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1.2 Pädagogische Haltungen

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Im pädagogischen Handeln ist also beides gefragt: Einerseits sollen alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Gleichheit im Sinn ihrer Gleichberechtigung anerkannt werden und andererseits auch in ihrer Verschiedenheit im Sinn ihrer Einzigartigkeit und Individualität. Lanfranchi (2008) spricht in diesem Zusammenhang von einem «Drahtseilakt»: Immer wieder muss balanciert und abgewogen werden, je nach Situation und Angemessenheit. Häufig ist deshalb die Rede von einem Anspruch auf «situationsangemessenes Handeln».

Aber woran können wir uns orientieren, wenn es darum geht, in der jeweiligen Situation das angemessene Handeln zu finden? Forschungen haben gezeigt, dass es einen grossen Unterschied macht, mit welcher Grundhaltung Lehrpersonen an diese Fragen herangehen (Leutwyler & Mantel, 2015). Es lohnt sich daher, auf die eigenen Einstellungen und Weltbilder zu achten, denn sie bilden den Ausgangspunkt für unsere Blickwinkel und Handlungsideen. Wir möchten dazu einladen, dabei insbesondere auf das zu achten, was erst auf den zweiten Blick ins Blickfeld gerät. Häufig merken wir erst bei genauerem Hinsehen, was es auch noch zu beachten gilt oder wo Handlungsmöglichkeiten liegen, die wir auf den ersten Blick übersehen haben. Im Pflegen dieses «zweiten Blicks» liegen die Chancen für das Entwickeln und bewusste Einnehmen einer Haltung, die das situationsangemessene Handeln im Migrationskontext massgeblich begünstigt und auch erleichtert.

Auf den ersten Blick reagieren wir häufig intuitiv, auch emotional und auf der Basis unserer Gewohnheiten. Und weil diese Gewohnheiten so stark von gesellschaftlichen Diskursen und gängigen Vorurteilen geprägt sind, enthalten diese ersten Reaktionen oftmals Stereotypisierungen. Dabei neigen wir dazu, Vorurteile zu rechtfertigen, um Unsicherheiten aus dem Weg gehen zu können.

Das Weltbild, das sich darin zeigt, ist oftmals eines, in dem Normalitätsvorstellungen auf eine «Wir-Gruppe» bezogen werden: «Wir» bilden gemeinsam die «Normalität», und die «Anderen» sind diejenigen, die von dieser «Normalität» abweichen, und meistens – so der häufige erste Gedanke – eher zum schlechteren. Dieses Schema von «wir» und «die Anderen» ist für diejenigen, die darin als «Andere» gelten, sehr gut spürbar. Allzu leicht entsteht daraus das Gefühl von Nichtzugehörigkeit und von subtiler Ausgrenzung und Abwertung.

Der zweite Blick bietet die Chance, dieses Weltbild zu überdenken, noch einmal genauer hinzusehen und zu neuen, auch kreativen und mitunter überraschend einfachen und entspannten Handlungsoptionen zu gelangen. Das Weltbild, das sich hier als überaus hilfreich erweist, ist eines, das von der Vielfalt als Normalität ausgeht: Wir sind vielfältig und das ist normal. Es hat mehr Platz für Vielfalt als wir oft denken.

Das heisst keineswegs, dass wir alles gutheissen müssen. Auch aus diesem Weltbild heraus gilt es, Normen und Regeln auszuhandeln (siehe Hintergrundinformationen, «Klassen- und Schulkultur der Anerkennung»). Allerdings bietet diese Sichtweise die weit bessere Ausgangslage, um dabei Zugehörigkeiten nicht infrage zu stellen und um in den Unterschiedlichkeiten auch die Gemeinsamkeiten wahrnehmen zu können. Über Unvertrautes kann gestaunt werden, ohne das Vertraute dabei abwerten zu müssen. Diese Grundhaltung, in der Verschiedenes in einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit nebeneinander Platz hat, kann eine Klassen- und Schulkultur in einer Weise prägen, dass darin echte Anerkennung erfahren wird.

Auf den ersten BlickAuf den zweiten Blick
Grundhaltung / Weltbild
–Unterscheidung zwischen einem «Wir» und den «Anderen»–Tendenz zur Ausgrenzung und Abwertung der «Anderen»–Alle gehören dazu
Normalitätsvorstellungen
–Die «Wir»-Gruppe repräsentiert die «Normalität»–Die «Anderen» weichen von dieser «Normalität» ab–Vielfalt ist die Normalität–Gemeinschaft braucht Regeln
Tendenz zum Handeln nach …
–Gewohnheiten–gesellschaftlich gängigen Stereotypen–vermeintlichem Wissen–kreativen Ansätzen–Sensibilität für Zugehörigkeitsfragen–Wissen um die Begrenztheit des Wissens

Auch Brügelmann (2001, zitiert in Friedli Deuter, 2014, S. 10) unterscheidet zwischen diesen beiden Weltbildern und bildet dabei eine interessante Gegenüberstellung: Wenn wir von einer Norm ausgehen, von einem normativen Denken und Empfinden,

–bedeutet Heterogenität «Abweichung» von einer Norm,

–bedeutet Integration Einbeziehung des «Andersartigen»,

–bedeutet Differenzierung «Spezialbehandlung» gegenüber der Normgruppe.

Verstehen wir unter «Normalität» aber, dass jeder Mensch einzigartig ist, dass die Vielfalt die Norm ist,

–bedeutet Heterogenität schlicht «Unterschiedlichkeit»,

–bedeutet Integration «Gemeinsamkeit»,

–bedeutet Differenzierung Raum für die «Individualität».

Wenn wir dieser Perspektive, die von der Vielfalt als Norm ausgeht, vermehrte Beachtung schenken, kann sie zum Ausgangspunkt werden für das Abwägen von Handlungsoptionen.

Allerdings ist der Schulalltag oft hektisch, Entscheidungen müssen mitunter schnell gefällt werden, und oftmals besteht ein Handlungsdruck, bei dem wenig Zeit bleibt für besonnenes Betrachten und wohlüberlegtes Handeln. Stattdessen hat man häufig schon gehandelt, bevor man eine Chance hatte, die ganze Situation zu überblicken. Es ist einfach nicht immer möglich, auf Anhieb die angemessenste Handlungsoption zu finden. Auch im Nachhinein lohnt es sich aber, noch einmal über eine solche Situation nachzudenken, sich auch im Kollegium darüber auszutauschen und die weitere Planung an diesen Reflexionen auszurichten.

Auf den zweiten Blick (E-Book)

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