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Kapitel 3

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Wenn ich geahnt hätte, auf was für eine Sache ich mich an diesem Abend noch einlassen würde, wäre ich mit Sicherheit nicht noch einmal ins Büro gefahren. Ich hätte meine charmante Begleiterin einfach irgendwann nach Hause gefahren, hätte sie dann vor ihrer Wohnungstür mit einem Augenzwinkern um den obligatorischen Kaffee in ihrem Appartment gebeten und wäre am nächsten Morgen wieder einmal aus einer anderen Richtung ins Büro gefahren. Aber es sollte anders kommen. Ich sollte noch heute Abend einen Fall übernehmen, der Mitleid erregen würde. Und zwar mein Mitleid. Und das war nicht gut. Denn man durfte nicht zu viel Gefühl in einen Fall investieren. Man mußte die nötige Distanz wahren. Abstand halten, die Sache nicht zu sehr an sich herankommen lassen. Es sollte mein erster Entführungsfall werden und diese Geschichte sollte mich dreierlei lehren. Erstens: Es ist möglich, sich an ein- und demselben Abend in zwei verschiedene Frauen zu verlieben. Zweitens: Es gibt zuweilen keine strikte Trennung zwischen Täter und Opfer. Will sagen: Ein Täter ist manchmal mehr Opfer, als es das Opfer selbst ist. Und drittens: Verbrechen lohnt nicht, so abgedroschen es vielleicht auch klingen mag. Hier sollte es sich auf eine ganz andere, ungewöhnliche Art und Weise bewahrheiten. Aber der Reihe nach. Meine Name ist Hayenfeldt. Nicht James, sondern Dirk. Dirk Hayenfeldt. Ich bin Privatdetektiv. Alles begann an einem Tag im Spätsommer. Ein Tag wie jeder andere auch. Es war ungefähr halb zehn abends, als ich Simonsens, ein kleines und sehr exklusives Restaurant am Rande der Stadt nach einem einfach phantastischen Abendessen mit einer hinreißenden Schönheit namens Susann verließ. Wir hatten viel Spaß gehabt, gelacht, gut gegessen und die eine oder andere Flasche Moet Chandon geleert. Es war übrigens das erste Mal, daß ich Sushi zu mir genommen hatte und ich hoffte inständig, daß ich es auch noch ein paar Stunden in mir behalten würde. Jedenfalls machte sich dieses brodelnde Geräusch an einer Stelle unterhalb meines Magens breit, als ich mich angespannt in meinem Stuhl zurücklehnte und mir eine Benson & Hedges genehmigte. Mit Sicherheit war dieses Sushi-Ding die zufällige Erfindung eines außerordentlich hungrigen japanischen Gastes, ging es mir durch den Kopf. Jemand, der es einfach nicht mehr abwarten konnte, etwas Essbares zwischen die Zähne zu bekommen. Und bekanntermaßen sind Japaner ja auch immer irgendwie in Eile. Da kann man einfach nicht immer abwarten, bis alles durchgegart ist. Der völlig entnervte Koch wird ihm dann einfach ein wütendes „Dann friß den Fisch doch einfach roh!“ um die Ohren gehauen haben.Und jetzt verdienen sich die beiden mit dieser Erfindung eine goldenen Nase. Der Gast hieß übrigens Yamamoto Su. Der Spitzname des Kochs war höchtwahrscheinlich Shi. Ich hätte wetten können! Ich genoß solche Abende zu zweit, denn sie waren leider viel zu selten. Bei meinem Job hatte ich üblicherweise weder Zeit noch die Gelegenheit, ein so ausgiebiges Dinner und dann noch in so charmanter Gesellschaft einzunehmen. Es kam einfach immer irgendetwas dazwischen. Meistens reichte es bei mir nur für Currywurst und Pommes rot-weiß bei meinem italienischen Freund Paolo, eine schnelle Pizza oder einen Hamburger.Da hatten es die Kollegen aus dem Fernsehen schon besser. Mondäne Dinner in irgendwelchen exklusiven Restaurants im Beisein einer gutbetuchten Klientel. Restaurants, in denen man dem Kellner soviel Trinkgeld geben mußte, wie anderenorts ein komplettes Dreigänge-Menü kostete! Aber die Kollegen aus dem Fernsehen waren ja auch in der Lage, jeden noch so komplizierten Fall innerhalb von sechzig Minuten lösen. Und sie fuhren den ganzen lieben langen Tag im offenen Ferrari über Hawaii, zumindest aber im Pontiac Firebird über den sonnenbüberfluteten Santa Monica Freeway. Und was tat ich? Ich holperte mit meiner S-Klasse im Frühnebel über die schlaglochübersäte Umgehungsstraße unserer Stadt. Bei Regen, wohlgemerkt! Aber so war eben das Leben! Mein Begleiterin war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte langes, gewelltes Haar und war Besitzerin einer wohlproportionierten Figur. Sie war blond, aber entgegen der landläufigen Meinung ganz und gar nicht blöd. Was im übrigen ja alle Blondinen für sich in Anspruch nahmen. Komisch, denn blöde Blondinen gab es trotzdem. Ich hatte da schon mal die eine oder andere kennengelernt. Susann McGafferty war gebürtige Amerikanerin irischer Abstammung aus Chicago/Illinois und erst seit kurzem in der Stadt. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Dolmetscherin in einer dieser unzähligen Niederlassungen eines namhaften Softwaregiganten aus Silicon Valley, der unsere hübsche kleine Stadt mit seiner Anwesenheit ungemein bereicherte. Ich hatte sie, nachdem uns ein dummer aber dankenswerter Zufall zusammengeführt hatte, zum Abendessen mit anschließendem Stadtbummel eingeladen, um mit ihr das hiesige Nachtleben zu erforschen. Es sollte eine Entdeckungsreise im wahrsten Sinne des Wortes werden, denn ich war in der letzten Zeit wenig ausgewesen und wußte daher nicht, welche Läden gerade „in“ waren. Ich hatte gegen Mittag nichtsahnend in meinem kleinen Straßencafe gesessen und einen Espresso getrunken. Gleich um die Ecke unseres Büros. Susann hatte am Nebentisch Platz genommen und aufmerksam die Speisekarte studiert. Sie war mir sofort aufgefallen, mit ihren langen blonden Haaren. Dann war sie plötzlich zu mir herübergekommen und hatte mich mit verständnisloser Mine und einem leichten Kaugummiakzent in der Stimme gefragt, was denn ein „Strammer Max“ sei. Ich hatte es ihr -so gut es eben ging- erklärt und sie dann im weiteren Verlauf unseres Gespräches zum Essen eingeladen. Kein Strammer Max, versteht sich. Während des Abendessens hatte sich Susann als eine ungemein unterhaltende und mitteilungsbedürftige Person herausgestellt, die mir monologartig ihre ganze Lebensgeschichte von Geburt an erzählte. Unterbrochen nur von den wenigen Momenten die sie benötigte, um ihrem kleinen Mund mit geeister Melone zu füllen. Die Art, wie sie die kleinen dunklen Kerne auf den Rand ihres Löffels spuckte, hatte mich einfach umgehauen.Sie hatte mir mindestens eine Stunde von ihrem Vater, Onkel Joey und ihrem Lieblingsbruder Jon erzählt, einem Rechtsanwalt aus Detroit. Und dann war da noch Großonkel Jake. Ein Dynamitfischer aus Baton-Rouge. Ihr Vater Ed, nach ihrer Schilderung ein kleiner, dicklicher Herr mit beginnender Glatze, war pensionierte Armeegeneral und verbrachte seinen Lebensabend mit der Aufzucht von Tomaten. Streng ökologisch, versteht sich. Ich hatte es bis zu meinem Treffen mit Susann nicht für möglich gehalten, daß das Thema „Tomaten“ Gesprächsstoff von mehr als zwanzig Minuten liefern konnte. Aber es ging. Oder hätten Sie etwa gewußt, daß es doch tatsächlich Tomatenmarmelade gab? Ich jedenfalls nicht! Onkel Joey war Erdnußfarmer und fabrizierte nach Susanns Bekenntnis nichts außer Erdnüssen und Schulden. Onkel Joey war mir sofort symphatisch und ich hätte ihn zu gern kennengelernt. Nicht, weil ich etwa Erdnüsse gern knabberte, nein, sondern weil mir das mit dem Schuldenmachen durchaus bekannt war und tatsächlich auch eine gewisse Parallele zu meiner Person aufwies. Aber heutzutage mußte man einfach Miese auf dem Konto haben. Nur so wurde man in der Bank persönlich mit Namen angesprochen und bereits an der Eingangstür abgeholt. Von einem säuerlich lächelnden Angestellten im Konfektionsanzug und mit knapp über dem Bauchansatz endender grauer Lederkrawatte. Und man wurde regelmäßig nach dem Gesundheitszustand befragt. „Wie geht es Ihnen denn heute, Herr Hayenfeldt? Was macht die Erkältung?“ Es war doch schön zu wissen, daß sich jemand so um einen sorgte. Bruder Jon war vor Jahren als Anwalt für den amerikanischen Zweig der Mafia tätig gewesen und hatte sich dabei aufgrund eines Fehlers leider eine Kugel ins Kniegelenk eingefangen. „Six-pack“ nannte man so etwas. Machte man einen Fehler, gab es eine Kugel ins Hangelenk. Machte man einen schweren Fehler, einen Schuß ins Fußgelenk. Machte man allerdings einen unverzeihlichen Fehler, war das Kniegelenk dran. Jedenfalls hatte sich Anwalt Jon aus dem Mafiageschäft zurückgezogen und bediente nunmehr eine fast ebenso unberechenbare Klientel: Reiche und scheidungwillige Ehefrauen. Äußerst rachsüchtig und zu allem fähig! Ich kann auch nicht sagen, das mich Susanns Mitteilungsbedürfnis in irgendeiner Form störte oder gar langweilte. Nein, ich war vielmehr gezwungen, es zu akzeptieren, sollte aus dem verbleibenden Abend noch das werden, was ich mir erhoffte. Denn ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, nicht von dem Gedanken beseelt gewesen zu sein, sie so schnell wie möglich ins Bett zu kriegen! Aber Amerikanerinnen war ja bekanntlich sehr prüde und die Chancen standen schlecht für mich. Nichts desto trotz hatte mich Susann mit ihrer natürlichen und hinreißenden Art in ihren Bann gezogen, so daß ich an unserem weiteren Vorhaben, einen Stadtbummel zu unternehmen, festhielt und mich darauf -zugegebenermaßen- auch ein wenig freute. Es würde wohl noch ein hartes Stück Arbeit werden, ging es mir durch den Kopf, als ich die Beifahrertür meines Wagens öffnete und Susann mit einer einladenden Handbewegung meiner Linken andeutete, einzusteigen. Nachdem wir uns träge in die Ledersitze meines Mercedes hatten fallen lassen, startete ich den Motor, um mit ihr in Richtung Innenstadt zu fahren. Ich verfeinerte den ohnehin schon exquisiten Klang meines Sechszylinders mit etwas gedämpfter Musik, die ich meinem CD-Player nach einigen Mühen entlocken konnte. Susann hatte es sich mittlerweile auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht und blickte versonnen nach draußen, die Beine weit an den Sitz herangezogen. So fuhren wir dahin. Mitten in die sternklare Nacht. Mit meiner Musikauswahl hatte ich scheinbar genau ihren Geschmack getroffen, denn ein leises Summen drang vom Sitz neben mir an mein Ohr. Ich drehte meinen Kopf ein wenig nach rechts und bemerkte, daß Susann den Text des Songs mitsang. Immer genau einen halben Ton unter der schnarrenden Stimme des Sängers. Genau einen halben Ton.Nicht mehr und nicht weniger. Minutenlang! Ich konnte mir ein anerkennendes Lächeln nicht verkneifen, denn es war wirklich nicht einfach, so genau falsch zu singen. Susann hatte mein Lächeln offenbar bemerkt, denn sie beendete abrupt ihre Gesangseinlage, hüstelte verlegen und schaute dann zu mir herüber. „Hast Du eigentlich eine Waffe?“ fragte sie nach einer kurzen Pause. „Ich habe keine Waffe, ich bin eine Waffe!“ antwortete ich bewußt langsam und mit einem männlichtiefen Unterton in der Stimme. „Hast Du oder hast Du nicht?“ fragte sie ungeduldig. „Ich hab.“ „Und? Hast Du schon einmal geschossen?“ „Schon oft!“ antwortete ich geheimnisvoll. Susann beugte sich vor, wandte ihren gesamten Oberkörper nach links und blickte mich interessiert und zugleich fragend an.„Ich war als Kind im Schützenverein!“ fügte ich so beiläufig wie möglich hinzu, während ich eindringlich in ihre Augen schaute und ein Lächeln in meinem Gesicht nicht vollständig unterdrücken konnte. Susann knuffte leicht und mit gespielter Wut meine rechte Schulter, lehnte sich dann mit einem lauten Seufzen in ihrem Sitz zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Na klar habe ich eine Waffe.“ versuchte ich sie zu beruhigen. „Sie liegt in meinem Schreibtisch im Büro. Ich habe sie aber noch nie gebraucht. Ich nehme sie auch nie mit.“ Susann schaute mich fragend an. „Weißt Du, wenn man ständig eine Waffe bei sich trägt, kommt man sehr leicht in Versuchung, sie auch zu benutzen.“ versuchte ich ihr zu erklären. „Und dann richtet man vielleicht eine Menge Schaden an. Schaden, den man möglicherweise nicht wieder gutmachen kann. Bis jetzt habe ich sie auch noch nie vermißt!“ fügte ich vorsichtshalber noch hinzu. „Und wenn Du dich mal verteidigen mußt?“ fragte sie besorgt. „Dann laufe ich ganz schnell weg!“ entgegnete ich schulterzuckend mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich bin ein sehr, sehr guter Läufer! Außerdem bin ich lieber ein lebendiger Feigling als ein toter Held!“ Susann lachte kurz auf, wandte ihren Kopf zur anderen Seite und blickte durch das Seitenfenster meines Wagens nach draußen. Sie schien beruhigt zu sein. Ich beugte mich ein paar Zentimeter nach rechts und öffnete die Klappe meines stets aufgeräumten Hanschuhfaches auf der Beifahrerseite. Gerade als ich im Begriff war, eine neue Schachtel Benson & Hedges hervorzu-kramen, löste sich zu meinem Entsetzen ein Wust kleiner Notizzettel, zerknüllter Zigarettenschachteln mit Telefonnummern darauf, defekter Einwegfeuerzeuge, kaputter Kugelschreiber, alter und neuer Kaugummis, gebrauchter Papiertaschen- tucher und unbezahlter Strafzettel aus dem Fach und ergoß sich teilweise über Susanns Knien, teilweise über das Bodenblech meines Wagens. Das war eines meiner wenigen Probleme: Ich konnte mich von nichts wirklich trennen! „God damned! What the hell ist this?“ entfuhr es Susann lang und gedehnt, als sie mit verächtlicher Mine das Stilleben auf ihren Knien betrachtete. Sie hob beide Hände zu einer beschwörenden Geste und blickte strafend zu mir herüber. Ich habe möglicherweise vergessen zu erwähnen, daß Susann redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war und daß sie viel und laut fluchte. Hauptsächlich in Englisch. Dieser Umstand hatte uns mit Sicherheit vor der einen oder anderen peinlichen Situation bei Simonsens bewahrt, denn diese Lady hatte Sprüche drauf, die ich nicht einmal nachts um zwölf an die Tür einer öffentlichen Toilette gepinselt hätte. Aber das war ganz offensichtlich das irische Blut, das durch ihre Adern floß. „Das ist nur mein Büro!“ entgegnete ich lapidar und um Schadensbegrenzung bemüht. Ich angelte mir die angebrochene Packung Benson & Hedges von ihrem Schoß, fingerte mit meiner rechten eine angeknitterte Zigarette aus der Schachtel und steckte sie zwischen die Lippen. „Weißt Du, wenn man so viel Zeit im Auto verbringt wie ich, muß man alles Wichtige auch im Wagen haben.“ versuchte ich ihr zu erklären. „Gibst du mir mal bitte das Feuerzeug da vorne.“ bat ich sie, mit einem leichten Kopfnicken die Richtung andeutend. Susann nahm das grüne Feuerzeug aus der Ablage und drückte es mir wortlos in die Hand. Mit ihrer Rechten hatte sie mittlerweile begonnen, das Handschuhfach wieder einzuräumen. Periodisch blickte sie strafend aber doch mit einem durchaus gütigen Gesichtsausdruck zu mir herüber, während sie die kleinen Notizzettel säuberlich ordnete und den Stapel schließlich wieder in das Handschuhfach verbannte. Mit einer gezielten Handbewegung drückte Susann die Klappe des Faches schließlich ins Schloß und lehnte sich anschließend wieder in ihrem Sitz zurück. Ich hielt das Feuerzeug an das hintere Ende der Zigarette und blickte auf die Uhr des kirschbaumfurnierten Armaturenbrettes meines Wagens. Da es noch einigermaßen früh am Abend war, entschloß ich mich spontan, kurz auf einen Sprung in unserem Büro vorbeizuschauen. Es lag ohnehin auf dem Weg in die City, so daß es sich förmlich aufdrängte. Ich hatte meinen Partner Marc morgens gebeten, mir eine bestimmte Information zu besorgen und mich dann im Laufe des Abends bei Simonsens zurückzurufen. Marc hatte sich jedoch nicht gemeldet, obgleich ich ihm die Telefonnummer des Restaurants vorsorglich auf einem kleinen gelben Zettel notiert hatte. Mit Sicherheit schmorte dieser Fetzen Papier nun zusammen mit einem Haufen weiterer Zettel und anderem Krimskrams im Handschuhfach seines Wagens! Also ging ich davon aus, daß Marc mir eine Nachricht auf meinem Schreibtisch hinterlassen hätte. Marc war Franzose, hatte ein paar Jahre in Montreal gelebt und war dann nach Deutschland gekommen. Marc war ein guter Freund und zugleich mein Partner. Allerdings auch das krasse Gegenteil von mir, was die Sache nicht immer leicht machte. Und manchmal -aber auch nur dann- ging er mir wirklich auf die Nerven mit seiner pedantischen Art! Wir hatten uns vor ungefähr fünf Jahren entschlossen, unsere Brötchen zukünftig als Privatdetektive zu verdienen. Wir hatten unsere Jobs aufgegeben, ein paar Detektivkurse an der Volkshochschule besucht, den Waffenschein gemacht und mehrere Kurse für Selbstverteidigung belegt. Und um das nötige Kleingeld für die nicht ganz günstige Ausrüstung zusammenzubekommen, hatten wir bei einer Warenhaus-detektei angeheuert. Von irgendetwas mußten wir ja schließlich leben. Wie heißt es doch so schön: Wir waren jung und wir brauchten das Geld! Dann hatten wir einen Kredit aufgenommen und unser kleines Büro in der City angemietet. Am Anfang hatte es überhaupt nicht rosig ausgesehen, doch seit ungefähr zwei Jahren schrieben wir nun „schwarze Zahlen.“ Reich werden konnte man mit diesem Job nicht. Aber es machte Spaß, obgleich es manchmal schon ziemlich stressig war. Jedenfalls hätte ich für nichts auf der Welt tauschen mögen! Die Information, die ich auf meinem Schreibtisch vorzufinden erhoffte, betraf einen ziemlich miesen Typen mit Playboyambitionen, den Marc und ich momentan beschatteten. Genauer gesagt war es Marc, der ihn gerade beschattete, da er mich wegen der Verabredung mit Susann um kurz vor sieben abgelöst hatte. Yuppie Tom war ein aalglatter Playboytyp und hatte scheinbar nichts besseres zu tun, als seine junge Frau Sarah Kerlin, eine Bankierstochter aus sehr guten Haus, bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Strich und Faden zu betrügen und ihr Geld mit vollen Händen aus dem Fenster zu schmeißen. Der Typ war kein Heiratsschwindler im eigentlichen Sinn, dazu war er zu einfältig und zu schmalbrüstig. Thomas Kerlin war nur jemand, der offenbar die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen wußte und nicht das Geringste von regelmäßiger Arbeit hielt. Dabei schrammte er immer haarscharf an der Grenze der Legalität entlang, denn „Recht“ und „Unrecht“ waren für Tom durchaus dehnbare Begriffe. Sarahs Vater, ein eloquenter älterer Herr, hatte Marc und mich ohne Wissen seiner Tochter engagiert, da er das Treiben seines Schwiegersohnes und die Demütigungen seiner geliebten Tochter nicht mehr tatenlos hinnehmen wollte. Und Marc und ich taten, wie immer, unser Bestes. Ich kurbelte das Seitenfenster meines Wagens ein Stück herunter und schnippte den Zigarettenstummel achtlos auf die Straße. Die frische Luft tat mir gut und ich atmete tief durch. Susann hatte den Kopf an die Seitenscheibe gelehnt und schaute durch die Frontscheibe meines Wagens in die sternenklare Nacht. Träge floß der nicht abreißende Verkehrsstrom durch die Vorortstraßen unserer beschaulichen Stadt in Richtung City. Ich hatte den Eindruck, als ob dort etwas ungemein Wichtiges passierte, was sich keiner, aber auch wirklich keiner entgehen lassen durfte. Also mußte jeder genau jetzt mit dem Wagen dorthin. So ging es trotz der vorgerückten Stunde nur langsam voran und der Blechstrom quälte sich förmlich durch die Straßen. Und je mehr wir uns der City näherten, desto mehr staute sich der Verkehr, bis er schließlich völlig zum Erliegen kam. Da standen wir nun, Seite an Seite, Stoßstange an Stoßstange, Tür an Tür. Nichts ging mehr. Ich legte den Leerlauf ein, nahm den Fuß von der Kupplung und zog die Handbremse an. Laute Musik und ein undefinierbares Stimmengewirr wehten plötzlich durch das geöffnete Seitenfenster zu uns herüber. Ich seufzte kurz, blickte zu Susann herüber und schaute dann suchend in die Seitenfenster der uns umgebenden Fahrzeuge. Nach einigen Sekunden hatte ich die Gräusche lokalisiert. Sie kamen aus dem Wagen direkt vor uns. Einem mitternachtsblauen Golf-Cabrio mit geöffneten Verdeck und zwei blonden Schönheiten auf der Rücksitzbank. Der Fahrer, ein dunkelgelockter Jüngling so um die Zwanzig, balzte wie ein stolzer Gockel und bemühte sich redlich um die Gunst der Damen. Er unterhielt sich angeregt mit einer der beiden, wobei er seinen Kopf fotogerecht ein wenig zur Seite gewendet hatte und mir so den Blick auf sein strahlendes Zahnpastalächeln ermöglichte. Im Rückspiegel seines Wagens konnte ich erkennen, daß er trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille trug. Das verwunderte mich nicht im geringsten, denn mit Sicherheit konnte er die Gläser auch gar nicht mehr abnehmen. Ich hätte meinen Hintern darauf verwettet, daß die Bügel seiner Brille aufgrund des ständigen Tragens mittlerweile hinter den Ohren festgewachsen waren. Sehr gefahrlich, so etwas!Den rechten der beiden solariumgebräunten Arme hatte der Jüngling wie zufällig auf der Kopfstütze des Beifahrersitzes geparkt, der andere ruhte lässig auf dem Rahmen der Fahrertür. Dabei hatte er den Ellenbogen weit nach draußen gesteckt. Und vom unteren Ende seines rechten Armes blitzte goldfarben seine Armbanduhr zu mir herüber. Eine Rolex, schoß es mir förmlich durch den Kopf. Eine Rolexkopie. Mit Sicherheit. Ich hätte meinen Arm darauf verwettet. Den mit der Kaufhaus-Armbanduhr dran. Plötzlich und unerwartet setzte sich der Blechwurm wieder in Bewegung. Hastig zog ich den Knopf, der die Handbremse meines Wagens löste und legte den ersten Gang ein. Gottseidank gab es in unserer Stadt ziemlich breite Straßen, ging es mir durch den Kopf, als ich in den zweiten Gang hochschaltete und den weit herausragenden Ellenbogen vor uns mit meinen Blicken festnagelte. Anderenfalls wären die Krankenhäuser voll von dunkelgelockten Patienten mit aufgeschrammten Ellenbogen. Und das wäre doch schon ein herber Schicksalsschlag für alle Blondinen unserer Stadt!Ich überlegte kurz, setzte dann den Blinker nach links und bog in die Auffahrt der südlichen Umgehungsautobahn. Zwar war dieser Weg in die City mindestens zehn Minuten länger, jedoch waren wir hier vor diesen Golf-Cabrio-Lacoste-Jüngern einigermaßen sicher. Susann blickte unentschlossen zu mir herüber. „Hast Du eigentlich eine feste Beziehung?“ fragte sie schließlich. „Du meinst s o e i n e Beziehung?“ hakte ich nach, wobei ich die Betonung auf das „so eine“ legte.„Ja!“ antwortete Susann. „Komm, Du weißt schon, was ich meine. Bist Du verheiratet oder hast Du eine feste Freundin?“ „Nein!“ antwortete ich kopfschüttelnd. „Ich bin geschieden.“ Ich drehte meinen Kopf in Susanns Richtung und zauberte ein kleines Grinsen auf mein Gesicht. „Privatdetektive sind eigentlich immer geschieden oder leben zumindest von ihren Frauen getrennt.“ fügte ich erläuternd hinzu. „Das gehört sich in Detektivkreisen einfach so!“„Gut!“ antwortete Susann kurz. „Ich mag dich nämlich. Sehr sogar!“ Unweigerlich mußte ich schlucken. Das kam überraschend. Susann hatte mir förmlich den Wind aus den Segeln genommen. Ihre Unbekümmertheit in dieser Facette zwischenmenschlicher Beziehungen verblüffte mich und machte mich -zugegeben- ein wenig verlegen. Es passierte nicht oft, daß mich etwas verlegen machte. Wenn überhaupt nur dann, wenn eine hübsche Frau zu mir sagte „Ich mag Dich.“ Ich nahm meine rechte Hand langsam vom Lenkrad und streichelte flüchtig über ihre Wange. „Ich mag Dich auch.“ sagte ich leise zu ihr. „Dann laß uns doch gleich zu mir fahren.“ schlug Susann mit einem verheißungsvollen Unterton in der Stimme vor. „Keinen Stadtbummel?“ fragte ich sie mit gespielter Enttäuschung. „Keinen Stadtbummel!“ antwortete sie kurz. „Und auch keinen Discobesuch?“ „Keinen Discobesuch!“ antwortete sie. „Na, dann wollen wir mal besser keine Zeit verlieren!“ stellte ich fest und trat das Gaspedal des Wagens voll durch. Der Motor des Sechszylinders jaulte merklich auf und der Mercedes machte einen Satz nach vorn. Die Beschleunigung preßte uns tief in die Sitze. Ich blickte zu Susann. Sie lächelte. Vorsichtig nahm ich den Fuß vom Gaspedal und ließ den Wagen langsam ausrollen. „Ich muß noch Mal schnell im Büro vorbei. Dauert höchstens zehn Minuten. Fest versprochen!“ sagte ich mit fast entschuldigenden Unterton in der Stimme. „Ist in Ordnung!“ antwortete Susann augenzwinkernd. Ich setzte den Blinker nach links und verließ die Umgehungsstraße an der Ausfahrt „City-West“. Der Verkehr hatte sich ein wenig beruht und wir kamen zügig voran. Schnell ließen wir die ersten riesigen Bürotürme hinter uns und bogen nach ein paar weiteren Minuten schließlich in die kleine Seitenstraße, in der sich unser Bürohaus befand. Nachdem wir das Hochhaus mit der Nummer fünf erreicht hatten, stellte ich den Mercedes wie immer auf meinem angestammten Privatparkplatz ab: Mitten auf dem Gehweg und im absoluten Halteverbot! Und von den Strafzetteln, die ich hier in den letzten paar Jahren schon kassiert hatte, hätten Susann und ich durchaus einen Kurzurlaub auf den Malediven finanzieren können. Vollpension, wohlgemerkt! Und Großonkel Jake hätten wir auch noch einladen können! Ich bat Susann, im Wagen auf mich zu warten und schwang mich dann aus dem Sitz.Unser Büro lag in der siebzehnten Etage eines großen Bürohauses mit verspiegelter Glasfront und der obligatorischen zweigeschossigen Garage im Keller. Ein Renditeobjekt, das eine Versicherungsgesellschaft in einem Zustand geistiger Umnachtung oder purem Größenwahn vor ein paar Jahren aus dem Boden gestampft hatte. Es war einer dieser Bürotürme, dessen monatliche Miete sich exponential zur Geschoßhöhe und zur vorhandenen Exklusivität verhielt und der sich im übrigen einen Dreck darum scherte, wie man denn die verdammte Miete aufzubringen gedachte. Aber es war eine gute Adresse. Und eine gute Adresse hatte bekanntlich ihren Preis. Langsam versenkte ich den messingfarbenen Schlüssel in das hakende Schloß der gläsernen Eingangstür, drehte ihn dann mit einem Schwung nach rechts und preßte meine Schulter gegen das kühle Glas. Die Tür schwang mit einem leisen Vibrieren nach innen. Tastend suchte ich im Dunkel nach dem passenden Lichtschalter. Und ich war mir ziemlich sicher, daß es einer der drei quadratischen Schalter in der unteren Reihe sein mußte. Ganz sicher. Nach und nach sprangen die Leuchtstoffröhren der Deckenbeleuchtung an und tauchten die Eingangshalle in ein gleißendes Licht. Und zwar erst, nachdem ich den richtigen Schalter nach ein paar Sekunden in der oberen Reihe ausfindig gemacht hatte. Es gab bekanntlich ja immer zwei Möglichkeiten: Die, die man selbst gewählt hatte und dann noch die richtige! Geblendet kniff ich die Augen zusammen, zog kopfschüttelnd die Eingangstür hinter mir ins Schloß und ging hinüber zu den Aufzugen. So konnte man sich täuschen.Mit einer gezielten Handbewegung betätigte ich den mattbeleuchteten Ruftaster des linken Aufzuges, trat einen Schritt zurück und blickte dann auf die rot erleuchtete Anzeige über der Fahrstuhltür. Sie zeigte eine große „17“. Wie kommt es eigentlich, daß ein Aufzug immer gerade aus der Etage kommt, in die man selbst möchte, ging es mir plötzlich durch den Kopf, während ich von einem Fuß auf den anderen Fuß trat. Nachdenklich versenkte ich die Hände tief in meinen Hosentaschen. Es mußte ein System dahinterstecken. Irgendein System, eine höhere Ordnung. Etwas, was ich bislang noch nicht durchschaut hatte. Aber eines Tages würde ich schon hinter das große Geheimnis kommen, nahm ich mir fest vor, als ein kurzes und gedämpftes „Pling“ die Ankunft des linken Aufzuges ankündigte. Ich würde jedenfalls daran arbeiten, beschloß ich. Mit einem Gefühl von Erleichterung schob ich mich in die spiegelverkleidete Kabine und strich über die Sensortaste mit der Aufschrift „17“. Lautlos und mit einem leichten Ruck setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Aufwärts! Die Alternative wären knapp vierhundert Treppenstufen gewesen. Vierhundert endlos erscheinende Stufen aus grauem Beton. Eine Stufe höher als die andere. Ein einziges Mal hatte ich diese Betonstufen benutzen müssen. Stromausfall. Die komplette Woche danach hatte ich im Krankenhaus verbracht. Und zwar unter dem Sauerstoffzelt! Die Kabine stoppte nach wenigen Sekunden und entließ mich in die siebzehnte Etage. Unser Büro befand sich auf der linken Seite am Ende des Flures. Fast lautlos bewegte ich mich über den ausgetretenen Teppichboden, bis ich schließlich vor unserem Büroeingang zum Stehen kam. Ich drückte den silber-glänzenden Schlüssel in das ausgeleierte Schloß, drehte ihn dann kurz um und drückte zeitgleich die Klinke der teakholzfurnierten Eingangstür herunter. Tastend langte mit meiner Linken um die Ecke, knipste das Licht an und betrat das Sekretariat. Von Marc und mir auch kurz „Operationszentrale“ genannt. Warum? Weil dies mit Abstand der wichtigste Raum in unserem Büro war, denn hier standen Kaffeemaschine, Kühlschrank und Mikrowelle! Ich blickte mich kurz um und steuerte mein Büro an. Es lag zur Rechten und es sah genau so aus, wie ich es am späten Vormittag verlassen hatte: Unaufgeräumt. Das war auch der Grund, warum ich Susann gebeten hatte, im Auto auf mich zu warten. Eigentlich bin ich ja Gentleman durch und durch, aber nach diesem kleinen faux pas mit dem Handschuhfach hätte Susann beim Anblick dieses Büros einen völlig falschen Eindruck von mir erlangt. Ein Eindruck, der im weiteren Verlauf unserer noch jungen und aufknospenden Beziehung nur schwer zu revidieren gewesen wäre. Da war es schon besser, kein unnötiges Risiko einzugehen! Nachdem ich Frau Hilbert -unserer gemeinsamen Sekretärin und Helferin in allen Lebenslagen- untersagt hatte, vor ihr vorschnell als „Müll“ klassifizierte wichtige Notizzettel, Gerätebeschreibungen, leere Zigerettenpackungen mit Telefon- nummern darauf und defekte Einwegfeuerzeuge kurzerhand wegzuwerfen, hatte sich keiner mehr erbarmt, in unserem Büro für Recht und Ordnung zu sorgen. Das Resultat hatte sich dann auch im Laufe der letzten Monate um meinen Schreib-tisch herum angehäuft! Aber so war sie, unsere Frau Hilbert. Eine Seele von Mensch, ein guter Privatdetektiv aber leider auch ein bißchen stur. Typisch norddeutsch, eben. Auf meinem Schreibtisch fand ich lediglich drei Briefe vor, aber keine Notiz von meinem Partner Marc. Zwei der Briefe betrafen unbezahlte Telefonrechnungen, der dritte Umschlag beinhaltete ein Schreiben der Anwältin meiner Exfrau. Ich brauchte ihn auch gar nicht zu öffnen, denn ich wußte auch so, was drinstand. Entweder war ich mal wieder mit dem Unterhalt im Rückstand oder sie wollte mehr Geld. Privatdetektive sind übrigens immer mit den Unterhaltszahlungen im Rückstand. Das gehört sich einfach so! Nach und nach durchkämmte ich sämtliche anderen Räume unseres Büros und fand die erhoffte Notiz auch nach intensivster Suche weder auf Marcs noch auf Frau Hilberts Schreibtisch. Gerade als ich beschlossen hatte, sämtliche Papierkörbe vorsichtshalber einer näheren Inspektion zu unterziehen, bemerkte ich aus den Augenwinkeln heraus, daß die rote Leuchtanzeige des Anrufbeantworters blinkte. Natürlich! Marc hatte angerufen und die Nachricht per Telefon auf das Band des Anrufbeantworters gesprochen, schoß es mir durch den Kopf. Marc nannte das Kästchen übrigens stilecht amerikanisch einfach AB. Warum, wußte keiner so genau! Aber wenn wir beide außer Haus zu tun hatten und unser Büro nicht mehr besetzt war, benutzten wir den Anrufbeantworter manchmal als Informations-zentrale. Eine tolle Sache. Man konnte Nachrichten hinterlassen und per Fernabfrage abrufen. Ich lag also scheinbar richtig mit meiner Befürchtung, daß Marc den Zettel mit der Telefonnummer von Simonsens wohl schlichtweg verbummelt hatte. Ich spulte das Band des kleinen schwarzen Kastens an den Anfang zurück und drückte dann die Taste mit der eingravierten Aufschrift „play“. Gemächlich setzte sich das Band in Bewegung, begleitet von einem leisen Rauschen.Was ich dann allerdings hörte, ließ mich wider Erwarten erschrecken. Es war alles andere als die mir vertraute Stimme meines Partners Marc:

„Guten Abend. Mein Name ist Lisa Warbs. Ich möchte Sie engagieren. Ich benötige ihre Hilfe. Ich glaube, daß mein Mann entführt worden ist. Bitte rufen sie mich schnellstmöglich zurück. Ich erwarte Ihren Anruf. Und ich werde nicht die Polizei einschalten.“

Nachdem ich Lisa Warbs sofort unter der angegeben Nummer zurückgerufen hatte, brachte ich Susann zurück in ihr Appartement. Denn Lisa Warbs hatte mich gebeten, noch heute Abend zu ihr zu kommen. Meine irische Freundin war zunächst etwas enttäuscht, zeigte dann jedoch Verständnis für meinen sehr kurzfristigen Entschluß. Susann verbarg ihre Enttäuschung so gut es ging, allerdings bemerkte ich den traurigen Ausdruck in ihren Augen. Außerdem schwieg sie die weitere Fahrt über, so daß sich mir der Verdacht förmlich aufdrängte, daß etwas nicht ganz in Ordnung war. Aber schließlich war es mein Job. Ein Job, wie jeder andere auch. Nur mit dem kleinen Unterschied, daß man rund um die Uhr im Einsatz war. Und manchmal noch ein wenig länger! Ich gebe ja zu, daß ich den Rest des Abends auch lieber mit Susann verbracht hätte. Geschäfte hin, Geschäfte her. Nur so wäre ich höchstwahrscheinlich noch in den Genuß gekommen, den Rest ihrer Lebensgeschichte auch noch zu hören. Aber ich hatte keine Wahl. Diese Frau benötigte Hilfe, und ich würde sie ihr geben. Wir hatten mittlerweile das Viertel unserer beschaulichen Stadt erreicht, in dem sich Susanns Appartment befand. Der Verkehr hatte sich ein wenig gelegt und wir waren zügig vorangekommen. Mit langsamer Geschwindigkeit lenkte ich den Mercedes auf den hellerleuchteten Parkplatz des kleinen Gebäudekomplexes und stellte den Motor ab. Wortlos blickte ich zu Susann herüber. Ich wußte nicht genau, was ich ihr jetzt sagen sollte. „Glaubst Du, daß es lange dauert?“ kam sie mir zuvor. „Kann ich nicht sagen.“ entgegnete ich schulterzuckend. „Es hängt da von ab, was eigentlich genau passiert ist.“ Susann blickte nachdenklich durch die Frontscheibe nach draußen. Im hellen Licht der Parkplatzbeleuchtung konnte ich erkennen, daß sie ihre Stirn in Falten gelegt hatte. „Ich mache dir einen Vorschlag!“ entfuhr es ihr plötzlich. Meine neue Freundin drehte sich in ihrem Sitz ein wenig zur Seite und blickte mir mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck entgegen. „Mein Appartment ist dort oben in der zweiten Etage. Dort, der kleine Balkon, links!“ Susann deutete mit dem Zeigefinger ihrer rechten in die Richtung des uns genau gegenüberliegenden Blocks. „Du fährst hier später einfach nochmal vorbei, nachdem Du mit dieser Frau gesprochen hast. Wenn bei mir noch Licht brennt, darfst Du raufkommen. Wenn nicht, dann hast Du leider Pech gehabt!“ Susann machte große Augen und warf mir ein breites Kaugummi-Lächeln herüber. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände und signalisierte mir, daß mir eine phantastische Nacht entging, wenn ich mich jetzt nicht ein wenig beeilte und daß es allein meine Schuld wäre, wenn ich diese einmalige Gelegenheit verpaßte. Ich sah wortlos in die Richtung, die Susann mit ihrem Finger angedeutet hatte und erblickte einen kleinen Balkon mit zwei Fenstern zur Rechten. Die Adresse, die Lisa Warbs mir während unseres Telefonates genannt hatte, war ganz in der Nähe, so daß ich es durchaus schaffen konnte. „Ich versuch es!“ sagte ich und startete demonstrativ den Motor. „Dann sieh mal zu, daß Du schnell aus dem Wagen kommst! Sonst ist es nachher noch Deine schuld, wenn ich es nicht schaffe!“ fügte ich noch hinzu. Susann beugte sich zu mir herüber, hauchte mir einen Kuß auf die Wange und flüsterte ein verheißungsvolles „Bis später!“ in mein Ohr. Sie war doch mehr Irin als Amerikanerin, ging es mir durch den Kopf, während ich die Ausfahrt des Parkplatzes ansteuerte. Und zwar in der sicheren Gewißheit, mich spätestens gerade eben in diese Frau verliebt zu haben! Ich verließ die City über die westliche Umgehung in Richtung Süden. Der Verkehr hatte sich beruhigt und nur hier und da verursachten vereinzelte Nachtschwärmer ein paar zünftige Staus derjenigen Art, die grundlos und aus heiterem Himmel entstanden und dann Jahrzehnte brauchten, um sich wieder aufzulösen. Eine Frage kreiste wieder und wieder durch meinen Kopf. Warum gerade ich? Warum war Lisa Warbs ausgerechnet auf uns gekommen? Wir standen weder an erster Stelle in den Gelben Seiten noch waren Marc und ich bislang für eine so hochkarätige Klientel tätig geworden, mal abgesehen von dem alten Kerlin. Es mußte etwas anderes sein, oder war es purer Zufall? Jedenfalls benötigte diese Frau Hilfe, und sie hatte mich dazu bestimmt, ihr diese Hilfe zu geben. Und ich würde, wie immer, mein Bestes, geben. Das war ich meiner Klientel und auch mir einfach schuldig. Klaus-Dieter Warbs. Der Name war mir ein Begriff. Mit ihm verband ich zunächst weniger die Person, sondern eher einen der größten Verlage weit und breit. Ein Wirtschaftsimperium. Der Warbs-Verlag war eine der tragenden Wirtschaftssäulen unserer Stadt und verlegte einfach alles, was sich in irgendeiner Form verlegen oder sonstwie unter die Leute bringen ließ. Angefangen von der Mehrzehl der hiesigen Tageszeitungen über Taschenbücher und Magazinen bis hin zu sehr kostspielig aussehenden Fachbüchern mit zehnzentimeter breiten Buchrücken. Gerade in den letzten Wochen war der Warbs-Verlag wieder in aller Munde gewesen und Gesprächsthema Nummer eins. Ich hatte es nur so am Rande mitbekommen, denn ich interessierte mich nicht sonderlich für diesen Börsenklatsch. Das war einfach nicht meine Welt. Jedenfalls munkelte man etwas von einer Fusion mit einem anderen Verlag. Ein Verlag, der über eine Sendelizenz verfügte und der dem Warbs-Verlag den Weg in ein neues Medium eröffnen konnte. Ob was dran war, an dieser Geschichte, konnte ich nicht beurteilen. Jedenfalls hatte die brodelnde Gerüchteküche die Börsianer mächtig aus der Ruhe gebracht und die Warbs Aktien waren ein paar Punkte nach oben geklettert. Die Person des Klaus-Dieter Warbs schien zur Größe und Gewaltigkeit seines Imperiums eher bescheiden und bieder. Er wurde meines Wissens nach in den letzten Kriegstagen geboren und war dann zusammen mit den Eltern und einer jüngeren Schwester aus dem Osten geflüchtet. Später hatte er eine Bilderbuch-karriere hingelegt. Vom Schuhputzer zum Millionär, sozusagen. Ich selbst hatte ihn vor ein paar Jahren auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung getroffen und ein paar Worte mit ihm wechseln können. Es wäre also zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß ich ihn kannte. Aber jeder, der mit Klaus-Dieter Warbs geschäftlich oder privat zu tun hatte, konnte bestätigten, daß er nicht dieser klischeehafte Managertyp war, den scheinbar nur irgendwelche Bilanzen interessierten und dessen Gesprächsthemen immer um die Themenbereiche „Gewinn“ und „Umsatz“ kreisten.Ganz im Gegenteil! Klaus-Dieter Warbs schien vielmehr ein netter und liebenswerter Mensch zu sein, der jedem unnötigen Konflikt aus dem Wege ging und der sehr zurückgezogen lebte. Bodenständig und fernab der Glitzerwelt. Jedenfalls war er nicht sehr oft auf den Titelblättern der einschlägigen Gazetten zu sehen. Gleichwohl war Klaus-Dieter Warbs war ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor in unserer Stadt. Jemand, der sich zwar stets im Hintergrund hielt aber der trotzdem immer irgendwie präsent war. Seine Verbindungen reichten bis in die höchsten Ebenen der Politik. Die Abgeordneten unserer Städt zählten zu seinem näheren Freundeskreis und die Landespolitiker gaben sich bei den Warbs die Türklinke in die Hand. Und es hätte mich auch nicht gewundert, wenn Klaus-Dieter Warbs eines Tages selbst in die Politik gegangen wäre. Je mehr ich über die Person Klaus-Dieter Warbs nachdachte, desto mehr Fragen stellten sich mir. Fragen, auf die ich nicht die leiseste Spur einer Antwort hatte. Da war zunächst die Frage nach einem möglichen Motiv für eine Entführung. Politische Gründe oder ging es um Geld? Oder hatte es etwa mit der bevorstehenden Fusion zu tun? Vielleicht Terroristen? Und wer sollte einen Menschen, der offensichtlich keine Feinde hatte und zudem nicht die kleinste Angriffsfläche bot, überhaupt entführt haben, sollte sich Lisa Warbs Befürchtung bestätigen. Fragen über Fragen und nicht die leiseste Spur einer Antwort.Ich entschloß mich, zunächst nicht weiter über diese Sache nachzudenken und erst mein Gespräch mit Lisa Warbs abzuwarten. Vielleicht täuschte sie sich ja auch und es gab überhaupt keine Entführung. Möglicherweise gab es ja auch eine ganz einfache Erklärung für alles. Ein Verkehrsunfall, ein plötzlicher Termin. Irgendetwas, was die alltägliche Routine unterbrochen hatte. Ich griff mit meiner Linken zur Seite und nahm die angebrochene Schachtel Benson & Hedges aus dem Seitenfach meiner Wagentür. Ich hatte sie vorsichtshalber nicht wieder in das stets aufgeräumte Handschuhfach zurückgelegt, sondern in der Nähe behalten. Der kluge Mann baut vor! Mit zwei Fingern fischte ich eine Zigarette aus der Schachtel, hielt das kleine grüne Einwegfeuerzeug an das hintere Ende der Zigarette und sog den Rauch gierig ein. Mit einer schnellen Bewegung meiner linken kurbelte ich das Seitenfenster des Wagens halb herunter. Ein kalter und schneidender Windzug stellte sich meinem Gesicht entgegen und durchpflügte in unbarmherziger Weise mein Haar. Ich genoß es, denn der Fahrtwind kühlte und erfrischte mein arg strapaziertes Gehirn. Das war auch gut so, denn ich hatte so eine Ahnung, daß ein kühler Kopf bei dem bevorstehenden Gespräch mit Lisa Warbs durchaus angebracht sein würde. Eine Entführung war eigentlich mit das Schrecklichste, was man einem Menschen antun konnte, ging es mir durch den Kopf, während ich die Zigarette aus dem Mundwinkel zog. Da kam jemand daher, nahm jemandem einen anderen Menschen weg und sagte dann sinngemäß: „Du bekommst diesen Menschen nur wieder, wenn du eine bestimmte Geldsumme zahlst. “Das Entführungopfer wurde einfach auf einen bestimmten Marktwert reduziert, und der andere konnte sehen, wie er diese Summe zusammenbekam. So gab es eigentlich zwei Opfer: Der Entführte, der um seine Gesundheit bangte und der mit Sicherheit die schrecklichsten Stunden seines Lebens durchmachte und der andere, der sich Sorgen darum machte, ob er seinen geliebten Menschen jemals wiedersehen würde. Und noch eines machte die Sache äußerst schwierig: Die quälende Ungewißheit. Bei einem Unfall oder einem Tötungsdelikt konnte man auf den Punkt gebracht einfach sagen: „Er ist tot. Je schneller Du dich daran gewöhnst, desto besser für dich!“ Natürlich nicht so direkt, sondern mit ein paar hübschen und tröstenden Worten. Bei einer Entführung konnte man überhaupt nichts sagen. Man konnte nur warten. Warten und hoffen. Das Einzige was man tun konnte, war die Alternativen anzudenken und die Unangenehmere einfach zu verdrängen! Und war es schon besser, wenn wenigstens einer den kühlen Kopf behielt. Und den würde ich haben, nahm ich mir vor, während ich die halbgerauchte Zigarette aus dem Mundwinkel zog und mit Daumen und Zeigefinger durch den Fensterspalt nach draußen schnippte. Ich verließ die Stadtautobahn nach weiteren zehn Minuten und gelangte in den Vorort unserer Stadt, in dem die Creme de la Creme wohnte, oder besser gesagt „zu residieren“ pflegte. Eine Wohngegend mit Häusern knapp unterhalb der Milliongrenze. Die Villen lagen alle irgendwie an ein und demselben künstlichen See und waren durch eine Vielzahl adretter aber zum Teil wirklich überflüssiger Straßen miteinander vernetzt. Es war ein autarkes Gebilde mit mehreren Feinkostgeschäften, einem Antiquitätengeschäft mehreren kostspieligen Boutiquen sowie dem obligatorischen Getränkemarkt. Ich lenkte meinen Wagen mit Schrittgeschwindigkeit in die Straße, die Lisa Warbs mir während unseres Telefonats genannt hatte und stoppte den Mercedes vor dem Anwesen mit der Nummer acht. Vor meinen Augen erhob sich ein mächtiges schwarzes Eingangstor, an das sich rechts und links gemauerte Säulen anschlossen. Die Laternen darauf brannten und tauchten den Straßenbereich in ein trübes Licht. Ich blickte mich kurz um, schloß das Seitenfenster meines Wagens und stieg aus. Mit wenigen Schritten trat ich vor das schmiedeeiserne Tor und drückte die wuchtige Klinke des linken Flügels herunter.

Zerrissen

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