Читать книгу Zerrissen - Andreas Osinski - Страница 3

Kapitel 1

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„Ich Dich auch!“ antwortete der bärtige Mann mit angespannter Stimme und beendete das Gespräch mit einem kurzen Druck auf den roten Knopf des Mobiltelefons. Er umklammerte das schwarze Telefon mit der Rechten und lehnte sich behutsam in den Sitz zurück. Langsam schloß der Mann die Augen und drückte den verspannten Nacken gegen das kühle Leder der abgewetzten Kopfstütze. Es war so gut, daß sie ihn jetzt noch mal angerufen hatte. Und es war so gut, ihre Stimme zu hören. Es ging ihm schon viel besser, jetzt, nachdem sie ihn wieder ein wenig beruhigt hatte. Jedenfalls zitterte er nicht mehr so heftig und auch dieses flaue Gefühl in der Magengegend war auch fast verschwunden. Aber er fühlte sich immer noch sehr angespannt und ausgelaugt. Diese Sache war kräftezehrender, als er sich selbst eingestehen wollte. Es würde alles klappen, hatte seine Freundin ihm wieder und wieder gesagt und er glaubte es ihr. Es war alles gut durchdacht und die einzige Chance, die ihnen noch geblieben war. Sie konnten von vorn beginnen, alles Vergangene einfach hinter sich lassen. Ein neues Leben beginnen! In spätestens drei Tagen würde sie bequem auf der Veranda sitzen, die Beine hochgelegt. Eine Dose Molsen Bier in der Hand, daneben der knisternde Grill mit den zentimeterdicken Steaks darauf. Wie hatte er das vermißt, in den letzten Jahren. Wie oft war diese Szenerie in seinen Kopf umhergekreist. In der kargen Gefängniszelle, vier mal zwei Meter. Die Zeit bis dahin würde sie auch noch überstehen, ging es ihm durch den Kopf. Irgendwie würde es schon gehen. Der Mann öffnete vorsichtig die Augen und blickte durch das Seitenfenster des Wagens hinüber zum Hauseingang. Jede Minute das bestimmte Ereignis erwartend, das alles schlagartig ändern und ihn endlich aus dieser Angespanntheit befreien würde. Er wußte es. Sobald er sein Opfer in der Eingangstür erblickte, würde sich diese Spannung lösen. Genau so, wie ein Baum im Herbst die Blätter verliert, würde diese lästige Unruhe von ihm abfallen. Einfach so. Dann würde er nur noch funktionieren, wie eine Maschine. Keine Zeit mehr für Gefühle! Es war sein Teil des Jobs, den er hier zu erledigen hatte. Und er würde ihn gut machen. So gut es eben ging. Der Bärtige kniff die müden Augen zusammen. Genau so mußte sich ein Marathonläufer fühlen, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Ein Marathonläufer, der die Nähe des vorausliegenden und immer näher rückenden Zieles förmlich spüren konnte, ohne es jedoch bereits erblickt zu haben! Müde und ausgelaugt, die Beine schwer wie Blei. Aber mit dem eisernen Willen, die Sache zu Ende zu bringen! Die getönten Seitenfenter des Wagens waren gesprenkelt mit angetrocknetem Schmutz längst vergangener Regentropfen. Sie ließen das Bild des Hauseinganges dahinter unwirklich erscheinen, konturenlos werden. Die Schmutzränder verzerrten es fast so, als betrachtete man eine unscharf entwickeltete Fotografie. Vergilbt und mit einem leichten Grünstich versehen. Sein Wagen paßte nicht in diese Gegend der großen BMW `s und S-Klasse Mercedesse. Autos, die hier zu dutzenden herumfuhren oder in den Einfahrten standen, scheinbar nur um zu demonstrieren, daß sie existierten. Sein roter Kombi war alt, verbraucht und im Gegensatz zu den Nobelkarossen nicht einmal waschstraßengepflegt, geschweige denn sogar handpoliert. Er haßte diese Gegend. Er haßte den ganzen Vorort mitsamt den säuberlich geschnittenen Rasenflächen und den Menschen, die hier lebten! Und diese Gegend haßte Menschen wie ihn. Vorbestrafte Kriminelle. Subjekte, die einfach nicht in dieses Viertel paßten und die hier nicht das Geringste zu suchen hatten. Ein mulmiges Gefühl machte sich wieder in der Magengengend breit. Es war diese Mischung aus drückendem Schmerz und dem lästigen Gefühl, schnellstens auf die Toilette zu müssen. Der Mann griff in das offenstehende Handschuhfach des Wagens und fingerte eine rote Schachtel mit Baldriandragees heraus. Sie hatte sie ihm mitgegeben. Vorsorglich und für den Notfall. Mit Daumen und Zeigefinger seiner Rechten drückte er zwei der beigefarbenen Pillen aus der Verpackung und ließ sie in seine Handfläche kullern. Mit einer schnellen Bewegung seiner Linken warf der Bärtige die Dragees in den Mund und würgte sie dann mit einem angewiderten Gesichtsausdruck hinunter. Hoffentlich war sein Wagen nicht aufgefallen, schoß es ihm plötzlich wieder durch den Kopf. Sein Herz begann laut zu pochen und der säuerlicher Geschmack in seinem Mund machte sich jetzt auch noch auf der Zunge breit. Er war plötzlich hellwach und mußte mehrmals unwillkürlich schlucken. Der Mann blickte sich verstört um. Hinter jedem Fenster der angrenzenden Häuser, denen er bis dahin eher weniger Beachtung geschenkt hatte, witterte er plötzlich Gefahr. Jemand, der ihn heimlich beobachte. Der ältere Nachbar von Gegenüber, der längst wußte, was hier ablief und der mit Sicherheit schon die Polizei informiert hatte. Der Zeitungsbote vielleicht, der immer zur gleichen Zeit hier vorbeikam und der hinter der Existenz seines auffälligen Wagens zumindest etwas Ungewohnliches erahnte. Er war irritiert. Irritiert darüber, wie ein einzelner plötzlicher Gedanke ihn wieder so runterziehen konnte, ihn so durcheinander brachte. Der Mann zog den Reißverschluß der hellen Jeansjacke herunter und öffnete den obersten Knopf des Cordhemdes. Sollte er sie vielleicht noch mal kurz anrufen? Um den beruhigenden Klang ihrer Stimme zu hören? Aber er konnte doch nicht jedesmal mit ihr telefonieren, wenn diese Unruhe und das flaue Gefühl in seinem Magen kamen, ihn wieder übermannten. Er mußte versuchen, sich zur Ruhe zu zwingen und an etwas anderes zu denken, wollte er diese Sache nicht vermasseln. Es würde doch nicht mehr lange dauern. So gut es ging lehnte sich der Mann wieder in den Sitz zurück, legte das Telefon mit einer schnellen Bewegung auf den Beifahrersitz und schloß die Augen.„Nur in der Ruhe liegt die Kraft“ war es ihm mal irgendwo untergekommen. Vielleicht steckte ja ein wenig Wahrheit darin. Und wer nervös ist, der macht Fehler, war dann wohl die Konsequenz. Und wer Fehler macht, der wird irgendwann erwischt und wandert in den Knast. Das war das Resultat, die unerbittliche Realität. Und er wollte nicht noch einmal dort hin. Die paar Jahre in Stadelheim hatten ihm gereicht. Für den Rest seines Lebens. Die Zeit dort war ihm verhaßt gewesen. Und er hatte dort einfach nicht hineingepaßt. Es war nicht der richtige Ort für ihn, denn es gab nichts gut zu machen. Richtig! Er hatte eine gerechte Strafe verdient für das, was er angestellt hatte. Es wäre ihm lieber gewesen, etwas Produktives zu tun, in diesen zweieinhalb Jahren. Etwas, was der Gesellschaft -gegen deren Regeln er verstoßen hatte- und ihm irgendwie weitergeholfen hätte. Aber die ganze Zeit über Glühlampen für Backöfen zusammen zu schrauben konnte nicht der Sinn einer Bestrafung sein. Der Bärtige verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Beine bis dicht unter den Fahrersitz. Sonderlich weit aufgestiegen war er nicht, in der Knasthierarchie. Dafür hatten sie ihm zu wenig aufgebrummt und außerdem war er bei der Gefängnisleitung beliebt. Warum, das hatte man ihm nicht gesagt. Und es ging entweder nur das eine oder das andere. Entweder man war beliebt, oder man war Teil des Systems. Und einige Leute hatten es auf ihn abgesehen, ihm das Leben so richtig schwer gemacht. Es gab da so ein paar Möglichkeiten im Bau. Banale Kleinigkeiten, über die man im „normalen“ Leben draußen vielleicht nur kurz gelächelt hätte. Im Gefängnis aber taten sie weh. Aber dann hatte er da so ein paar Jungs kennengelernt. Freunde, die ihn beschützten. Mörder und Totschläger. Ganz harte Kerle der übelsten Sorte. Im Knast ist man auf so etwas angewiesen, wenn man nicht garade die Statur von Arnold Schwarzenegger besitzt oder sich auf andere Art und Weise einen gewissen Respekt verschafft hatte. Und er besaß beides nicht. Und wäre sie nicht gewesen, dann hätte er diese Zeit wohl nicht so unbeschadet überstanden. Seine Freundin war der einzige Lichtblick in dieser trostlosen Zeit, obwohl sie sich nur wenig sehen konnten. Aber sie hatten sich regelmäßig geschrieben. Beinahe täglich. Am letzten Tag hatte seine Freundin ihn dann abgeholt. Mit einem Strauß roter Rosen in der Hand. Die Zeit danach war schlimm. Den festen Willen, sauber zu bleiben, hatte er gehabt. Und er hatte sich beim Verlassen des Hauptores auch nicht noch einmal umgeschaut. Hätte er das getan, so wäre er wieder zurückgekehrt. „Diejenigen, die sich umschauen, kommen irgendwann wieder.“ hatten ihm seine neuen Freunde gesagt. Und die mußten es ja wissen! Er wollte nicht zurückkommen! Niemals. Aber es war schwer. Als Vorbestrafter hatte man keine reelle Chance. Wer nahm einen denn schon? Wollte man wirklich sauber bleiben, blieben nur diese mies bezahlten Aushilfsjobs. Aber es war ihm gelungen, sauber zu bleiben. Bis jetzt, jedenfalls.Dabei war das Geld, daß sie damals verlangt hatten, doch nur dafür bestimmt gewesen, endlich aussteigen zu können. Eine große Sache noch und dann Schluß! Hätte alles geklappt, wären sie nach Canada verschwunden und nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Aber ihm war da ein Fehler unterlaufen. Das schnelle Geld war ihm zu Kopf gestiegen. Sein Bruder Theo hatte ihn noch gewarnt, aber er hatte diese Warnung beiseite geschoben, sie einfach nicht gehört. Das hatte ihnen das Genick gebrochen. Diesmal durfte er sich keinen Fehler leisten. Nicht einen einzigen. Es hing zuviel daran! Zu viele Schicksale. Einfach nur die Ruhe bewahren. Das war das ganze Geheimnis, das immer gültige Erfolgsrezept! Der Mann kurbelte die Rückenlehne des Sitzes ein wenig nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust.Warum auch sollte sein Wagen ausgerechnet heute auffallen, ging es ihm durch den Kopf, während er die Augen wieder öffnete. Immerhin hatte er doch schon die ganze letzte Woche hier gestanden. Immer an der gleichen Stelle, immer zur gleichen Zeit. Von kurz vor sieben bis ungefähr halb acht. Nichts war passiert. Rein gar nichts! Keine morgendlichen Jogger, keine gassigehenden Hundehalter mit irgendwelchen verzogenen Vierbeinern, keine observierenden Blicke neugieriger Nachbarn hinter halbzugezogenen Gardinen. Und rote Kombivolvos gab es schließlich auch zu Dutzenden in der Stadt! Die Nummernschilder hatte er bereits vor ein paar Tagen besorgt. Abgeschraubt von zwei parkenden Wagen in der Innenstadt. Auch für den Fall, daß sich jemand eine diese Nummern notiert haben sollte, führte diese Spur also nicht zu ihm! Nur noch heute durfte sein Wagen nicht auffallen, ging es ihm durch den kopf. Nur noch heute. Nur noch dieses eine Mal! Der Mann drehte den Kopf leicht nach links und blickte wieder zum Eingangsbereich hinüber. Es hatte sich nichts verändert. Halb schielend und halb mit zugekniffenem Auge versuchte er, einen der halbmondförmigen Schmutzränder auf dem Seitenfenster seines Wagens in eine Ebene mit dem messingfarbenen Türklopfer der Eingangstür zu bringen, der scheinbar einen Löwenkopf darstellen sollte. Der Bärtige hob den Kopf ein wenig und versuchte den Halbmond so unter die Mähne des Löwenkopfes zu bugsieren, als thronte dieser auf einem Sockel. Es konnte nicht mehr lange dauern. Sein Opfer hatte das Haus die ganze letzte Woche immer zur gleichen Zeit verlassen. Zwischen viertel nach sieben und halb acht. Zufahrt und Eingangsbereich des gegenüberliegenden Anwesens waren verbunden durch eine tennisplatzgroße Fläche mit hellblitzendem Marmorkies. Auf der linken Seite dieses Areals zweigte ein ungefähr zwei Meter breiter Plattenweg zum Eingangspodest ab, führte dann weiter um das Haus herum, bis er vor einem dunklen Holztor schließlich endete. Ihm genau gegenüber befand sich ein mittelgroßer Anbau mit Flachdach, in dem noch einige Büros und ein Fitnessraum nebst Sauna untergebracht waren. Sie hatte es ihm erzählt, denn er selbst hatte noch nie auch nur einen Fuß in dieses Haus gesetzt. Rechts neben dem Anbau schloß sich die Doppelgarage an, deren Tore -wie die ganze letzte Woche hindurch- geschlossen waren. Auf dem kreisförmigen Garagenvorplatz erblickte er die riesige knorrige Eiche, deren Blätter sich leicht im Wind bewegten. Die doppelflügelige Eingangstür mit verglasten Rundbogen darüber war eingebettet in eine Gruppe antiker Säulen aus hellem Marmor. Auf den Kapitellen der Säulen lag ein ein angedeuteter dreieckiger Steinblock, dessen Spitze bis hoch in das erste Stockwerk reichte. Der Mann nahm jedes der vier Sprossenfenster ins Visier, die sich sowohl im Erdgeschoß als auch im ersten Stock zu beiden Seiten des Hauseinganges anschlossen. Die geblümten Gardinen hinter den Fenstern waren halb geöffnet und davor erblickte er weiße Blumenkästen mit Geranien und Petunien. Das Ganze wirkte ein wenig bombastisch auf ihn. Es war zwar hübsch anzusehen, aber ihm war es eine Nummer kleiner lieber. Bescheidener und nicht so prunkvoll. Ein Teil des Eingangsbereichs war verdeckt von einem schwarz-seidig schimmernden Doppeltor aus geschmiedetem Eisen. Vertikale Eisenstangen mit filigran wirkenden Blumenornamenten in den Zwischenräumen. Und es kam ihn so vor, als stellte dieses Tor nicht etwa die Verbindung zur Außenwelt dar, sondern vielmehr eine unüberwindliche Barriere. Eine Barriere, die nur den einen Zweck verfolgte, die Straße und das dahinterliegende Anwesen unerbittlich in zwei Welten zu trennen. Das Tor war gut und gerne zwei Meter hoch und so breit, daß zwei Autos bequem nebeneinander durchfahren konnten. Vorausgesetzt, man hatte zwei. Aber wer hier wohnte, der hatte zwei Autos. Mindestens. Und einen Dienstwagen obendrein! Jeder Flügel des dunklen Tores neigte sich an der Außenseite in einem sanften S-förmigen Bogen etwa einen halben Meter nach unten, woran sich zu beiden Seiten gemauerte Säulen aus hellen Klinkersteinen anschlossen. Auf den Säulen selbst erblickte er große Kugelleuchten aus Glas. Auf der linken Seite darunter eine große 8. Majestätisch sprangen ihm die Buchstaben „K.W.“ in goldfarbenen Lettern aus der Mitte des Tores entgegen. Klaus Warbs. Genauer gesagt: Klaus-Dieter Warbs.Es waren seine Initialen. Die Anfangsbuchstaben seines Opfers. Er spürte, daß von diesen scheinbar toten Lettern etwas bedrohliches ausging. Diese Buchstaben verkörperten Macht. Pure Macht, Geld und Energie! Selbst wenn das Tor, ja sogar das ganze Anwesen dahinter zerstört werden würde, diese goldfarbenen Buchstaben würden es überstehen. Sie würden weiter existieren. Unbeschadet! Und diese simplen Zeichen waren noch viel mehr. Sie waren der erhobene Zeigefinger, die allerletzte Warnung alles zu unterlassen, was die unnahbare Sphäre dieser dahinterliegenden Welt in irgendeiner Weise anzugreifen oder zu beeinträchtigten wagte. Er hatte Angst. Er wußte, er hatte Angst. Aber es war kontrollierbar, dieses Gefühl. Es war ohnehin zu spät, die Sache abzubrechen! Sie befanden sich auf einem langen Weg. Ein Weg, der sie schnurstracks in ein besseres Leben führte und der ihre gemeinsame Situation grundlegend verändern würde. Nie wieder heruntergekommene Wohnungen in abbruchreifen Wohnsilos am Rande der Stadt. Nie wieder prügelnde und laut randalierende Nachbarn, die man besser nie zu Gesicht bekommen hätte. Und keine gebrauchten Einwegspritzen mehr im dunklen Kellereingang. Sie wäre gern mit ihm zusammengezogen. Aber eine Wohnung in einer besseren Gegend hatten sie sich einfach nicht leisten können. Nicht bei seinem Einkommen. Es war ihm wichtig gewesen, daß seine Freundin das Zimmer in der Wohngemeinschaft behielt. Er hatte sich geschämt und ihr eine solche Wohnung nicht zumuten wollen. Nicht bei diesem Umfeld. Es war so schon schwer genug. Auf jeden Fall waren sie einen großen Teil dieses Weges schon gegangen. Der Rest war eigentlich ein Kinderspiel. Die Zielgarade. Und was hatte er schon zu verlieren?Er hatte bereits seinen Bruder Theo verloren. Mehr konnte er eigentlich nicht verlieren, außer vielleicht noch die Liebe zu ihr. Aber sie hatte bislang immer zu ihm gehalten, sogar in der schlimmsten Zeit und sie würde es auch zukünftig tun. Dessen war er sich sicher. Theo war das einzige, was ihm in seinem Leben wirklich etwas bedeutet hatte. Theo war seine Familie.Vieles wäre einfacher, wäre sein Bruder noch in der Lage, diese Sache mit ihnen durchzuziehen. Er hätte sich sicherer gefühlt. Es war schließlich das erste Mal nach Theos Tod, daß er etwas wirklich Großes auf die Beine gestellt hatte. Etwas von Bedeutung. Alles war genauestens geplant und durchdacht. Es konnte nichts schiefgehen. Es durfte einfach nichts schiefgehen. Nicht dieses Mal! Der Mann griff kopfschüttelnd zur Seite und kurbelte den Sitz wieder in eine aufrechte Position. Bitte nicht dieses Mal, schoß es ihm durch den Kopf. Zielstrebig, so als ob er sich selbst beweisen mußte, daß ihm zumindest noch die Hand gehorchte, wenn er schon nicht diese Unruhe und das flaue Gefühl in seinem Magen richtig unter Kontrolle bringen konnte, langte der Mann tastend in Mittelkonsole des Wagens und kramte ein Päckchen Zigaretten hervor. Mit einer fahrigen Handbewegung öffnete er die Schachtel und nahm eine heraus. Irgendeine, ohne einer bestimmten den Vorzug zu geben. Letzendlich waren sie doch alle gleich, so wie die Leute hier. Leute, die eine gewisse Reichtumsgrenze überschritten hatten und die sich um den Rest der Welt einen Dreck scherten! Als der Bärtige in die Seitentasche der Jeansjacke griff, um eine Streichholzschachtel hervorzuholen, strich seine Hand wie zufällig über die geriffelten Griffschalen der Waffe. Etwas durchzuckte ihn mit der Wucht eines Blitzes und ließ ihn für einen Sekundenbruchteil erstarren. Er konnte förmlich hören, wie seine Schläfen wieder zu pochen begannen und etwas seine Hand abrupt zurückzog. So, als hätten seine Finger etwas Ekelerregendes berührt. Eigentlich haßte er diese Waffe, deren Existenzberechtigung sich nur aus Verletzen und Töten ergab und die aus friedliebenden Menschen im allernächsten Augenblick mordlustige Bestien formen konnte. Aber sie war wichtig, denn sie würde ihm die Kraft geben, seiner Forderung den nötigen Nachdruck zu verleihen. Für einen kurzen Moment war er unentschlossen, ließ die Hand dann jedoch wieder in der Seitentasche der Jacke gleiten und holte die Waffe schließlich hervor. Leicht und angenehm kühl lag die dunkle Walther PPK in der Hand. Drehend betrachtete er sie von allen Seiten.Mit Daumen und Zeigefinger seiner Linken zog der Mann den Verschluß der Waffe schließlich nach hinten und ließ ihn dann wieder nach vorn schnellen. Er wiederholte diese Bewegung mehrmals und je öfter er es tat, desto mehr hatte er das Gefühl, daß dies eine Art von Kommunikation zwischen ihm und der Waffe war. Frage-Antwort, Aktion-Reaktion, Spannung-Entspannung. Vor einer ganzen Weile schon hatte er die Pistole gekauft. Für zweihundert. Im Hafenviertel. Den Kontakt hatte ein alter Freund aus der Gefängniszeit hergestellt. Jemand, der gute Verbindungen in den Norden hatte und der ihn ab und zu noch besuchte. „Ladykiller“ hatte der mit einer Knastträne tätowierte Verkäufer abfällig geäußert, als er ausdrücklich nach dieser Waffe verlangte. Aber diese Pistole war handlich und unauffällig und leicht in einer Jackentasche zu verstecken. Nachdem der Mann die Walther noch einige Sekunden nachdenklich betrachtet hatte, ließ er sie mit einer schnellen Bewegung wieder in der Seitentasche der Jacke verschwinden und fingerte stattdessen ein Päckchen Streichhölzer hervor. Langsam öffnete er die Schachtel und nahm ein Zündholz heraus. Mit einer geübten Bewegung der Rechten riß er das kleine Stück Holz an der Seitenfläche der Schachtel an, legte den Kopf zur Seite und dirigierte es im Schutz der Handfläche langsam in Richtung Zigarette. Er beobachtete, wie sich die helle Flamme um den Zündholzkopf schloß und hierbei ganz offenbar einer chemischen Gesetzmäßigkeit folgte. An der Unterseite schien die Flamme blau, oben zunächst farblos, dann ins Gelb wechselnd, schließlich Orange. Dieses Farbenspiel war ihm bislang nicht aufgefallen und es wunderte ihn. Und erst als sich das Holz langsam schwarz verfärbte, lenkte er die Zigarette mit den Lippen in das Zentrum der Flamme. Der Mann sog den Rauch tief ein, behielt ihn für ein paar Sekunden in der Lunge und blies ihn dann hastig wieder aus. Eine Art innere Ruhe erfüllte seinen Körper und die Anspannung schwand langsam dahin. Gedankenverloren verfolgte der Bärtige den aufsteigenden Rauch der Zigarette mit den Augen, ohne hierbei den Kopf auch nur einen Zentimeter nach oben zu nehmen. Der Qualm stieg in einer glatten, T-trägerartigen Säule bis zum unteren Ende der vergilbten Sonneblende, dann bis zum oberen Rand der Windschutzscheibe, um danach wie ins scheinbare Nichts zu verwirbeln. Es gefiel ihm und es amüsierte ihn zugleich ein wenig, einen gezielten Luftschwall so in die aufsteigende Rauchsäule zu pusten, daß diese irritiert verwirbelte und sofort wieder ihrer Urform zustrebte, wenn er es abrupt unterließ. Der Mann wiederholte das Spielchen noch ein paar Mal, bis es ihn schließlich langweilte. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. Es war zehn nach sieben. Seine Blicke verfolgten den stetig und unermüdlich wandernden Sekundenzeiger auf dem hellen Ziffernblatt. Monoton Runde für Runde drehend, ohne scheinbar auch nur den leisesten Wunsch eines Ausbruchs zu hegen. Hierbei registrierte er nicht die eigentliche Zeit, oder das, was man üblicherweise als Zeit bezeichnet, sondern nur die minimale und voraussehbare Bewegung des Zeigers. Diese kleine Unendlichkeit, die zwischen den einzelnen Sprüngen des goldfarbenen Sekundenzeigers lag. Von Ewigkeit zu Ewigkeit ging es ihm durch den Kopf und er mußte unweigerlich an Theo denken. Wieder einmal, denn diese Bilder verfolgten ihn noch heute. Wie sein Bruder so dagelegen hatte, friedlich mit gefalteten Händen, das Gesicht eingefallen und blaßrosa geschminkt. Das angedeutete Lächeln hatte auf seinen Lippen hatte künstlich ausgesehen. Unwirklich! Irgend jemand hatte sich sicherlich sehr viel Mühe gegeben und auch eine Menge Zeit investiert, um ihn so herzurichten. Aber das, was da in dem Sarg vor ihm lag, hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Sie hatte ihm abgeraten, Theo noch einmal anzuschauen. „Behalte Deinen Bruder so in Erinnerung, wie Du ihn das letzte mal lebend gesehen hast.“ hatte sie ihn gebeten. Er hatte es trotzdem getan, weil es ihm wichtig war. Er mußte sich doch verabschieden, von seinem Bruder. In der kleinen baufälligen Kapelle am Rande der Stadt dann die monotone Predigt des Pfarrers. Dickbäuchig und mit strafendem Gesichtsausdruck. Er hatte dem Geschwafel des Gottesmannes nicht richtig zugehört, war mit den Gedanken woanders gewesen. Weit weg von alledem! Aber irgendwie hatte der Prediger mehrmals von Sünde und Vergebung gesprochen, diese Worte waren ihm noch in Erinnerung geblieben. Sünde und Vergebung, darum ging es wohl im Leben und scheinbar auch im Tod. Nur eine handvoll Menschen war da. Beatrice war aus Canada angereißt. Er selbst hatte für die Beerdigung Freigang bekommen. Ein Vollzugsbeamter hatte ihn begleitet, ohne Handfesseln und stets im Hintergrund. Am geöffneten Grab dann hatten sie ihm alle die Hand geschüttelt. Er wußte nicht genau warum und hatte sich sehr unbehaglich gefühlt. Und er hatte eine rote Rose auf den Sargdeckel geworfen, danach eine Schaufel Sand. Und als alle gegangen waren, hatte er noch eine zeitlang am offenen Grab gestanden und wirklich Abschied genommen. Allein! Der Mann nahm einen weiteren tiefen Zug der Zigarette und drückte den Nacken wieder gegen das abgewetzte Leder der Kopfstütze. Eine wohltuende Kühle durchflutete seine Nackenmuskulatur und er wandte den Kopf leicht nach rechts und links. Theo hatte diese Armbanduhr geliebt. Und niemals hatte sein Bruder diese Uhr abgelegt. Nie hatte man ihn ohne gesehen. Nicht einmal beim Duschen. Theo hatte sich diese Breitling von seinem ersten selbstverdienten Geld gekauft und lange darauf sparen müssen. Alle hatten ihn für verrückt erklärt, so viel Geld für eine Uhr auszugeben. Aber es war seinem Bruder wichtig gewesen. Diese Armbanduhr war das einzige, was ihm als Erinnerungstück geblieben war. Diese Armbanduhr, eine handvoll vergilbter Fotos und ein paar schöne Erinnerungen aus der gemeinsam verlebten Kindheit.Er konnte sich noch gut darin erinnern, wie sie als Kinder zusammen geangelt hatten. An ihrem See, wo sie auch beide das Schwimmen erlernt hatten. In der Schule dann waren sie das erste Mal voneinander getrennt gewesen. Aber nur Vormittags. Nachmittags waren sie wieder die Clausen-Gang. Sie hatten immer zusammengehalten. Wie Pech und Schwefel. Und keiner konnte ihnen etwas anhaben! Dann hatten sie sich eine zeitlang aus den Augen verloren. Theo war nach Canada gegangen und hatte dort sein Glück versucht. Sein Bruder hatte eine tolle Frau kennengelernt und dort geheiratet. Dann hatten sie sich wiedergetroffen und diese Entführungsgeschichte durchgezogen. Es war Theo`s Idee gewesen. Und dann.... Mit einer fließenden Bewegung beugte sich der Mann vor und drückte den Zigarettenstummel in den überquellenden Aschenbecher. Angestrengt und mit zugekniffenen Augen blinzelte er kurz hinüber zum Hauseingang. Nichts hatte sich verändert. Alles war ruhig. Fast sieben Jahre war es jetzt her, daß man Theo erschossen hatte, ging es ihm durch den Kopf. Es war eine Hinrichtung. Ein einziger gezielter Schuß aus nächster Näche direkt in den Hinterkopf. Mit einer großkalibrigen Waffe, wie es damals im Polizeibericht gehießen hatte. Der Anwalt seines Bruders hatte ihm die Ermittlungsakten überlassen und ein Wachmann hatte sie ihm in die Zelle geschmuggelt. Für ein paar Mark. Es hatte eindeutig nach einer Auftragsangelegenheit ausgesehen. Er hatte genug Zeit gehabt, sich im Gefängnis darüber zu informieren, sich mit dieser Sache zu beschäftigen. Und er hatte auch die entsprechenden Leute kennengelernt. Freunde, die ihm freimütig und voller Stolz erzählt hatten, was zu tun war, wenn man jemanden beiseite schaffen wollte. In jeder größeren Stadt gab es Typen, die über gewisse Kontakte ins Millieu verfügten und die die richtigen Verbindungen herstellen konnten. Man mußte nur oft genug und an richtiger Stelle erwähnen, daß man da ein gewisses Problem hatte. Natürlich alles hinter vorgehaltener Hand. Die Verbindung zwischen Auftraggeber und Killer wurde dann über diese Kontaktperson hergestellt. Irgend jemand kannte jemanden, der wiederum jemanden kannte, von dem man gehört hatte, daß er jemanden kannte, der solche Probleme schnell und sauber aus der Welt schaffen konnte. In den meisten Fällen wurde eine Person aus dem Ausland rekrutiert. Jemand, der -sagen wir mal für fünfundzwanzigtausend plus Spesen- bereit war, ins Land zu kommen und den Job zu erledigen. Für die Vermittlung des Killers waren dann noch einmal ein paar Hunderter erforderlich, wenn einem die Kontaktperson nicht noch einen Gefallen schuldig war. Die Hälfte des Geldes war sofort fällig, die andere Hälfte nach erfolgreicher Erledigung des Jobs. Der Preis hing von verschiedenen Faktoren ab. Die Beseitigung einer Person des öffentlichen Lebens, womöglich noch durch Leibwächter ständig bewacht, war teurer als die der eigenen Ehefrau. Die konnte man schon für fünftausend aus dem Weg räumen lassen. Sauber und diskret! Und fast günstiger als eine Scheidung. Die Planung des Jobs selbst erfolgte vom sicheren Ausland aus, soweit dies möglich war. Ein neueres Foto und eine handvoll Daten reichten aus. Dazu Informationen über bestimmte wiederkehrende Gewohnheiten, bevorzugte Restaurants, Hobbies und familiäre Verhältnisse. Der Killer kam ins Land, erledigte schnell und profesionell seinen Job und saß, noch ehe die Leiche richtig kalt war, schon wieder im Flieger. Business-class, versteht sich! Der Auftraggeber blieb im Hintergrund und behielt eine weiße Weste. Es gab keinerlei direkte Verbindung zwischen Auftraggeber und Killer. Oftmals kannten sie sich überhaupt nicht. Saubere Sache! Den Killer seines Bruders hatte man nie geschnappt. Er selbst hatte nicht die leisete Ahnung, wer und vor allen Dingen w a r u m jemand Theo hatte aus dem Weg räumen lassen. Gut, sie hatten einige Dinger am laufen gehabt, damals, und sie waren auch recht erfolgreich gewesen, für ihre Verhältnisse. Aber sie konnten doch niemanden so sehr auf die Füße getreten sein, als daß es einen Mordauftrag rechtfertigen konnte. Und warum nur Theo? Warum dann nicht auch er?War es etwa sein Glück, daß er sich bereits im Gefängnis befand, als Theo umgebracht wurde? Hatte das vielleicht sein Leben gerettet? Wäre er sonst auch dran gewesen? Aber auch im Gefängnis konnte man jemanden umbringen lassen, hatte man ihm erzählt. Gezahlt wurde einfach später. Oder die Ehefrau erhielt das Geld, um sich und die Kinder über Wasser halten zu können. Und vielleicht wäre es sogar besser gewesen, der Killer hätte auch noch ihn umgebracht! Seine neuen Freunde im Gefängnis hatten ihre Kontakte nach draußen genutzt und in der Szene ein bißchen herumhorchen lassen. Aber niemand wußte etwas. Keiner hatte etwas gehört. Möglicherweise war es ein Außenstehender, der den Mordauftrag damals erteilt hatte. Der bärtige Mann schüttelte ungläubig den Kopf und blickte wieder hinüber zum Hauseingang. Nichts hatte sich verändert. Alles ruhig. Die Zeit schien still zustehen! Zielstrebig aber mit leicht zitterigen Fingern bewegte er die rechte Hand in Richtung Autoradio, umfaßte dort den linken Knopf mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger und drehte ihn so weit nach rechts, bis er einen Widerstand verspürte. Ein mechanisches Klicken drang an sein Ohr, als er über diesen Widerstand hinaus noch weiter nach rechts drehte. Vergleichbar mit dem Geräusch, das der Sicherungshebel einer Pistole verursacht, wenn man ihn umlegt. Dann folgte Rauschen. Ein durchdringendes und alles erstickendes Rauschen. Vorsichtig drehte der Mann den rechten Knopf des Radios, bis das Rauschen zugunsten einer sympathisch klingenden weiblichen Stimme schließlich aufgab. Es schien ihm ein Kampf zu sein. Ein Kampf zwischen kalter, von Menschenhand geschaffener Tontechnik und menschlicher Nähe. Ein Kampf, bei dem er ausnahmsweise einmal nicht direkter Beteiligter, sondern Schiedsrichter war. Drehte er den Knopf des Radios auch nur leicht nach links, so wurde die Stimme leiser, um schließlich ganz und gar in dem farblosen Rauschen unterzugehen. Drehte er ihn nach rechts, so untermalte die Stimme das Rauschen. Zuerst schwach und kaum verständlich, dann deutlich und dominant.Er war es, der die Fäden in der Hand hielt. Er konnte das Geschehen nach seinem Willen ablaufen lassen, konnte es beeinflussen und es auch beenden, wenn ihm danach war. Einfach so.Mit einer langsamen Bewegung beugte sich der bärtige Mann wieder vor, griff in die verkratzte Mittelkonsole und fingerte eine neue Zigarette aus der angebrochenen Marlboroschachtel. Entspannt lehnte er sich in den Sitz zurück, nachdem der erste tiefe Zug die Lungenflügel passiert hatte. Er schloß die Augen. Alles war genauestens geplant. Das Versteck für Klaus-Dieter Warbs war hergerichtet und der Übergabeort für das Lösegeld nach tagelanger Überlegung auch gefunden. Beides waren ihre Ideen gewesen. Sie wußte, wie man an den Schlüssel für die Gewerbehalle gelangen konnte und sie hatte auch den genialen Einfall für die Übergabe des Lösegeldes. Zuerst hatten sie überlegt, ob Lisa Warbs die Koffer mit dem Geld nicht einfach von einer Brücke werfen sollte. Sie hätten unter dieser Brücke gewartet, das Geld in den Kombi geladen und wären dann einfach verschwunden. Aber er hatte Bedenken gehabt. Denn was wäre gewesen, wenn einer der Koffer plötzlich aufgesprungen wäre? Es war ihm zu unsicher. Sie hatten dann noch eine paar andere Varianten durchgespielt, bis ihr plötzlich der Einfall mit der Fähre gekommen war. Der Mann nahm einen tiefen Zug der Marlboro und blies den Rauch leicht angewidert und mit einem heftigen Hustenanfall aus.Der Mietwagen stand bereit und die drei Flüge nach Toronto waren gebucht. Für Freitag. Ein Flug für die Morgenmaschine, zwei Flüge für die Abendmaschine. Am nächsten Tag würden sich sich alle in der Lodge treffen. Bei einem guten Glas Wein. Oder einer Dose Bier. Ein Umtausch des Geldes wie bei der ersten Entführung war nicht erforderlich, hatten sie entschieden. Damals war sein Bruder davon ausgegangen, daß das Lösegeld vielleicht präpariert sein würde. Theo hatte einfach auf Nummer Sicher gehen wollen. Aber es war nicht der Fall. Von dem eigentlichen Lösegeld war ihnen damals nur gut ein Viertel geblieben. Nicht gerade sehr viel! Diesmal hatten sie auf einen Umtausch verzichtet. Sie hatten darauf vertraut, daß das Lösegeld in Ordnung sein würde und sie vertrauten darauf, daß Lisa Warbs das Leben ihres Mannes nicht leichtfertig auf`s Spiel setzen würde. Die Zigarette zwischen den Lippen schmeckte nicht sonderlich. Er hatte zuviel geraucht, in den letzten paar Tagen. Aber es hatte ihn beruhigt. Der Zigarettenqualm stieg ihm ins Gesicht und brannte in den Augen. Unweigerlich mußte er blinzeln und das linke Auge begann zu tränen. Mit einer mechanischen Handbewegung zog der Mann die halbgerauchte Zigarette aus dem Mundwinkel und drückte sie in den randvollen Aschenbecher unter dem Autoradio.Dann blickte er wieder nach draußen und tastete die Gegend ab, während er mit der linken Hand das Seitenfenster des Wagens eine Spalt herunterkurbelte. Ein wenig Sauerstoff würde ihm jetzt guttun. Als sein Blick den Hauseingang streifte, bemerkte er, daß sich irgendetwas verändert hatte. Ein winziges Detail nur. Es war zunächst nur eine Ahnung, nur so ein unbestimmtes Gefühl. Aber etwas war nicht mehr so, wie es vorher war. Noch war ihm nicht bewußt, was es war. Aber er wußte, daß es da war und daß es nicht in das bisherige Szenario des Hauseingangs paßte. Der Mann versuchte, das Blinzeln zu unterdrücken und die Augen weit aufzureißen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Und es dauerte auch nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er erkannt hatte, was ihn so irritierte. Es war die Eingangstür. Sie stand offen. Einen winzigen Spalt nur. Leicht zu übersehen! Gerade soviel, wie man eine Eingangstür vielleicht offenstehen läßt, wenn man kurz vor dem endgültigen Verlassen bemerkt, daß man trotz aller menschlichen Vorausplanungen doch noch etwas vergessen hatte und man glaubte, daß es sich einfach nicht mehr lohne, die Tür nur aus diesem Grund nochmals zu schließen! Aber wenn die Eingangstür geöffnet war, mußte sein Opfer die Alarmanlage bereits abgeschaltet haben, schoß es ihm siedendheiß durch den Kopf! Dann würde er auch das schwarze Eingangstor öffnen und auf das Grundstück gelangen können! Er schluckte mehrmals. Sollte er den Plan einfach abändern und nicht darauf warten, bis Klaus-Dieter Warbs das Anwesen mit dem Wagen verließ? Sollte er einfach hinübergehen und ihn schon jetzt in Empfang nehmen? Einfach so? Sein Herz schlug schnell und er überlegte fieberhaft. Er mußte es jetzt entscheiden. Hier und jetzt und ohne ihre Hilfe! „Denk nach, denk nach!“ entfuhr es ihm laut. Auf jeden Fall war es sicherer, Klaus-Dieter Warbs nicht auf offener Straße abzufangen. Auf dem Grundstück gab es ein paar gute Möglichkeiten, sich zu verstecken. Er konnte sein Opfer einfach überraschen. Von hinten! Keine unnötige Konfrontation. Kein überflüssiger Blickkontakt! Außerdem war der gesamte Eingangsbereich des Anwesens nur von einer ganz bestimmten Stelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite gut einsehbar. Und genau an dieser Stelle stand sein Volvo! Der bärtige Mann blickte wieder hinüber zum Hauseingang und bemerkte, wie sich die schwere Holztür im Morgenwind leicht hin und her bewegte. Als ob dies ein Zeichen war, auf das zu reagieren war, griff er mit seiner Linken hinter den metallenen Türöffner und zog diesen kräftig zu sich heran. Vorsichtig, so als hinge alles von dieser bevorstehenden Aktion ab, stemmte er seinen linken Ellenbogen gegen das dunkle Leder der schweren Wagentür. Ein lautes und durchdringendes Quietschen durchschnitt die morgendliche Stille, als die Fahrertür seines Volvos dem Druck schließlich nachgab und mit einem Satz aufsprang. Der Mann hielt abrupt inne. Eine unerträgliche Hitze schoß plötzlich in ihm hoch. Sein Kopf schien zu glühen und das Herz pochte wild. Er wagte es nicht mehr, zu atmen. Schlagartig wurde ihm bewußt, daß die gesamte Umgebung dieses Geräusch gehört haben mußte. Wenn er schon bisher nicht aufgefallen war, so mit Sicherheit jetzt! Wie regungslos verharrte er zunächst auf dem Sitz, atmete dann mehrmals tief durch und sah sich wieder prüfend zu allen Seiten um. Alles war unverändert. Kein zeterndes Hundegebell, keine zurückgezogenen Gardinen. Nur diese eine geöffnete Eingangstür zu seiner Linken. Er schloß für einen Moment die Augen, drückte den Nacken gegen das kühle Leder der Kopfstütze und versuchte sich wieder zu beruhigen. Nochmal gutgegangen, ging es ihm durch den Kopf. Was würde er jetzt für eine Zigarette geben. Nur eine einzige Zigarette. Aber dafür war jetzt leider keine Zeit mehr. Ein letztes Mal sah er sich prüfend um und schlich im Zeitlupentempo aus seinem Wagen, die Eingangstür zu seiner Linken stets im Auge behaltend. Sofort suchte er Deckung hinter der halbgeöffneten Fahrertür, nachdem er diese noch ein wenig mehr aufgedrückt hatte. Sein Herz schlug noch immer schnell und pulsierend. Es klang so, als bearbeitete man mit einem schweren Hammer einen Amboß, um diesen von irgendwelchen verborgenen bösen Geistern zu säubern. Durch das geöffnete Seitenfenster hindurch lugte er auf das gegenüberliegende schwarze Eingangstor. Vielleicht zehn Meter trennten ihn jetzt noch von dieser Barriere. Der Mann wartete einige Sekunden, machte dann einen kurzen Schritt zur Seite und schob mit seiner Rechten die schwere Wagentür ins Schloß. Er atmete tief durch, hielt die Luft an und schlich in geduckter Haltung auf die andere Straßenseite. Die noch nicht ganz gewichene Morgendämmerung gab ihm den nötigen Schutz. Sofort suchte er wieder Deckung hinter der rechten Klinkersäule, nachdem er die breite Vorortstraße mit einigen kurzen Schritten überquert hatte. Wieder hielt er die Luft an, verharrte für einen Moment wie regungslos und wandte sich dann wenige Zentimeter nach rechts. Von dieser Position aus war der gesamten Eingangsbereich gut zu überblicken. Es hatte sich nichts verändert. Sein Herz schlug wie wild. Nur noch wenige Meter trennten ihn jetzt von der geöffneten Eingangstür, seinem Ziel. Von seinem Standort aus wirkte das mächtige Tor rechts in seinem Rücken noch gewaltiger, noch unüberwindbarer. Er mußte mehrmals schlucken. Und im Vergleich zu diesem hochherausragenden Tor fühlte er sich winzig. Winzig und irgendwie unscheinbar.Wie im Zeitlupentempo griff der Mann in die Seitentasche der Jacke und zog die Walther heraus. Er spürte, wie seine Hand wieder zu zittern anfing, ihm einfach nicht mehr richtig gehorchte. Hoffentlich würde er diese Waffe nicht benutzen müssen, ging es ihm durch den Kopf, als er sich ein letztes Mal nach rechts umschaute. Nachdem er sich mit einem prüfenden Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite vergewissert hatte, daß ihn auch von hier aus niemand beobachtete, sprang er mit zwei kurzen Sätzen auf die Mitte des wuchtigen Metalltores zu. Ehrfürchtig drückte er mit seiner Linken die massige Eisenklinke herunter und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den linken Torflügel. Schwer und geräuschlos setzte sich der Metallkoloß in Bewegung und schwang langsam nach innen auf. Ein knirschendes Geräusch drang an sein Ohr, als er mit langsamen Schritten das Anwesen betrat. Und ihm wurde schlagartig bewußt, daß es nun keinen Weg mehr zurück gab. Er hatte die sichere Welt vor dem Tor verlassen und war im Begriff -wenn auch nur für einen kurzen Moment- in diese für ihn so fremde Welt einzudringen. Nur solange, wie dieser Job dauerte. Keine Sekunde länger. Hier hatte er nicht das geringste zu suchen und es gab keinerlei Verbindung zwischen ihm und dieser Welt. Mal abgesehen von ihr, die Frau die er liebte und die hier aufgewachsen war. Er hatte die allerletzte Warnung mißachtet, dem erhobenen Zeigefinger keinerlei Beachtung geschenkt und war durch dieses Tor marschiert. So einfach war das. Er befand sich auf der Zielgeraden und keiner konnte ihn mehr stoppen. Vorsichtig und in geduckter Haltung schlich der Mann die Auffahrt zu den Garagen hinauf, machte einen kleinen Schwenk nach rechts, bis schließlich das gemauerte Eingangspodest vor ihm lag. Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich, atmete nochmals tief durch und drückte den Rücken eng an die rechte Marmorsäule. Er spürte die durchdringende Kühle des Mauerwerks durch den Stoff seiner Jacke hindurch, als er den Kopf hob und den Sicherungshebel der Walther umlegte.

Die reliefartig verglasten Metalltüren schwangen lautlos zur Seite und gaben den Blick ins Innere der riesigen Gepäckabfertigung frei. An der gegenüberliegenden Seite der Halle fielen ihr sofort zahlreiche große Poster mit fernöstlich aussehenden Landschaften und Motiven ins Auge. Ein buddhistischer Tempel, ein Bild mit zwei freundlich dreinblickenden Reisbauern und einem Ochsen in der Mitte, das Portrait einer asiatischen Schönheit mit weißblitzenden Zähnen und braunen Mandelaugen. Davor zusammengeschobene Gepäckwagen an einem Automaten. Links neben der Durchgangstür der lange Tresen der Zollabfertigung mit einem uniformierten Beamten dahinter. Die Hände hatte der graubärtige mit wichtiger Mine auf dem Rücken gefaltet und er wippte auf den Zehenspitzen leicht hin und her. Aus den unsichtbaren Lautsprechern in der Halle drangen fortwährend schlecht verständliche Ankündungen der Flughafenansage zu ihr herüber. Es waren nur Wortfetzen, die sie vernehmen konnte. Aber es ging um verspätete Flüge und vermißte Passagiere. Das konnte sie durch den Lärm und das Stimmengewirr heraushören. Durch die geöffneten Türen hindurch erblickte sie Beatrice schließlich in einer kleinen Menschentraube an einem der zahlreichen Kofferbänder. Darüber eine gelbe Leuchttafel mit der Aufschrift „Air Canada 872 Toronto“ Beatrice trug wie immer Jeans, eine leichte Sommerjacke und eine blaue Baseballkappe. Ihr rotkariertes Holzfällerhemd hing über der Hose und lugte lang unter der hellen Jacke hervor. Nachdem sie ihren kleinen Lederkoffer schließlich vom Band gefischt hatte, kam sie winkend zu ihr herüber. Der Zollbeamte nickte mit freundlicher Mine und geleitete sie mit einer schnellen Handbewegung durch die Kontrolle. Beatrice sah müde aus. Die verquollenen roten Augen hatten etwas kaninchenartiges. Sie fielen sich wortlos in die Arme und hielten sich lange fest. „Schön Dich endlich hier zu haben!“ flüsterte sie schließlich leise in Beatrice Ohr. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, Dich zu sehen.“ fügte sie nach einer kurzen Pause noch hinzu.Sie lösten sich voneinander und hielten sich weiterhin an den Händen. Eine Freudenträne rann ihr über die Wange, als sie tief in das Gesicht ihrer Freundin blickte. Beatrice nahm kurzerhand den Handrücken hoch und wischte mit einer behutsamen und liebevollen Geste über ihr gerötetes Gesicht. „Hallo wie geht es Dir!“ entfuhr es Beatrice mit leiser Stimme. „Gut!“ antwortete sie, nachdem sie sich beruhigt hatte.„Wie war der Flug?“ „Anstrengend. Ich bin ziemlich müde.“ antwortete Beatrice kopfschüttelnd. „Wir hatten eine Menge Turbulenzen über Grönland. An Schlaf war da nicht zu denken!“ „Das kann ich mir gut vorstellen.“ antwortete sie mit einem verständnisvollen Unterton in der Stimme. „Möchtest Du etwas essen oder möchtest Du einen Kaffee?“ „Nein danke. Sehr lieb von Dir!“ antwortete Beatrice. „Aber ich hatte im Flieger schon eine Kleinigkeit!“ „Okay, dann bringe ich Dich jetzt in Dein Hotel. Ich habe Dir ein Zimmer gemietet.“ sagte sie und griff nach dem hellen Lederkoffer auf dem Steinfußboden.„Schlaf ` ein bißchen. Du mußt erst später kommen.“ „Das kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen!“ sagte Beatrice, während sie gemeinsam durch die endlos erscheinende Eingangshalle schlenderten. Sie verließen das Ankunfterminal und gingen den überdachten Weg zu den Parkplätzen entlang. „Am besten Du nimmst dir später ein Taxi und fährst direkt zur Halle.“ schlug sie vor, während sie in ihrer kleinen Handtasche nach den Autoschlüsseln suchte. „Gut“ antwortete Beatrice kurz. „Hat er sich schon gemeldet? „Ich habe gerade vor ein paar Minuten noch mit ihm telefoniert und ihm ein bißchen Mut gemacht.“„War er wieder so neben der Spur?“ fragte Beatrice besorgt. „Ja, aber ich konnte ihn beruhigen.“ antwortete sie kurz. Sie blickte zu Beatrice auf dem Beifahrersitz. „Mach Dir keine Sorgen. Er wird es schaffen. Ich weiß es!“ fügte sie hinzu, während sie den Motor des Ford startete.

Zerrissen

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