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Andere Perspektiven erwägen

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Auf der Basis einer solchen Offenheit ist es ausserdem hilfreich, andere Perspektiven in Betracht zu ziehen. Es kann verblüffend sein, wie anders eine Situation aussieht, wenn sie aus der Sicht des Gegenübers betrachtet wird. Allerdings ist es oft nicht ganz einfach, sich Sichtweisen vorzustellen, die von der eigenen abweichen, und deshalb besonders hilfreich, sich darüber mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Und am hilfreichsten ist natürlich das direkte Nachfragen, sofern das möglich und passend ist.

Kölsch-Bunzen, Morys und Knoblauch (2015) erzählen dazu eine erhellende Geschichte: Eine Mutter holt ihren Sohn jeweils abends von einer Kindertagesstätte ab. Die Fachkraft beobachtet, dass der Junge sich dabei auf die Garderobenbank setzt und seiner Mutter die Schuhe zum Zubinden entgegenstreckt, woraufhin sich die Mutter vor ihn auf den Boden kniet und ihm die Schuhe bindet. Die Fachkraft schüttelt innerlich den Kopf, da sie weiss, dass der Junge auch selbst in der Lage ist, seine Schuhe zu binden, und es nicht richtig findet, dass er sich von seiner Mutter bedienen lässt. Spontan vermutet sie darin ein männlich-dominantes Verhalten, das von der Mutter auch noch gefördert wird. Die Fachkraft sucht daraufhin das Teamgespräch, und dabei wird ihr bewusst, wie viele Annahmen in ihre Vermutungen eingeflossen sind, über die sie im Grunde wenig weiss: Handelt es sich um ein Verhalten, das immer auftritt oder nur in bestimmten Situationen? Handelt es sich dabei um ein «Bedienen» oder möchte die Mutter ihre Fürsorge ausdrücken? Möchte sich der Sohn bedienen lassen, oder möchte er seine Verbundenheit mit der Mutter zeigen? Spielt es zur Erklärung dieser Situation eine Rolle, dass die Mutter in der Türkei aufgewachsen ist? Im Verlauf dieses kollegialen Austauschs wird bei der Fachkraft aus dem innerlichen Kopfschütteln allmählich Neugier und Offenheit, sodass sie beschliesst, bei nächster Gelegenheit das Gespräch mit der Mutter zu suchen. Die Mutter erzählt ihr, dass sie einer Vollzeitarbeit nachgeht, ihren Sohn deshalb abends erst spät abholen kann und ihm dabei von Anfang an zeigen möchte, dass sie ihn liebt und gern für ihn sorgt. Gleichzeitig sei ihr die Selbstständigkeit ihres Sohnes wichtig, er habe deshalb bereits gelernt, die Schuhe selbst zu binden. Das Verhalten ihres Sohns deutet sie so, dass er sich in der abendlichen Abholsituation gerne auf das «Begrüssungsspiel» einlasse (ebd., S. 35).

Das Verhalten der Fachkraft ist dabei beispielhaft: Sie nimmt ihre eigene Irritation wahr, tauscht sich mit ihrem Team darüber aus, reflektiert ihre eingeflossenen Annahmen, wandelt sie in Fragen um und öffnet sich schliesslich dafür, der Erklärung der Mutter zuzuhören und dieser anderen Perspektive Raum zu geben.

«Aus der Sicht des Anderen kann eine Situation manchmal dramatisch anders aussehen.» (Zitat aus der Projektgruppe)

Auf den zweiten Blick (E-Book)

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