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Sich selbst erkennen

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Neben dem offenen und differenzierten Blick auf das Gegenüber und dem Versuch eines Perspektivenwechsels ist es auch hilfreich, den Blick zurückzulenken auf sich selbst. Wir sind Teil sozialer Strukturen, in denen manche mehr, andere weniger Handlungsspielraum haben und deshalb auch Begrenzungen und Einschränkungen erleben. Für diejenigen, die selbst solche Begrenzungserfahrungen gemacht haben, ist diese Form der Selbsterkenntnis leichter, während sie für diejenigen, die über weniger solcher Erfahrungen verfügen, oft eine grosse Herausforderung darstellt.

Wir können uns aber vor Augen führen, was für Mehrheitsangehörige der Gesellschaft im Grunde «normal», hingegen für andere – etwa für manche Eltern – durchaus nicht selbstverständlich ist (vgl. auch McIntosh, 1989):

–Wenn ich rechtliche oder medizinische Hilfe benötige, kann ich recht sicher sein, dass meine Herkunft nicht gegen mich arbeitet.

–Ich habe keine Schwierigkeiten, ein Wohnviertel zu finden, in dem ich von der Nachbarschaft neutral behandelt oder fraglos respektiert werde.

–Ich kann gekaufte Artikel, die einen Defekt haben, ins Geschäft zurückbringen und davon ausgehen, dass ich eine Rückerstattung dafür bekomme.

–Ich kann zu spät zu einer Verabredung kommen, fluchen oder Secondhandkleidung tragen, ohne dass mir das als Kulturdifferenz, schlechte Moral oder Armut ausgelegt wird.

–Ich kann Spass haben am Trommelspielen und werde nicht gleich mit klischierten Vorstellungen von Strohhüttenromantik oder Voodoo in Verbindung gebracht.

–Wenn ich an einem Elternabend etwas Kritisches anmerke, kann ich damit rechnen, dass meine Kritik gehört wird und ein gewisses Gewicht hat.

–Wenn ich kritisiert werde, dann hat das ziemlich sicher nichts mit meiner Herkunft zu tun.

–Ich kann von einem Elternabend nach Hause gehen und mich einigermassen eingebunden und «normal» fühlen anstatt fehl am Platz, exotisch, auf Abstand gehalten oder latent unerwünscht.

–Wenn es bei meinen Kindern schulische Schwierigkeiten gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich darauf einigen Einfluss nehmen kann.

–Ich kann mich mit Migrationsphänomenen auseinandersetzen, ohne dass mir dabei Eigennützigkeit unterstellt wird.

–Ich werde dort, wo ich wohne und mich zu Hause fühle, nie danach gefragt, woher ich komme.

Diese alltäglichen Selbstverständlichkeiten sind eine Folge gewachsener gesellschaftlicher Strukturen, in denen die Einflussmöglichkeiten ungleich verteilt sind und in denen inhärente Glaubenssätze wirksam sind, wie etwa: «Wir» sind die «Entwickelten», «demokratisch Denkenden», «Kultivierten», «Aufgeklärten» und «Gebildeten», während im Gegenzug eine Gruppe von «Anderen» konstruiert wird, denen kontrastierende und abwertende Attribute wie «unterentwickelt», «rückständig» oder «ungebildet» pauschal zugeschrieben werden. Häufig ist in diesem Zusammenhang von einem subtil wirksamen Alltagsrassismus die Rede (vgl. Eser Davolio, 2016, S. 41; Scharathow, 2015).

Als Lehrperson ist es nützlich, sich dieser Strukturen bewusst zu sein und eine Sensibilität dafür zu entwickeln. Gerade bei Migrationsthemen, die medial und öffentlich vorwiegend negativ diskutiert werden, braucht es bei Migrierten oftmals wenig, um sich ein weiteres Mal abgelehnt, missverstanden oder unerwünscht zu fühlen. Eine Primarlehrerin, die aus Kroatien in die Schweiz migriert ist und diese Strukturen aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, rät dazu, sich diese Verhältnisse ab und zu vor Augen zu führen, um das Verhalten mancher Migrierter besser nachvollziehen zu können. Ein Oberstufenlehrer mit langjähriger Lehrerfahrung in einem Einwanderungsquartier erzählt, es habe ihm neben den Begegnungen auch geholfen, entsprechende Filme zu sehen und Bücher zu lesen, um diese sozialen Verhältnisse besser zu verstehen und sich in die Lebensumstände von Migrantinnen und Migranten besser einfühlen zu können. Zu diesem Zweck könnten folgende Bücher nützlich sein:

Unter Weissen. Was es heisst, privilegiert zu sein (von Mohamed Amjahid, erschienen 2017 im Hanser Berlin Verlag)

–Witzige und unterhaltsame Erzählungen über das ernsthafte Thema, wie es ist, in einem Land zu leben, in dem man für viele anders aussieht als «normal» und in dem die Privilegierten nicht wissen, dass sie privilegiert sind.

Fremde Federn. Geschichten zur Migration in der Schweiz (herausgegeben von Migros Kulturprozent, erschienen 2004 im schulverlag plus)

–Im Rahmen eines Wettbewerbs wurden Migrantinnen und Migranten eingeladen, eine persönliche Geschichte aus ihrem Leben aufzuschreiben. Es wurden über 500 Geschichten eingereicht und 22 davon für dieses Buch ausgewählt. Die Erzählungen geben bewegende Einblicke und spiegeln den schweizerischen Alltag in zahlreichen Facetten.

balkan-kids. Die neuen Schweizer erzählen (von Eva Burkard, erschienen 2010 im Huber Verlag)

–Berührende Texte von Jugendlichen mit einer Migrationsgeschichte aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei.

Als Serbe warst Du plötzlich nichts mehr wert: Serben und Serbinnen in der Schweiz (von Dejan Mikic und Erika Sommer, erschienen 2003 bei Orell Füssli)

–Erzählungen von acht Lebensgeschichten aus einer Zeit, in der die serbische Bevölkerung in der Schweiz ein pauschal-negatives Image bekam.

Exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen (von Tupoka Ogette, erschienen 2017 im Unrast-Verlag)

–Eine kleine rassismuskritische Reise, auf der Wissen über die Wirkung von Rassismus erworben werden kann und auf der die Lesenden eingeladen werden, über sich selbst nachzudenken.

Auf den zweiten Blick (E-Book)

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