ihres Körpers anzuvertrauen. Doch irgendwie schaffte sie es, nicht nur sich zu erheben, sondern, am Arm von Lord Cooper geführt, die Kutsche sogar zu verlassen.

Sie atmete tief durch, als wäre für sie die Londoner Luft besonders köstlich. In Wirklichkeit war es nötig, um auch weiterhin ihre Beherrschung zu behalten.

Er bot weiterhin seinen rechten Arm an, wie es für einen Gentleman seines Ranges schicklich war. Die Prinzessin hakte sich artig unter und betrat gemeinsam mit ihm die Residenz.

Der Hofmarschall persönlich begrüßte sie beide, beinahe wie bei einem offiziellen Staatsempfang, obwohl der ganze Prunk darum herum natürlich fehlte.

"Im Namen Ihrer Majestät, Königin Elisabeth von England, möchte ich Euch, Prinzessin Carla von Spanien, an der Seite von Lord Donald Cooper auf das Höflichste begrüßen!"

Er verbeuge sich tief und als die Prinzessin ihm ihren Handrücken anbot, deutete er den höfischen Handkuss an, wie es Sitte war. Sie tat dabei einen artigen Knicks, um damit ihre Jugend zu unterstreichen.

Anschließend salutierte der Hofmarschall vor dem Lord und ließ ihn wissen: "Ihre Majestät verlangt dringend nach Euch, Mylord!"

Lord Cooper erwiderte den Gruß und antwortete: "Ich werde dem sobald Folge leisten. Darf ich in der Zwischenzeit die Prinzessin in Eure Obhut übergeben?"

"Es ist mir eine besondere Ehre!" Der Hofmarschall verbeugte sich abermals in Richtung der Prinzessin.

Nach einem weiteren militärischen Gruß, den Lord Cooper mit ihm austauschte, verbeugte sich nun auch der Lord vor der Prinzessin, übte seinerseits den höfischen Handkuss und bat inbrünstig um Vergebung dafür, dass er sich nunmehr vorübergehend zurückziehen müsste.

Prinzessin Carla lächelte ihn an, bevor er ging. Es sah so aus, als würde sie allmählich Gefallen an solcherart Etikette finden. Aber das Lächeln galt natürlich keineswegs dem Ritual, sondern ausschließlich Lord Cooper und entsprang dem Wunsch, ihn bald möglich wiederzusehen.

Wie aus weiter Ferne hörte sie die Worte des Hofmarschalls: "Mit Verlaub, Prinzessin Carla von Spanien, Majestät: Ihre Gemächer sind gerichtet. Diener stehen frei zu Eurer Verfügung. Sofern es Euch Recht ist, kann ich eine Audienz bei Ihrer Majestät, der Königin von England, vorbereiten."

"Ja, sobald wie möglich!", betonte Carla unkonventionell.

Er blinzelte überrascht und verbeugte sich schon wieder.

"Sehr wohl, Majestät!"

Er winkte ein paar Dienerinnen herbei, die sich sehr unterwürfig zeigten.

"Erlaubt Ihr, dass ich voraus gehe?", erkundigte sich der Hofmarschall.

"Ich bitte sogar darum!", ließ Carla ihn wissen.

Falls sie richtig gezählt hatte, folgte bereits die fünfte Verbeugung seinerseits. Oder war es gar schon die sechste?

Sie lächelte schon wieder und dachte dabei an "ihren" Lord. Wie wohl das Gespräch zwischen ihm und der Königin verlaufen würde?

*



Offiziell hatte die Königin keine eigene Leibgarde. Sie legte Wert darauf, dass ihr Volk annehmen sollte, sie sei völlig ungefährdet in ihrer hohen Stellung, weil es keinerlei Feinde gab - gar keine geben konnte.

Der Lord jedoch wusste, dass dies nur eine diplomatische Masche war. Außerhalb des Palastes ahnte das jedoch niemand. Dafür waren die Eingeweihten viel zu verschwiegen.

Die Wahrheit nämlich war, dass die Hofgarde an sich schon aus sorgfältig ausgesuchten Leuten bestand. Viele gehörten sogar dem Ritterstand an. Und von diesen sorgfältig ausgesuchten Männern hatte die Königin die ihrer Meinung nach besten und vor allem vertrauenswürdigsten Ritter direkt unter ihren persönlichen Befehl gestellt. Sie waren gegenüber dem Hofmarschall als einer Art oberstem Befehlshaber am Hofe im gewissen Sinne neutral gestellt und würden ohne Zögern ihr Leben für sie opfern.

Lord Donald Cooper wusste das deshalb so genau, weil er ursprünglich einer von diesen Rittern gewesen war. Bis er Gelegenheit bekommen hatte, der Königin gegenüber zu beweisen, dass er nicht nur ein als unbesiegbar geltender Ritter war, sondern auch ein wahres Naturtalent in den diplomatischen Künsten besaß. Dies hatte die Königin von England dazu bewogen, ihn nicht nur zu einem ihrer engsten Berater zu bestellen, sondern ihn immer wieder mit mehr oder weniger delikaten Aufgaben zu betrauen. Wie zum Beispiel die Aufgabe, die gefürchtetsten Piraten, die man sogar Fluch der Meere nannte, zu befrieden und in Zukunft ganz im Sinne der Krone Englands handeln zu lassen.

Es gab zwar niemanden am Hofe von England, der den Lord nicht kannte, aber er musste vor dem Audienzzimmer der Königin trotzdem warten, ehe er endlich Bericht erstatten durfte. Einer der Wachhabenden ging allein hinein zur Königin, um seine Ankunft zu melden. Erst als er zurückkehrte und Lord Cooper ernst zunickte, trat dieser ein.

Die Königin saß in einem erhöht aufgestellten Thron, damit sie auch sitzend auf die Köpfe derer herab schauen konnte, die aufrecht standen.

Lord Cooper blieb an der Tür stehen, auf eine besondere Aufforderung durch die Königin wartend.

Diese befahl zunächst die anwesenden Livrierten hinaus und gab dem Wachhabenden den Befehl, die Tür von außen zu schließen und dafür zu sorgen, dass sie in den nächsten Minuten allein und ungestört blieben, ehe sie ihn näher winkte.

Lord Donald Cooper eilte zu ihr hin und ließ sich auf das rechte Knie niedersinken. Ein höfischer Kniefall, der ihm so perfekt gelang, wie es sich für einen Mann in seiner Stellung gegenüber der mächtigsten Frau des Landes gehörte. Sein linkes Bein ließ er angewinkelt stehen und lehnte sich mit dem Oberkörper halb darauf. Seine linke Hand ruhte auf dem Degenknauf, wie es Vorschrift war. Die rechte Hand deutete indessen die höfische Verbeugung an, die er hinbekam trotz der demütigen Kauerstellung. Zum Niederkauern gehörte es zusätzlich, dass er den Kopf tief gesenkt hielt.

"Steht auf, Mylord!", hörte er die streng klingende Stimme der Königin.

Er stutzte. Hatte er richtig gehört?

Sie schien seine Gedanken lesen zu können: "Ja, ich sagte, Ihr sollt aufstehen. Ich möchte Euer Gesicht sehen, wenn Ihr berichtet. Was ich bislang gehört habe, war Eure Abwesenheit trefflich ereignisreich."

"Sehr wohl, Majestät", murmelte er ein wenig verlegen und erhob sich zögernd.

"Schaut mir in die Augen, wenn Ihr die Frage beantwortet: Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen über das Erlebte, von denen ich wissen muss? Eine Liste gar über Gegenstände, die Ihr aufgenommen habt? Ja, gibt es denn überhaupt so etwas wie Beute bei Eurem Auftrag? Und was hat es mit der Prinzessin auf sich?"

Das war weit mehr als nur eine Frage, aber es erschien nur allzu verständlich, dass die Königin dies alles erfahren wollte.

Der Lord hatte große Schwierigkeiten damit, seiner Königin so unverblümt in das Gesicht zu schauen. Es widersprach der höfischen Etikette, obwohl sie hier und jetzt allein waren und dies niemand sonst sehen konnte.

"Verschlägt es Euch die Sprache, Lord Cooper? Das täte mich wundern. Er ist doch sonst nicht auf den Mund gefallen, der Lord und niemals um eine Floskel verlegen."

"Verzeiht, Majestät, wenn es mir schwer fällt, als Euer treu ergebener Untertan, so Euch gegenüber zu stehen und..."

"Papperlapapp, Lord Cooper, ich bat Euch, sich zu erheben, nicht um Euch zu ehren, sondern weil ich in Eurem Gesicht lesen will, während Ihr Euch bemüht, meine Neugierde zu befriedigen. Nun denn, was hat es dies alles auf sich? Und was ist mit Aufzeichnungen, so es welche gibt?"

"Ich versichere Euch, Majestät, dass es keinerlei Aufzeichnungen gibt. Sogar das Logbuch wurde von mir eigenhändig in diesem Sinne geführt, dass niemals die näheren Umstände in falsche Hände geraten können."

"Das beruhigt mich, Lord Cooper, aber wo Ihr es ansprecht: Was ist nun mit diesen... Umständen? Und wie passt die Prinzessin zu dem Geheimauftrag, den ich Euch persönlich erteilte - unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich?"

Aha, daher also wehte der Wind! Die Ankunft der Prinzessin war eine Überraschung, die von der Königin noch nicht gültig eingeordnet werden konnte: Handelte es sich um eine böse oder um eine positive Überraschung? Gab es mithin Anlass zur Freude oder sollte sie eher dessentwegen... Lord Cooper verfluchen?

Er wusste, dass er sich beeilen musste, mit seinem Bericht herauszurücken, ehe er trotz des immensen Erfolges seiner bestandenen Mission womöglich noch den Unmut der Königin erregte.

"Wir fanden die Prinzessin von Spanien auf dem Schiff der Piraten", sagte er einfach.

"Nicht wahr!", entfuhr es der Königin. Es kam selten vor, dass sie auch nur ein wenig die Beherrschung verlor und dieser Augenblick war nun ein solch seltener.

"Wenn Ihr gestattet, Majestät, die ganze Geschichte zunächst in Kurzform?"

"Ich bitte sogar darum!"

"Prinzessin Carla von Spanien soll mit einem ihr fremden und daher ungeliebten Mann vermählt werden. Sie floh davor aus dem Palast ihres Vaters, König Philipp II. und wollte mit einem Schiff ohne Wissen des spanischen Hofes in die Neue Welt übersetzen."

"Das sieht ihr ähnlich!" Die Königin schüttelte wie tadelnd den Kopf. Sie konnte sich sehr wohl an die Prinzessin von deren letzten Besuch her erinnern. Positive Erinnerungen waren das allerdings nicht. "Und wie gelangte sie sodann auf das Piratenschiff?

"Der britische Pirat, der das Schiff überfiel, erkannte sie im buchstäblich letzten Moment und ließ sie überleben. Sie geriet in Gefangenschaft. Später wurde das Piratenschiff vom 'Fluch der Meere' überfallen. Diese Piraten nennen ihr Schiff übrigens WITCH BURNING - also so ähnlich wie brennende Hexe. Sie übernahmen nicht nur das zum Wrack geschossene Piratenschiff, sondern auch die Prinzessin."

"Wo befindet sich das Wrack inzwischen? Ist es etwa doch noch untergegangen?"

"Mitnichten, Majestät: Ich habe es unterwegs einem Kriegsschiff der Marine überlassen, um schneller hier in London sein zu können. Ich vermute, dass es bis morgen früh im Hafen einläuft. Der Kommandant des Kriegsschiffes wird jedenfalls alles tun, damit das Wrack unbeschadet im Schlepptau hier anlandet."

"Und wie gerietet letztlich Ihr an die Prinzessin?"

"Eurem geheimen Auftrag folgend, Majestät, provozierte ich mit den Piraten eine Pattsituation, um Verhandlungen zu erzwingen. Nur so war es möglich, Euren Auftrag zu erfüllen - mit Verlaub gesagt."

"Das erschient mir äußerst geschickt - wie von euch nicht anders zu erwarten gewesen war!"

Lord Cooper ließ sich keine Zeit, dieses offenkundige Lob aus dem Munde seiner Königin auszukosten, sondern fuhr sogleich fort: "Und dann machte ich die überraschende Feststellung, dass der Captain des Piratenschiffes... eine Frau ist! Sie nennt sich Jeannet und ist eine Engländerin."

"Sie ist doch wohl nicht so ohne Weiteres auf Euren Vorschlag eingegangen, nicht wahr?"

Kurz erlaubte er sich, den Blick zu senken, um sich zu sammeln. Hoffentlich konnte ihm die Königin nichts anmerken. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, sie könnte Gedanken lesen. Aber das war sicher Unsinn.

Mit festem Blick schaute er sie dann an. Er nahm das Bild in sich auf, das sie ihm bot: Die Königin war eine Erscheinung, die auf ihre Untertanen und auch auf alle, die von außerhalb des Landes zu ihr kamen, im gewissen Sinne zwiespältig wirkte, einmal abgesehen davon, dass sie ihre Umgebung allein schon mit ihrer Anwesenheit gewissermaßen in die Knie zwang. Einerseits wirkte sie wie die gütige Mutter ihrer englischen Untertanen, obwohl sie noch gar nicht alt genug dafür sein mochte. Andererseits konnte sie jedoch sehr hart durchgreifen, wenn es die Situation ihres Erachtens erforderte. Jeder, der auch nur in ihre Nähe kam, spürte ihr unbeschreibliches Charisma. Beklemmend war es für jene, die ihr nicht wohlgesonnen waren - und belebend für alle anderen.

Eine Feststellung, die er nicht zum ersten Mal machte: Diese Frau war der einzige Mensch auf Erden, der in dieser schweren Zeit überhaupt in der Lage war, die Geschicke von England in die positive Richtung zu lenken. Zwar war er nicht mit all ihren Entscheidungen so ohne Weiteres einverstanden, aber er würde sich hüten, jemals das Wort dagegen zu erheben, wenn es von der Königin nicht ausdrücklich gewünscht wurde.

Zwiespältig, ja, das war sie - und das musste sie auch sein. Dabei legte sie größten Wert darauf, die jungfräuliche Königin zu bleiben. Ja, sie hatte einer möglichen Ehe für immer abgeschworen, weil sie all ihre Liebe und all ihre Kraft allein ihrem Volk widmen wollte. Jeder ihrer Untertanen wusste von diesem Umstand und da war niemand, der es bedauerte - höchstens jene Männer, die vergeblich darauf hofften, jemals ihre Gunst zu erlangen.

Irgendwo seid ihr euch ähnlich, Jeannet und Königin Elisabeth, wahrlich, dachte er unwillkürlich. Jeannet, die Königin der Meere - und Elisabeth, die Königin von England. Beides ungewöhnliche Frauen in jeglicher Beziehung - und darum als einzige dafür geeignet, eure schweren Aufgaben mit Bravour zu meistern.

Was er für die Königin empfand, war Liebe bis in den Tod. Nicht die Liebe eines Mannes zu einer Frau, sondern die Liebe eines treuen Untertans zu seiner hochverehrten Königin! Bislang hatte er sich eingebildet, in seinem Herzen könnte niemals eine andere Frau Platz finden. Bis er Jeannet getroffen hatte. Vielleicht war es diese gewisse Ähnlichkeit mit der unglaublich starken Frau, die souverän die Geschicke Englands leitete, die zu seiner besonderen Liebe geführt hatte, wie er sie gegenüber Jeannet empfand? Dabei war die Ähnlichkeit keineswegs äußerlicher Natur, sondern nur in der Stärke der Charaktere begründet.

Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er viel zu lange zögerte. Um die Situation doch noch zu retten, beeilte er sich zu versichern: "Verzeiht, Majestät, ich wollte mit meinem Schweigen die Sache nicht unnötig spannender machen. Ich kann Euch jedoch versichern, dass es zähe Verhandlungen gegeben hat. Erst als ich jener Jeannet klar machen konnte, dass sie keine Chance hatte und dass ich eher gemeinsam mit ihr untergehen würde, als von meinem Vorhaben wieder Abstand zu nehmen, willigte sie ein, die Prinzessin mit all deren Hab und Gut zu übergeben."

"Was war letztlich ausschlaggebend, Mylord: Etwa eine gewisse Angst dieser Piratin vor der Niederlage?"

"Nein, gewiss nicht. Ich schätze sie ein als eine äußerst starke Persönlichkeit, gesegnet mit einem wachen, scharfen Verstand. Ausschlaggebend für ihre Zusage war vor allem natürlich die Aussicht darauf, den Segen Eurer Majestät zu erhalten, sofern sie sich wirklich im Sinne und zum Wohle Englands zu verhalten bereit erklärt!"

"Eine starke Frau - und intelligent, sagt Ihr? Wie es scheint, hat die Piratin großen Eindruck bei Euch hinterlassen."

"In der Tat, Majestät, dies vermag ich nicht zu leugnen."

"Nun, das ist kein Wunder, denn wenn es einer Frau gelingt, eine wilde Horde von solch üblem Ruf im Zaume zu halten..."

"Ich darf sagen, mein Eindruck war, dass jeder an Bord ihres Schiffes ohne auch nur mit der Wimper zu zucken für sie in den Tod gehen würde!"

"Oh, Mylord, ich kann Euch versichern, dass mir diese Beschreibung außerordentlich gut gefällt. Um es deutlich zu sagen: Ihr habt wieder einmal gute Arbeit geleistet und eigentlich Unmögliches wahr gemacht. Indem es Euch gelungen ist, eine solch üble Gefahr nicht nur abzuwenden, sondern in einen echten Vorteil zu verwandeln, ist weit mehr gewonnen als wenn Ihr die Piraten einfach mit Mann und Maus versenkt hättet."

"Außerdem, wenn Ihr erlaubt, Majestät, gewannen wir einen Trumpf hinzu mit Namen Prinzessin Carla von Spanien!", erinnerte der Lord.

"Trumpf? So, meint Ihr?"

"Nun, bedenket bitte, Majestät, die Prinzessin wurde von Piraten gefangenen genommen, jene aber nicht lange darauf von anderen Piraten ihrerseits besiegt und ausgeraubt. Dabei wurde die Prinzessin befreit."

"Ach, ich verstehe: Sie ist Zeugin davon, dass ein englisches Freibeuterschiff einen Spanier überfällt, wie es allzu häufig geschieht, ihres Erachtens nach. Und dann kommt ein anderes Piratenschiff englischer Herkunft, das diese schlimme Tat sühnt... Trefflicher hätte es gar nicht kommen mögen!"

"In der Tat, Majestät: Und dann die Übergabe der Prinzessin an mich. Wegen der Pattsituation ging ich gemeinsam mit der Prinzessin an Bord des Wracks. Sozusagen als Pfand, damit das Piratenschiff ungeschoren abziehen konnte. Auf dem Wrack befand sich noch der größte Teil der Beute. Wir brauchten nicht lange zu warten, bis meine Leute uns aus dieser Lage befreiten. Anschließend kehrte ich mit der SWORD FISCH so schnell wie möglich nach London zurück."

"Das ist mehr als nur ein Bericht, Mylord, sondern es ist die Schilderung eines wahren Triumphs! - Und was gedenkt die Prinzessin nun zu tun? Ich nehme doch an, sie will so schnell wie möglich wieder an den Hof ihres Vaters zurückkehren?"

"Nein, leider... Sie glaubt, Ihr würdet ihr gewissermaßen Asyl gewähren. Bedenket, sie floh vor einer Zwangsvermählung. Selbst der Tod auf dem Meer erschien ihr in ihrer Situation begehrenswerter als sich der Entscheidung ihres Vaters zu beugen."

"Eine Zwangsvermählung? Ja, richtig, das habt Ihr bereits erwähnt..."

Lord Cooper sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Ihm war klar, was das bedeutete: Niemand konnte mehr Verständnis für eine solche Handlung aufbringen als die Königin von England, die sich selber standhaft gegen jegliche Vermählung gewehrt hatte, sogar bevor sie das Amt der Königin von ihrem Vater hatte übernehmen müssen.

Lange dauerte diese Bedenkzeit nicht. Auf einmal lächelte die Königin milde. "Ich denke mal, das Gespräch mit der Prinzessin dürfte sich interessant gestalten. Und sie hat überhaupt nichts mitbekommen von Eurem Auftrag?"

"Nein, gar nichts."

"Ein idealer Fall, wie ich finde. Sie wird gegenüber König Philipp von Spanien schwören können, dass England unmöglich mit den Piraten etwas gemeinsam haben könnte. Ganz im Gegenteil... Doch bevor es soweit kommt, wäre es natürlich wichtig, sie zu ihrem Vater zurückzuschicken. Unter den gegebenen Umständen ein nicht leichtes Unterfangen, wie ich fürchte, denn sie muss es freiwillig tun, sonst wird nichts dabei gewonnen."

Der Lord war froh, dass sie von allein darauf gekommen war und in dieser Hinsicht nicht seines Rates bedurfte. Doch sie schaute ihn bei diesen Worten so seltsam an. Als wäre eine Entscheidung ihrerseits bereits gefallen und als überlege sie noch, wann und unter welchen Umständen sie diese bekannt geben sollte. Aber was hatte er denn damit zu tun?

Es alarmierte ihn im höchsten Maße, aber dann lächelte die Königin wieder milde und nickte ihm sogar wohlwollend zu.

"Ihr habt Eure Sache wieder gut gemacht, Mylord. Ach, was sage ich: Ihr habt sie sogar mit beispielloser Bravour erfüllt! Ich kenne niemanden außer Euch, dem ich das auch nur annähernd zugetraut hätte. Ihr erfüllt meine Erwartungen stets auf der ganzen Linie und übertrifft sie oft genug auch noch. Aber nun jedoch solltet Ihr erst einmal an Euch selber denken. Ich sehe Euch müde und abgespannt. Ruht Euch aus und entspannt Euch dabei. Über Eure Zukunft braucht Ihr Euch jedenfalls keine Sorgen zu machen. Ich weiß gute Dienste sehr wohl zu schätzen, wie Ihr aus Erfahrung wisst..."

Das beruhigte ihn ungemein. Er spürte, wie er prompt gelassen wurde.

Sein Gefühl sagte ihm, dass es Zeit war, sich zurückzuziehen, ehe die Königin noch deutlicher wurde.

Er verbeugte sich ehrerbietig und ging rückwärts und mit gesenktem Haupt zur Tür.

"Macht Euch auch keine Sorgen um die Prinzessin. Ich werde Euch später berichten, wie das Gespräch gelaufen ist, denn ich nehme an, dass es Euch ebenfalls interessieren wird. Schließlich seid Ihr der Held der Prinzessin, weil sie mit Euch nach London kam."

Er verbeugte sich abermals und klopfte an die Tür, als er mit dem Rücken gegen sie stieß.

Das Zeichen wurde nicht überhört. Die Tür wurde von außen geöffnet und er konnte nach einer letzten Verbeugung hinaus schlüpfen.

Draußen richtete er sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf. Er zog die Schultern zurück und hob fest den Brustkorb, um die Verspannungen zu lösen, die sich durch die ständige Demutshaltung entstanden waren.

Die Wachen beobachteten ihn aufmerksam. Keiner von ihnen würde es wagen, ihn unaufgefordert anzusprechen, seit er Berater der Königin geworden war. Obwohl sie vorher so etwas wie Kollegen gewesen waren.

Er nickte ihnen freundlich lächelnd zu und ging an ihnen vorbei in Richtung seiner eigenen Gemächer. Die Königin hatte vollkommen Recht: Er war übernächtigt und ziemlich erschöpft. Gewiss würde er schlafen wie ein Stein.

Unterwegs schaute er kein einziges Mal zurück. So bekam er nicht mehr mit, dass die Königin nach der Prinzessin schickte. Aber das war ja sowieso zu erwarten gewesen, nach ihren eigenen Ankündigungen.

*



Prinzessin Carla von Spanien war ziemlich nervös. Nicht nur wegen ihrer Gefühle, die sie insgeheim für den Lord hegte, sondern wegen der bevorstehenden Audienz bei Königin Elisabeth. Ob sie wirklich soviel Verständnis für ihre Lage aufbringen würde, wie Lord Cooper vermutet hatte?

Die nur mühsam zu unterdrückende Furcht vor einer möglichen Entscheidung gegen ihren Willen überschattete sogar das Gefühlschaos in ihrer Brust, das der Lord ungewollt erzeugt hatte.

Und dann endlich kam die Erlösung insofern, dass der Hofmarschall höflich um Einlass begehrte, nur um ihr mitzuteilen, die Königin von England wolle sie nun sprechen.

Was hat Lord Cooper ausgerichtet bei ihr? Er wird doch wohl in meinem Sinne gesprochen haben, wie er mir zusicherte?, fragte sie sich verzweifelt, als sie sich dem Hofmarschall anschloss.

Es war eine besondere Ehre für sie, dass sich der Marschall höchstpersönlich um sie kümmerte. Aber schließlich war sie die Prinzessin einer verbündeten Nation. Da war das sicherlich opportun.

Der Hofmarschall vergewisserte sich unterwegs immer wieder, dass die Prinzessin ihm auch wirklich auf dem Fuße folgte. Dabei entschuldigte er sich jedesmal dafür, weil er ihr unterwegs den Rücken zukehren musste.

Die Prinzessin hätte es unter anderen Umständen amüsiert, dass der Hofmarschall so übertrieben tat - übertriebener noch als es die Etikette am Hofe von England erforderte. Aber ihr Inneres war so aufgewühlt, dass keinerlei Freude aufkeimen konnte. So folgte sie nur stumm und ignorierte das Gebaren des Hofmarschalls geflissentlich.

Bis sie die Tür zum Audienzzimmer der Königin erreichten. Dort gab es einen kurzen Zwischenstopp, weil erst einer der Wachhabenden eintreten musste, um die Prinzessin bei der Königin anzukündigen.

Es machte die Prinzessin ein wenig stutzig: Das sah ja so aus, als wären die Wachhabenden hier so eine Art Leibgarde. Hieß es denn nicht, dass es am Hofe Englands so etwas nicht gab, weil es nicht nötig war? Alle Welt munkelte, die Königin sei absolut unangefochten. Es könnte gar keine Feinde ihrer Person geben, weil sie so eine schier unfehlbare Königin war.

Sollte das nichts weiter als eine diplomatische Masche sein?

Der Wachhabende kehrte zurück und enthob damit die Prinzessin weiterer Gedankengänge in dieser Beziehung. Letztlich war das alles auch gar nicht so interessant für sie. Viel interessanter war es, wie das Gespräch mit der Königin verlaufen würde.

Der Wachhabende verbeugte sich vor der Prinzessin und sagte feierlich: "Ihre Majestät bittet ihren persönlichen Gast, die hochwohlgeborene Prinzessin Carla von Spanien, zu sich in den Audienzsaal. Ihr möget mir bitte folgen." Er richtete sich wieder auf und nickte kaum merklich dem Hofmarschall zu. Für diesen die Aufforderung, sich ebenfalls anzuschließen.

Alle drei traten ein. Der Wachhabende verbeugte sich im Innern in Richtung der Königin und blieb bei der Tür zurück. Der Hofmarschall verbeugte sich erst vor seiner Königin und dann vor der Prinzessin, ehe er ihr andeutete, gemeinsam mit ihm zum Thron sich zu begeben.

Elisabeth von England schaute ihnen aufmerksam entgegen. Die Prinzessin erwiderte den forschenden Blick. Das tat sie selbstbewusst und anscheinend völlig ungeniert. Aber auch das gehörte zum Ritual. Erst als sie im vorgeschriebenen Abstand vor dem Thron Ihrer Majestät stand, zeigte sie einen artigen Knicks, der Ihrer Majestät ein wohlwollendes Lächeln entlockte.

"Aber bitte, Prinzessin Carla von Spanien, ich weiß doch, dass Ihr keinen sonderlichen Wert auf allzu übertriebene höfische Rituale legt. Setzt Euch einfach zu mir, denn die Tochter des von mir verehrten Philipp II., den ich als einen wohlwollenden Freund betrachte, ist selbstverständlich auch eine liebste Freundin von mir."

Diese Worte machten die Prinzessin weitaus unsicherer als jegliche Einhaltung von übertriebener Etikette.

Ihr Blick fiel auf die Sitzgelegenheit neben dem Thron, die selber ebenfalls wie ein Thron von wenig schlichterer Ausführung wirkte.

Sollte sie es wirklich wagen?

Andererseits: Sie konnte unmöglich die Bitte der Königin von England ausschlagen, erst Recht weil sie die Prinzessin von Spanien war.

"Ich weiß Eure Höflichkeit sehr wohl zu schätzen", sagte Carla zunächst vorsichtig, ehe sie der Bitte Folge leistete. "Es ist mir persönlich eine ganz besondere Ehre, zumal ich zwar die Prinzessin von Spanien bin, aber leider nur eine von mehreren, wie Ihr sicherlich wisst."

"Wie schon erwähnt, Verehrteste: Die Tochter eines Freundes ist mir ebenfalls eine liebste Freundin. Zumal die Umstände doch ein wenig unglücklich zu sein scheinen, die Euch zu mir geführt haben. Umso mehr muss meine volle Aufmerksamkeit Euch gelten. Ihr sollt all das Schreckliche der nahen Vergangenheit vergessen und neue Zuversichtlichkeit schöpfen dürfen. Ihr seid noch sehr jung, wenn Ihr die Bemerkung erlaubt und habt Euer Leben noch vor Euch. Selbst wenn es nicht danach aussehen sollte, dass Ihr jemals den Thron von Eurem Vater übernehmt, so bin ich mir dennoch darüber im Klaren, welch besondere Ehre es meinerseits bedeutet, Euch als liebsten Gast am Hofe Englands willkommen heißen zu dürfen."

Selten hatte Carla von Spanien Gelegenheit gehabt im Laufe ihres Lebens, jemanden zu hören, der es vermochte, sich so perfekt höfisch auszudrücken wie Königin Elisabeth von England. Sie war höchst beeindruckt.

"Wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt, Majestät, aber ich war von jeher beeindruckt von England und der beispiellosen Disziplin des englischen Volkes. Nun, da ich die Ehre habe, Euch persönlich näher kennenzulernen, wundert mich dies allerdings nicht mehr, denn welches Vorbild könnte leuchtender sein als das der englischen Königin?"

Daraufhin erst setzte sie sich neben die Königin hin.

Diese beobachtete sie dabei. In ihren Augen irrlichterte es. Sie war anscheinend gleichermaßen beeindruckt vom Vortrag der Prinzessin.

"Es ist nicht das erste Mal, da wir uns begegnen, Prinzessin, aber ich muss sagen, dass Ihr in einem erheblichen Maße in der Zwischenzeit gereift seid. Ihr seid wahrlich einer hochwohlgeborenen Prinzessin von Spanien würdig!"

Noch mehr solcher Floskeln?, dachte Carla respektlos, denn die Nervosität in ihrem Innern wollte sich einfach nicht lösen. Redet die Königin nur deshalb so lange um den heißen Brei herum, weil sie mir etwas mitzuteilen hat, was sicherlich unangenehm in meinen Ohren klingen mag?

Die Königin lächelte in einer Art, wie eine Mutter lächelt, wenn sie stolz ist auf ihre Tochter. Das irritierte Carla nur noch mehr.

"Lord Cooper hat mir berichtet von Eurem besonders tragischen Geschick", sagte Elisabeth von England auf einmal und ohne weitere Umschweife. "Ich versichere Euch, liebste Freundin, dass es wohl keinen Menschen auf dieser Welt gibt, der so sehr mit Euch fühlen kann wie ich. Ihr wisst, dass ich all meine Liebe und meine Kraft dem Wohle meines Volkes gewidmet habe. Somit hat in meinem Herzen kein Mann jemals mehr Platz. Jegliche Vermählung wäre für mich wie Verrat an meinem Volk."

"Ihr versteht meine Lage?"

Die Königin verlor ihr Lächeln und nickte ernst.

"Ja, das tu ich, liebste Freundin. Glaubt Ihr denn, mein Vater hätte es nicht versucht, mich unter die Haube zu bringen, wie er sich auszudrücken beliebte? Er hatte keinen Erfolg damit, auch wenn ich mich nicht gezwungen sah, dessentwegen sogar das Land zu verlassen. Insofern war meine Lage glücklicher als die Eure, denn mein Vater hatte letzten Ende jedesmal Verständnis für mein Sträuben."

"Mein Vater leider nicht!", sagte Carla traurig und senkte den Blick zu Boden.

Die Königin streckte ihre Hand aus und legte sie beruhigend auf den Unterarm der Prinzessin.

"Ja, gottlob hat mir der Lord alles erklärt. Drum konnte ich mir ein Bild machen über alles. Sagt mal, liebste Freundin, was haltet Ihr eigentlich von Lord Cooper? Ist er nicht ein wahrer Held?"

"Ja, das ist er!", strahlte Carla unwillkürlich. Sie bereute diese Überschwänglichkeit sofort, aber es war zu spät. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen.

Irritiert schaute sie die Königin an. Diese lächelte wieder und zog ihre Hand zurück. Was war das für ein Lächeln? War es nicht irgendwie... wissend?

"Nun, er ist in der Tat ein Held, unzweifelhaft", beeilte sich Carla zu versichern, um vielleicht wieder gut zu machen, was sie gerade in ihrer Unüberlegtheit angerichtet hatte. "Immerhin hat er mich befreit und..."

"Aber hat nicht eher jene Jeannet Euch befreit? Ich meine, es so verstanden zu haben."

"In der Tat, Majestät, Ihr habt Recht. Zunächst befreite mich Jeannet. Eine äußerst ungewöhnliche Frau, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet. Ein gefürchtetes Piratenschiff andererseits, wie man mich aufklärte. Ziemlich raue Gesellen, wenn Ihr wisst, was ich meine. Aber sie haben alles zu meinem Wohle getan. Das darf ich ihnen nicht vergessen. Ich war ihr Pfand, damit Lord Cooper sie frei abziehen ließ, doch ich hatte nicht den Eindruck, als wäre Jeannet darüber sonderlich unglücklich. Ganz im Gegenteil, ich habe ihr beim Abschied angesehen, dass sie sehr erleichtert war, mich beim Lord in den besten Händen zu wissen."

Es war nur so aus ihr hervorgesprudelt, beinahe wie ein Sturzbach, den kaum etwas zurückhalten konnte. Dabei hatte sie es nur getan, damit die Königin nicht merken sollte, was sie für Lord Cooper in Wirklichkeit empfand. Darum nur hatte sie die Rolle von Jeannet ganz besonders hervor gehoben.

Die Königin nickte ihr zu.

"Die Piraten haben Euch das Leben gerettet, wenn ich das richtig verstehe. Dafür haben sie letztlich freies Geleit erhalten. Doch so leid es mir tut: Sie sind Piraten und somit Feinde Englands. Genauso wie sie Feinde Spaniens sind."

"Aber das sind sie doch gar nicht!", widersprach die Prinzessin heftig, schlug sich aber sogleich selber auf den Mund. "Oh, verzeiht, Majestät, es lag mir fern, mich dermaßen im Ton zu vergreifen, Euch gegenüber, aber..."

Die Königin legte beruhigend ihre Hand auf den Arm der Prinzessin.

"Keine Bange, liebste Freundin, ich weiß doch, was Ihr erleiden musstet. Erst die verhasste Vermählung, die Euch ins Hause stand. Dann die Flucht in die Ungewissheit. Schließlich der Überfall der Piraten... Ihr seid eine wahrhaft starke Persönlichkeit, wie ich sehe, sonst hättet Ihr das nicht mit solcher Bravour überstanden, wie Ihr sie an den Tag legt. Wie schon gesagt: Es gibt niemanden, der mehr Verständnis für Euch haben könnte als ich."

"Ich bin Euch ja so dankbar, Majestät." Carla senkte betroffen den Kopf.

Da ging die Königin sogar noch einen Schritt weiter, fasste ihr unter das Kinn und hob ihr Gesicht, um es zu betrachten.

"Darf ich Euch sagen, wie sehr ich Euch bewundere für Euren Mut, Eure immense Kraft, Euren Verstand und Euren Willen? Ich kenne keine Frau, die alles dies so gut hätte überstanden können. Obwohl ich vermute, dass Lord Donald Cooper nicht ganz unschuldig daran ist, dass es Euch vergleichbar gut geht nach alledem?"

"Der - der Lord?", stotterte Carla verwirrt ob der überraschenden Wendung.

"Er ist einer meiner engsten Berater. Daher darf ich betonen, ihn besonders gut zu kennen? Ich weiß auch, wie rücksichtsvoll er sein kann und... verständnisvoll. Er hat doch sicher gesehen, wie es Euch ergangen war und hat alles getan, um Euch beiseite zu stehen, damit Ihr wieder neuen Mut zu schöpfen bereit wart?"

"Ich - ich verstehe nicht so recht... Das - das heißt... Ja, gewiss, Majestät, Lord Cooper war uneingeschränkt für mich da, um mich zu unterstützen. Es gibt wohl keinen Menschen, dem ich mehr vertrauen könnte. Ich kann gut verstehen, dass Ihr Euch darob so sehr auf ihn verlasst..."

Gott, was rede ich denn da für einen Unsinn?, schrien ihre Gedanken alarmiert. Was bezweckt die Königin mit alledem? Was will sie von mir? Sie ist die Königin von England. Da wird sie doch wohl nicht einfach nur... nett sein wollen zu mir?

Ihre Augen hatten sich unnatürlich geweitet. Ihre Lippen zitterten, doch sie sagte lieber nichts mehr, um sich nicht noch mehr zu verraten.

Die Königin lächelte still und zog ihre Hand zurück. Sie wandte den Blick von der Prinzessin ab und schaute in Richtung Tür. Das Lächeln wollte einfach nicht mehr aus ihrem Antlitz entweichen.

"Ja, in der Tat, ich hege größte Bewunderung für Euch, Prinzessin." Blitzschnell wandte sie sich wieder an Carla. "Es wäre schier unzumutbar, Euch überreden zu wollen, an den Hof Eures Vaters zurückzukehren!"

"Ja, wirklich?", entfuhr es der verdatterten Prinzessin.

"Ja, soll ich denn tatenlos mit ansehen, wie meine liebste Freundin in die Hände eines Fremden fällt? Soll so ein junges, blühendes, starkes Leben, wie ich es mit eigenen Augen sehe, irgendwo in einem kahlen Karpatenschloss verblühen?"

Carla von Spanien rührten diese Worte so sehr, dass unwillkürlich Tränen in ihre Augen traten. Sie konnte es nicht verhindern.

Die Königin betrachtete sie wohlwollend.

"Lasst Euren Gefühlen freien Lauf, werteste Freundin." Sie winkte dem Hofmarschall zu, der natürlich immer noch auf seinem Platz stand und sich bemühte, möglichst unauffällig zu tun. "Verlasst uns!" Auch an den Wachhabenden an der Tür wandte sie sich: "Schließt von außen. Ich möchte mit der Prinzessin allein sein."

Auch dafür war ihr die Prinzessin höchst dankbar. Kaum waren die Männer draußen, als ihr die Tränen förmlich aus den Augen schossen.

Die Königin streichelte verständnisvoll über ihr Haupt. Ja, sie behandelte die Prinzessin tatsächlich wie eine liebende Mutter. Es tat Carla unendlich gut und sie konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass die Königin von England jemals eine Entscheidung treffen könnte, die nicht zu ihrem Besten war.

Doch welche Entscheidung würde sie letztlich denn treffen?

Carla gab sich zwar voll und ganz ihrem Gefühlsausbruch hin, weil es sie immens erleichterte und weil sie sich wirklich keinen Menschen mehr vorstellen konnte, der dafür mehr Verständnis haben könnte als Königin Elisabeth, aber tief in ihrem Innern schlummerte immer noch ein Rest von Furcht vor der nahen Zukunft. Sie erinnerte sich sehr wohl an die bedenklichen Worte des Lords, der ihr klar gemacht hatte, dass die Königin von England die Anwesenheit einer Prinzessin von Spanien unmöglich auf Dauer geheim halten durfte. Für den König von Spanien würde das letztlich wie eine Kriegserklärung erscheinen. Nein, das konnte sie doch unmöglich riskieren. Oder?

Ihre tränenverschleierten Augen richteten sich auf die Königin. Sie forschte in deren Gesicht, doch sie konnte keinerlei Hinweis erkennen auf eine etwaig negative Entscheidung. Und sie erinnerte sich auch an die Worte der Königin, die diese erst vor Minuten gesprochen hatte und die deutlich aussagten, dass es ihres Erachtens als unzumutbar angesehen werden durfte, die Prinzessin zurückzuschicken nach Spanien.

Und wieso zweifelte Carla trotzdem noch an ihrer eigenen Hoffnung?

Die Königin reichte ihr sogar ein Taschentuch für ihre Tränen. Sie tat alles, um die Prinzessin zu trösten. Eben wie eine liebende Mutter es mit ihrer Tochter getan hätte.

Hatte sie Carla nicht auch als liebste Freundin bezeichnet? Dann war die Königin von England zumindest eine Art mütterliche Freundin.

Gedanken, die Carla mehr und mehr halfen, sich wieder zu beruhigen. Bis am Ende ihr Tränenfluss versiegte und sie wieder die Kraft hatte, sich in aller Form für den Beistand zu bedanken.

Die Königin erwiderte daraufhin nur sanft: "Ist es nicht üblich unter Freundinnen, sich gegenseitig beizustehen?"

Jetzt schaute Carla sie offen an.

"Ihr seid wirklich auf meiner Seite!" Ja, das war keine Frage, sondern eine Feststellung gewesen. "Aber ich kann das nicht verantworten, mit Verlaub, Majestät."

"Was könnt Ihr nicht verantworten?"

"Lord Cooper hat mit mir bereits darüber gesprochen, auf dem Weg hierher."

"So, was sagte er denn?"

"Er wies darauf hin, dass es einer Beleidigung der spanischen Krone gleich komme, wenn Ihr mein Hiersein auf Dauer gegenüber meinem Vater verheimlichen würdet."

"So, das meinte er?" Dem Gesicht der Königin war nicht im Geringsten anzusehen, was sie dachte.

Carla fuhr fort: "Es hat mich zunächst mit Furcht erfüllt. Ich musste daran denken, was mir bevor steht, aber der Lord hat mir klar gemacht, dass ich unmöglich meine persönlichen Belange über die Belange zweier Völker stellen darf. Ich bin die Prinzessin von Spanien. Das gibt mir aber noch lange nicht das Recht, einen Konflikt zwischen unseren beiden Nationen zu provozieren - nur um mir vielleicht selber dabei einen Gefallen zu tun, um es einmal so zu umschreiben."

"Aha, das ist wirklich Eure Meinung?"

"Ja, nachdem mir Lord Cooper dahingehend die Augen geöffnet hat."

"Nun, ich muss zugeben, dass ich diese Möglichkeit noch in keiner Weise in Betracht gezogen habe. Allerdings bleibt es dabei, dass ich es unmöglich zulassen kann, Euch mit einem solch tragischen Schicksal sozusagen... enden zu lassen. Zwar kann ich die Motive Eures Vaters durchaus nachvollziehen und möchte ihn auch in keiner Weise unnötig verärgern, aber..."

Sie brach ab. Für Carla eine Gelegenheit, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen.

"Das ist halt der Punkt, Majestät: Mein Vater will in dieser Angelegenheit auf niemanden hören. Nicht nur nicht auf mich, sondern mit Sicherheit auch auf niemand anderen."

"Soll das etwa heißen, Euer Entschluss steht bereits fest und Ihr wollt Euch diesem schlimmen Schicksal stellen - freiwillig gar?"

"Ich denke mal, mir bleibt in der Tat nichts anderes übrig, Majestät."

"Aber, wie könnte ich das jemals zulassen?" Die Königin schüttelte heftig den Kopf. "Nein, meine Liebe, wir wollen nichts überstürzen. Ihr seid mein liebster Gast und sollt das so lange bleiben, wie Ihr wollt. Lasst Euch Zeit, über alles genauestens nachzudenken. Wägt alles sorgfältig ab, ehe Ihr euch zu Entscheidung hinreißen lasst, die Ihr später vielleicht bitter bereut. Denkt auch an Eure Flucht vom Hofe und an alles, was Euch danach widerfuhr. Soll dies alles denn umsonst gewesen sein? Und das wäre es, wenn Ihr jetzt so einfach nach Spanien zurückkehren würdet."

Carla von Spanien schaute die Königin an und hatte Mühe, zu begreifen, was sie soeben mit eigenen Ohren gehört hatte. Es klang ja gerade so, als wäre sie der Königin so sehr ans Herz gewachsen in dieser kurzen Zeit - vielleicht angesichts ihres besonderen Schicksals? -, dass sie ihretwegen sogar einen Konflikt mit ihrem Vater riskierte.

"Lieber Gott, wie könnte ich das zulassen: einen Konflikt zwischen Spanien und England - meinetwegen? Wie könnte ich so egoistisch sein und nicht nur meinen Vater, sondern auch Euch, die Ihr so gütig zu mir seid, ins Unglück zu stürzen?"

Die Königin lächelte sie wieder an und streichelte sanft ihre Wange.

"Nicht doch, liebste Freundin. Ihr seht das viel zu schwarz. Überschlaft erst einmal alles und lernt, zuversichtlicher zu werden. Ja, gewiss, Ihr dürft nicht alles so schwarz sehen. Ich glaube, ich werde mal ein ernstes Wörtchen mit dem Lord zu reden haben, denn offensichtlich trägt er die Schuld daran, dass Euch solch düstere Gedanken quälen."

"Aber nein, Lord Cooper ist da völlig unschuldig!", beeilte sich Carla zu versichern. "Er hat mir nur die Möglichkeiten aufgezählt, dabei aber versichert, dass es auch für ihn schrecklich wäre, wenn ich unter solchen Bedingungen an den Hof meines Vaters zurückkehren müsste."

"Ja, aber alles, was Ihr an Argumenten aufgesagt habt, betrifft Entscheidungen, die außerhalb von Euch liegen, wenn Ihr mir diese Formulierung erlaubt. Ich meine, Ihr müsstet wirklich so egoistisch sein und in erster Linie an Euch selber denken. Es kann niemand von Euch verlangen, auch in Eurer Eigenschaft als Prinzessin von Spanien, etwas zu tun, was euch dermaßen zuwider ist. Und falls ich etwas zu Eurem Wohle tu, was Probleme anderer Art beschwört, dann solltet Ihr Euch wirklich nicht Euren Kopf darüber zerbrechen. Überlasst das getrost mir selber."

"Ja, glaubt Ihr denn, es gäbe auch nur die geringste Möglichkeit, dies alles zu aller Zufriedenheit zu lösen?"

"Nein, das wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen. In der Tat muss ich gestehen, ebenso ratlos zu sein wie Ihr. Soll heißen, ich kenne keine Lösung, außer der einfachen, Euch hier am Hofe in Sicherheit zu lassen, so lange es Euch richtig erscheinen mag. Mehr noch: Ich werde alles tun, um Euch zu überreden, weiterhin hier zu bleiben, falls Ihr glauben solltet, doch wieder nach Spanien zurückkehren zu müssen."

"Trotz der Gefahren und Risiken, die Ihr dadurch eingeht?", konnte Carla nicht aufhören, sich zu wundern.

"Es sind doch nur so lange Gefahren und Risiken, bis man eine Lösung gefunden hat. Aber wie schon gesagt: Darüber solltet nicht Ihr Euren hübschen Kopf zerbrechen, meine Liebe. Ihr habt in der letzten Zeit wirklich schon genug auf Euch genommen, um nicht auch noch dafür sich zuständig fühlen zu müssen. Ich schlage vor, Ihr ruht Euch erst einmal gründlich aus. Ich werde dafür sorgen, dass Lord Donald Cooper, der Euch ja weitgehend vertraut ist inzwischen, zu Eurer persönlichen Verfügung abkommandiert wird. Ich glaube, es dürfte auch in seinem Sinne sein, denn seinen Worten konnte ich entnehmen, dass er in Sorge um Euch ist. Dass er bereits mit Euch über alles gesprochen hat, bestätigt meinen Eindruck sogar."

"Oh, ich weiß nicht, wie ich Euch dies alles jemals danken kann!", rief die Prinzessin enthusiastisch.

"Das braucht Ihr nicht, Prinzessin Carla. Ich sagte doch schon, dass Ihr mir eine liebste Freundin seid. Da ist dies alles doch selbstverständlich. Ich denke mal, wenn ich an Eurer Stelle wäre und Ihr auf dem Thron von England, würdet Ihr nicht anders handeln."

"Ja, da habt Ihr Recht: Das würde ich. Ach, ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der mit Euch verglichen werden könnte. Erlaubt Ihr mir diese Worte? Sie kommen aus ganzem Herzen, Majestät. Ihr seid eine Königin, wie sie würdiger gar nicht sein könnte. Euer Volk darf stolz auf Euch sein - und ich bin es gleichermaßen."

"Oh, Eure Worte tun wahrlich gut!" Konnte es sei, dass Königin Elisabeth von England so etwas wie verlegen werden konnte?

"Ja, es sind nicht nur Worte. Ihr könnt versichert sein, dass ich für mein ganzes Leben Euch zugetan sein werde. Niemals werde ich vergessen, was Ihr zu tun bereit seid für mich, die ich doch bisher eine Fremde für Euch war. Mehr noch, wenn ich daran denke, wie schlecht ich mich beim ersten Mal benommen habe..."

Elisabeth von England winkte in einer fast lässig anmutenden Geste ab und erlaubte sich wieder ein Lächeln.

"Ihr seid inzwischen ungewöhnlich erwachsen geworden, Prinzessin. Bei allem, was Ihr durch machen musstet, eigentlich kein Wunder. Aber jetzt soll alles vergessen werden, was Euch bislang über Gebühr belastet hat. Ich will sehen, wie Ihr wieder aufblüht zur strahlenden Prinzessin, auf die das spanische Volk voller Stolz zu schauen vermag. Ach, ich denke, wenn Euer Volk wüsste, wie tapfer Ihr seid, bei alledem, wäre es jetzt schon stolz und würde sich überaus glücklich schätzen, eine solche Prinzessin zu haben!"

Carla musste sich selbst eingestehen, dass sie sich seit viel zu langer Zeit nicht mehr so wohl und glücklich gefühlt hatte. Vielleicht war auch der Umstand mit ein Grund, dass die Königin ihr versprochen, hatte, den Lord zur ihrer persönlichen Verfügung abzustellen? Könnte es noch besser kommen?

Ja, konnte es, wie die Prinzessin ganz genau wusste: Noch besser wäre es nämlich gewesen, Lord Cooper hätte endlich eingesehen, dass er sie genauso innig liebte wie sie ihn!

Doch wenn er in der nächsten Zeit wirklich so intensiv seine Zeit mit ihr verbringen musste, wie die Königin es indirekt bereits angeordnet hatte, würde sich das beinahe von allein ergeben. Da war die Prinzessin ziemlich zuversichtlich.

"Erlaubt Ihr somit, dass ich mich zurückziehe, Majestät?", erkundigte sich Carla vorsichtig.

"Ja, meine Liebe, aber natürlich. Ihr braucht dringend Ruhe und Erholung, was ja kein Wunder ist. Ich habe das Gleiche auch Lord Cooper befohlen. Morgen werde ich ihn empfangen und ihm seine neue Aufgabe verkünden. Ich bin überzeugt davon, dass keine Entscheidung ihm angenehmer erscheinen könnte."

Tatsächlich?, jubelten Carlas Gedanken. Aber dann hat er doch in einer Weise von mir gegenüber der Königin gesprochen, dass sie dringend annehmen muss, er sei gern mit mir zusammen? Und wenn er solchermaßen gern mit mir zusammen ist, was könnte das denn anderes bedeuten als dass er mich überaus sympathisch findet? Ja, gewiss sogar noch mehr als nur sympathisch...

Sie strahlte so sehr, dass die Königin es überdeutlich sehen konnte. Aber Königin Elisabeth lächelte dabei nur ihr stilles und unergründliches Lächeln.

Prinzessin Carla stand tatkräftig auf und tat einen Knicks vor der Königin. Sie nahm sogar überschwänglich deren Hand und küsste sie dankbar.

Als Prinzessin von Spanien konnte sie sich diese Geste durchaus erlauben. Zumal ihr die Königin ja deutlich genug gezeigt hatte, welch große Sympathien sie für die Prinzessin hegte.

Doch Carla wusste auch, dass sie es nicht übertreiben durfte. So zog sie sich rückwärts gehend und mit gesenktem Haupt zurück, um der Königin ihrer äußerste Ehrerbietung zu zollen.

Die Tür wurde erst geöffnet, als sie mit dem Rücken dagegen stieß und klopfte.

Der Hofmarschall hatte geduldig gewartet. Er sah, dass die Prinzessin geweint hatte, hütete sich jedoch, dahingehend etwas zu sagen.

Auch die Wachhabenden schauten nur neugierig, allerdings nicht allzu offen, damit es nicht unschicklich wurde.

"Bitte, führt mich in meine Gemächer zurück, Hofmarschall!", bat die Prinzessin.

Sie setzte sich nicht sogleich in Bewegung, sondern erlaubte sich noch hinzuzufügen: "Ihre Majestät, die Königin von England, ist wahrlich die ungewöhnlichste Königin auf Erden. Jedes Volk kann sich überaus glücklich schätzen, von einer solchen Majestät regiert zu werden!

Das sagte sie dermaßen überschwänglich, dass jeder sie überrascht ansah. Aber dann nickten sie verständnisvoll, dachten sie doch genauso über Königin Elisabeth.

Sonst hätten sie nicht die Stellung inne gehabt, die sie begleiteten...


Drei große Historical Sagas: Meeresfluch und Hansehaus

Подняться наверх