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Kapitel 2

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Der machanische Wecker auf Klaus-Dieter Warbs Nachttisch klingelte laut und ohne Erbarmen. Stärker und stärker drang das pulsierende und nervenzerreißende Tönen wie durch einen dichten Nebel hindurch in sein Bewußtsein. Dabei war es ihm zunächst so vorgekommen, als sei dieses helle Klingeln ein Teil des soeben durchlebten Traumes gewesen.Er hatte sich mit seiner Frau Lisa auf einem riesigen weißen Kreuzfahrtschiff in der Ostsee befunden. Einem futuristisch anmutenden Luxusliner mit blauen Schornsteinen und hoch herausragenden Aufbauten. Sie waren soeben mit kleiner Fahrt in die riesige Schleusenanlage vor dem Nord-Ostsee-Kanal eingelaufen und hatten dann gestoppt. Der russische Kapitän auf der Brücke hatte etwas Unverständliches in die Lautsprecheranlage gerufen und die Crew an Oberdeck hatte daraufhin begonnen, das Schiff an der Schleusenmauer festzumachen. Sie hatten beide auf dem Promenadendeck gestanden. Arm in Arm. Und sie hatten von hoch oben dem geschäftigen Treiben dort unten interessiert zugeschaut. Die Arbeiter in der Schleuse hatten auf sie wie kleine geschäftige Ameisen gewirkt. Fortwährend hin- und herlaufend, scheinbar planlos und ohne Ziel. Im hinteren Bereich der Schleuse hatten dann plötzlich große rote Leuchten aufgeblinkt. Sie hatten sich erschrocken umgedreht und bemerkt, daß sich die mächtigen Schleusentore in ihrem Rücken in Bewegung gesetzt hatten. Zudem hatte irgendwo eine riesige Klingel begonnen, laut und durchdringend zu tönen. Mehr und mehr hatte er aber noch in seinem Traum dann realisieren müssen, daß dieses pulsierende Klingeln nicht etwa ein akkustisches Warnsignal der Schleusenanlage war, sondern ausschließlich dazu diente, ihm auch noch das allerletzte bißchen Schlaf aus den Gliedern zu treiben. Er hatte auch nicht etwa eine Warnklingel gehört, sondern lediglich seinen alten Wecker. Ein Erbstück seines verstorbenen Vaters.Nachdem er nunmehr ansatzweise in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, langte er aufgeschreckt mit seiner rechten Hand hinüber zum Wecker und brachte das Getöse in seinen Ohren mit einem gezielten Handschlag zum erliegen. Tastend und mit noch immer geschlossenen Augen fingerte er seine Armbanduhr vom Nachttisch. Er ließ sich noch einen Moment Zeit, gähnte dann kräftig und blickte auf das gelbschimmernde Ziffernblatt seiner Rolex. Seine Uhr zeigte kurz vor sechs und es sollte wie jeden morgen die gleiche unbarmherzige Tortour beginnen. Auch wenn er schon hunderte Male aufgestanden war, so war es doch jedes Mal wieder ein grausamer nicht endenwollender Kampf. Ein Kampf, bei dem der Sieger tagtäglich schon von vornherein feststand. Er haßte sich dafür. Er haßte diese Quälerei jeden morgen und seine mangelnde Selbstdisziplin in dieser Hinsicht. Obgleich er stetig an sich arbeitete, war dieses Problem wohl nicht mehr in den Griff zu bekommen. Jedenfalls nicht mehr in diesem Leben. Es war nicht zu leugnen, daß er schwach war. Willenlos und butterweich. Aber nur in dieser Hinsicht. Nur wenn es um das morgendliche Aufstehen ging. Aber warum eigentlich? War er nicht der Chef, kam es ihm plötzlich in den Sinn, als er den rechten Arm wieder unter die wärmende Bettdecke zog. Und gehörte es nicht auch zu den Privilegien eines Chefs, sich ab und an mal die Freiheit zu gönnen, später als üblich im Büro zu erscheinen? Hatte er sich das nicht wenigstens verdient, in all den Jahren der Plackerei? Theoretisch ja. Aber praktisch nein. Denn gerade heute hatte er schon um acht Uhr einen wichtigen Besprechungstermin mit einigen hochkarätigen Geschäftspartnern. Ein Arbeitsfrühstück in seinem Büro, das er unter gar keinem Umständen verpassen durfte. Immerhin ging um die weitere Zukunft seines Verlages. Wenn heute alles so klappte, wie er es sich schon seit Wochen vorgestellt und ausgemalt hatte, wäre er wohl einer der mächtigsten Männer in der Verlagbranche. Dann hatte er für sein Unternehmen den Weg ins nächste Jahrtausend geebnet und sich selbst ein Denkmal gesetzt. Der Gedanke an ein Denkmal gefiel ihm irgendwie, je mehr er darüber nachdachte. Vielleicht war es wirklich die richtige Zeit dafür. Jedenfalls aber für ein in Öl gemaltes Portrait im Eingangsbereich seines Büros. Gut. In den Schoß gefallen war ihm diese Sache nicht. Er hatte hier und da ein paar Zahlungen an die richtigen Leute leisten müssen. Große Summen und nur in bar! Und als seine zukünftigen Geschäftspartner sich immer nicht ganz schlüssig waren, ob sie ihn mit ins Boot nehmen sollten, hatte er sogar ein wenig Druck ausüben müssen. Aber das gehörte doch zum Geschäft. Das war üblich. Man mußte nur die richtigen Leute kennen und ihre Wünsche erfüllen. Oder man mußte über sie Bescheid wissen. Hier mal eine Einladung zu einem Shopping Trip nach New York zur Weihnachtszeit, dort mal eine Einladung zum Formel-1 Rennen nach Monaco. Seinen zukünftigen Vertragspartnern würde eigentlich nichts anderes übrig bleiben, als mit ihm ins Geschäft zu kommen. Er wußte einfach zuviel. Und er hatte ihnen auch gesagt, was er wußte. Es war nicht ganz sauber, was er getan hatte. Dessen war er sich durchaus bewußt. Aber er hatte Verantwortung. Für sich, seine Familie und die Belegschaft. Und er wollte diese Sendelizenz. Koste es, was es wolle! Klaus-Dieter Warbs legte den rechten Arm unter den Kopf und wandte seinen Blick leicht nach links zu Lisa. Sie schlief noch tief und fest. Er konnte ihr leises und gleichmäßiges Atmen hören. Der schmale Träger des blauen Satinoberteils war ein Stück heruntergerutscht und gab den Blick auf ihre makellose Schulter frei. Er beobachtete, wie sich ihr Körper sanft und in einem gleichbleibenden Rhythmus auf und ab bewegte. Lisas Schönheit und Anmut, die sich -wie es ihm schien- im Schlaf noch viel intensiver präsentierten, zauberten den Hauch eines Lächelns auf sein Gesicht. Er war stolz. Stolz und glücklich, das Leben mit einer solch phantastischen Frau teilen zu können. Lang und intensiv betrachtete er ihr Gesicht. Es war ein in besonderes Gesicht. Gezeichnet von Erfahrungen und Niederschlägen und den zahlreichen Narben auf der Seele. Ein Gesicht, das dennoch nichts von seiner ursprünglichen Elastizität und Jugendlichkeit eingebüßt hatte, trotz der fünfundvierzig Jahre, die Lisa mittlerweile zählte. Er liebte jedes einzelne dieser zierlichen und kaum sichtbaren Fältchen, die sich rechts und links um ihre graublauen Augen gruppierten. Und er war sich sicher, das nur wenige dieser Fältchen ein Zeichen des voranschreitenden Alters waren. Die anderen schienen ihm von dieser Sorte zu sein, die nur ganz wenige Menschen erlangten. Menschen, die häufig und gern lachten, so wie es seine Frau unablässig tat. Er liebte jeden Quadratzentimeter ihres braungebrannten und immer noch straffen Körpers. Ein Körper, der ihn immer wieder aufs neue faszinierte und magisch anzog, obgleich er ihn schon viele Male besehen und berührt hatte. Und jedesmal, wenn er ihn betrachtete, fielen ihm neue, bis dahin verborgen gebliebene kleine Besonderheiten auf, die seine Blicke fortan fesselten. Lisas Figur war trotz ihres Alters und der Geburt der gemeinsamen Tochter Claudia immer noch tadellos. Seine Frau war schlank und sie arbeitete hart dafür. Sie schwamm regelmäßig und joggte mindesterns zweimal in der Woche. Auf ihren Wunsch hin hatten sie vor ein paar Jahren angebaut und einen Fitnessraum mit allerlei Gerätschaften eingerichtet. Dazu spielten sie fast jedes Wochenende gemeinsam Tennis, sofern es seine Zeit und sein enger Terminkalender erlaubten. Es wurde ihm einfach nie langweilig, Lisa heimlich zu betrachten. Insbesondere wenn sie schlief. Und wieder einmal wurde ihm bewußt, daß er süchtig nach dieser Frau war. Er würde es ihr niemals sagen können, wie tief seine Liebe wirklich war. Aus seinem Munde würde sie es niemals erfahren. Es war einfach nicht in ihm, nicht seine Art, solche Sachen einzugestehen. Er hatte eine andere Erziehung genossen. Kälter und nicht so gefühlsbetont, einfacher und durchstrukturierter. Gefühle waren da eher zweitrangig. Aber es reichte, daß er sich selbst eingestehen mußte, daß er hier sehr verletzlich war. Und es verursachte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Er wußte nicht, was er anstellen würde, wenn sie ihn eines Tages vielleicht verließe. Klaus-Dieter Warbs wandte den Kopf zur Seite und blickte nachdenklich an die weißgetünchte Zimmerdecke. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Frau mit einem dieser jungen Dinger aus dem Büro zu hintergehen, so wie es seine Geschäftsfreunde regelmäßig taten. Ganz offensichtlich vor dem alleinigen Hintergrund, sich mit einem solchen Abenteuer über eine beginnende Midlife Crisis hinwegzutrösten. Das hatte er einfach nicht nötig. Gelegenheiten gab es es genug für ihn. Konkrete Angebote auch. Es war zwar nicht so, daß ihm die Frauen geradezu hinterherliefen, aber eine ganz bestimmte Dame hatte ihm speziell in den letzten Wochen wieder heftige Avancen gemacht. Dieses ganz spezielle Angebot, das nur eines zum Ziel hatte. Aber er hatte ihr nur die kalte Schulter gezeigt. Denn was hatte man denn schon davon? Die Aussicht auf eine vielleicht aufregende Nacht mit viel Champagner in einen kleinen anonymen Motel am Rande der Standt? War es das? Das Prickeln in der Magengegend und das hochtrabende Gefühl, noch begehrenswert zu sein und die damit verbundene tiefsitzende Angst, es könnte vielleicht doch nur das Geld und die Position sein, was einen in den Augen des anderen attraktiv machte? War es das? Dann dieser schale Nachgeschmack am nächsten morgen. Vorbei, erledigt. Man könnte sich ja mal auf einen Kaffee treffen! Und für diesen kurzen Moment des Abenteuers eine intakte und funktionierende sturmerprobte Beziehung auf ´s Spiel setzen? Das war es doch nicht wert! Dieser Preis war eindeutig zu hoch. Kein Scherbenhaufen für die Aussicht auf ein vermeintliches bißchen Spaß. Das war einfach nicht sein Stil. Klaus-Dieter Warbs überlegte angespannt und sein Blick verfinsterte sich zusehends. Ein Gefühl aus Ohnmacht und abgrundtiefer Wut machte sich in seinem Inneren breit und überschattete seine Laune. Er legte die Stirn in Falten und rollte kurzerhand auf die Seite. Lisa hatte ihn einmal betrogen. Ein einziges Mal nur in der ganzen gemeinsamen Zeit. Eine kurze Affäre, mehr nicht. Ganz am Anfang ihrer Beziehung. Er hatte es herausbekommen, denn Lisa war unachtsam gewesen. Er hatte sie dann eine zeitlang überwachen lassen, durch einen Privatdetektiv. Vorsorglich. Da die Affäre zu diesem Zeitpunkt allerdings schon wieder beendet war, hatte er leider nicht in Erfahrung bringen können, wer der andere war. Hätte er es herausbekommen, dann hätte er den Nebenbuhler zur Strecke gebracht. Vernichtet. So etwas macht man nicht mit ihm. Nicht mit ihm! Er hatte Lisa nichts davon gesagt, daß er von ihrem Seitensprung wußte. Und er hatte es ihr auch nicht verziehen. Bis heute nicht. Er hatte es ernsthaft versucht, aber es hatte nicht geklappt. Dann hatte er es verdrängt, einfach beiseite geschoben. Aber seit damals hatte sie ihn nicht mehr betrogen, da war er sich sicher. Es war nur dieses eine Mal. Klaus-Dieter Warbs drehte sich auf die andere Seite und zog die Beine dicht unter den Bauch. Lisa schlief noch immer tief und fest. Er mußte an die vergangenen Jahre mit ihr denken. Bis auf diese kleine Geschichte hatten bis eine wunderbare Zeit miteinander verlebt.Natürlich es hatte es zwischen ihnen auch Differenzen gegeben, denn das gehörte doch einfach zu einer guten Beziehung dazu. Aber sie hatten immer Lösungen gefunden, für ihre Probleme. Zumindest aber Kompromisse. In den meisten Fällen hatte sich Lisa irgendwann seinem Willen gebeugt und er hatte es belohnt. Er hatte ihr dann etwas Schönes gekauft. Ein Schmuckstück, ein Sportwagen oder etwas Hübsches zum Anziehen. Als Ausgleich, sozusagen. Und sie hatten sich den notwendigen Freiraum gelassen und waren sich -wenn nötig- auch mal für eine Zeit aus dem Weg gegangen. Bereits damals, beim Einstellungstermin hatte es zwischen ihnen beiden heftig gefunkt. Es war da, dieses ganz bestimmte Prickeln. Er hatte es sofort gespürt. Lisa hatte es erst am Verlobungstag eingestanden, daß sie sich auch schon damals in ihn verliebt hatte. Bis zu diesem Tag war es jedoch ein weiter Weg gewesen. Er konnte sich noch gut an ihr erstes Zusammentreffen erinnern. Er hatte kurz zuvor seinen gutbezahlten Job beim hiesigen Boulevardblatt aufgegeben und einen eigenen Verlag gegründet. In der Anfangszeit hatte er alle anfallenden Arbeiten selbst erledigt. Er war zum Telefon gerannt, hatte Briefe getippt und Termine vereinbart, hatte zahllose Gespräche geführt und sich seinen Kaffee selbst gekocht. Dann hatte er eine Assistentin gesucht. Jemand, der ihm einen Teil dieser Arbeiten abnehmen konnte. Auf das Zeitungsinserat hin hatten sich ein Menge junger Dinger gemeldet. Und Lisa. Sie hatte zunächst den Eindruck einer schüchternen grauen Maus auf ihn gemacht. Eine graue Maus ohne Selbsbewußtsein und in einem hellblauen Sommerkleid. Aber ihre Referenzen waren exzellent gewesen und er hatte dieses Prickeln gespürt. Dieses eine bestimmte Prickeln. Die Entscheidung sie einzustellen, war ihm schließlich leicht gefallen. Zu zweit hatten sie seinen Verlag an die Spitze geführt. Es hatte ein paar Jahre gedauert, aber er hatte es geschafft. Dabei hatte er Lisa nie als bloße Assistentin oder Sekretärin angesehen oder behandelt, sondern als Partnerin. Zwar nicht gleichberechtigt, aber doch schon nahe dran. Er war der Chef, das hatte er gleich klargestellt. Einer mußte schließlich das Sagen haben und die Last der Verantwortung tragen, wenn es funktionieren sollte. Waren sie über eine Angelegenheit einmal nicht einer Meinung, so lag es in seiner Kompetenz, eine abschließende Entscheidung zu fällen. Dieses Recht hatte er sich nicht nehmen lassen. Nicht einmal von ihr! Lisa hatte sich dann im Lauf der Jahre sehr positiv verändert und war zu einer selbstbewußten Persönlichkeit herangereift. Bescheiden, bodenständig und herzensgut. Zuweilen aber auch ein wenig aufsässig. Manchmal hatte er Schwierigkeiten gehabt, mit ihrer Entwicklung Schritt halten zu können, denn Lisa hatte sehr schnell gelernt. Schneller, als es ihm eigentlich lieb war. Denn eine Treppe nahm man auch Stufe für Stufe, wenn man nicht stolpern wollte. Das was sie war, hatte sie letztlich ihm zu verdanken. Er hatte sie geformt. Von der kleinen grauen Maus zur selbsbewußten Frau. Er hatte sie in die feine Gesellschaft eingeführt und er hatte ihr auch die nötigen Umgangsformen beigebracht. Er selbst hatte sich seinen Platz in der Gesellschaft hart erkämpfen müssen. Mit Fleiß, Ehrgeiz und Arbeit. Keiner hatte ihm etwas geschenkt. Dann war er aufgestiegen. Von einem kleinen Zeitungsmitarbeiter bis zum einem Machtfaktor in der Stadt. Und niemand hatte ihm dabei geholfen. Darauf war er stolz. Eines Tages hatte er sich auf einer gemeinsamen Geschäftsreise nach Italien dann ein Herz gefaßt und sie gebeten, seine Frau zu werden. Eine Ehefrau war doch etwas anderes, als eine Lebensgefährtin. Und es klang auch einfach besser, wenn er Lisa seinen Geschäfspartnern als seine Ehegattin vorstellen konnte. Sie hatte ihm nur lapidar und mit gespielter Langeweile geantwortet, daß sie ihre Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, diese Frage jemals aus seinem Munde zu hören. Dann hatten sie geheiratet und die anschließenden Flitterwochen in Venedig verbracht. Zwei Wochen, mehr Zeit hatte ihnen der enge Terminkalender nicht gelassen. Kurz darauf hatte Lisa ihn mit der Nachricht überrascht, daß sie ein Kind erwarteten. Zunächst hatte er sich an den Gedanken gewöhnen müssen, war dann jedoch glücklich gewesen. Er hatte einfach ein wenig Zeit gebraucht, sich mit dieser Sache zu beschäftigen. Außerdem war sein Kopf voll mit geschäftlichen Dingen. Danach hatten sie beschlossen, daß Lisa ihre Mitarbeit in der Leitung des Verlages zunächst für ein paar Jahre unterbrechen und sich ausschließlich um die Erziehung ihrer Tochter kümmern sollte. Eine Kinderfrau war für sie beide damals nicht in Frage gekommen, denn sie hatten Claudias Erziehung nicht einfach in die Hände einer wildfremden Person legen wollen. Heute dachte er ein wenig anders darüber. Jetzt, wo Claudia ihr eigenes Leben lebte und kläglich gescheitert war. Vielleicht wäre einiges in ihrer persönlichen Entwicklung besser verlaufen, hätten sie damals eine professionelle Kraft mit der Erziehung betraut. Möglicherweise hätte sie die Entführung dann besser verkraftet. Klaus-Dieter Warbs drehte sich wieder auf den Rücken und öffnete langsam die Augen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen! Und da Lisa nach Claudias Geburt ausfiel, hatte er kurzerhand Frau Busch als seine neue Assistentin eingestellt. Eine kurzhaarige Mittdreißigerin, die sich im Laufe der Zeit als vollwertiger Ersatz herausgestellt hatte. Lisa sollte ihre Tätigkeit im Verlag zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen. Sobald Claudia aus dem gröbsten heraus wäre und eine Kindertagesstätte besuchen könnte. Dazu war es dann jedoch nicht mehr gekommen, denn seine Frau hatte neben Claudias Erziehung angefangen zu schreiben und sich als Kinderbuchautorin mittlerweile einen Namen gemacht. So hatte er Frau Busch behalten. Auch wenn Lisa nicht mehr aktiv in der geschäftlichen Leitung seiner Firma tätig war, so hieß das jedoch nicht, daß sie sich überhaupt nicht mehr um die Belange des Verlages kümmerte. Sie hatte ihr Betätigungsfeld einfach verlagert und sah ihre Aufgabe jetzt eher darin, ihm in allen erdenklichen Situationen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und ihm den erforderlichen Rückhalt zu geben. Hinter jedem erfolgreichen Mann steckte eine starke Frau, hatte er im Managermagazin gelesen. Und es stimmte. Lisa war seine Kraft und Energie. Sie war sein Motor. Hatte er geschäftliche Probleme, so konnte er mit ihr reden. Sie hatte die Lösungen. Sie hörte aufmerksam zu, hinterfragte oder gab ihm einen Rat, der die bis dahin unerreichbar erscheinende Lösung zumindest ein Stück näherbrachte. Zudem war Lisa dank seiner Schule eine charmante und brilliante Gastgeberin bei den unzähligen Cocktailparties und Arbeitsessen in ihrem Haus. Stockte eine geschäftliche Unterredung, so war oftmals sie es, die neue, einfallsreiche Aspekte aufzeigte, das fehlende Puzzleteil lieferte oder eine Alternativlösung aufzeigen konnte. Nichts desto trotz konnte Lisa auch hart sein, wenn es sein mußte. Er hatte diese Härte schon ein paarmal deutlich zu Spüren bekommen. In den meisten Fällen war es um Claudias Erziehung gegangen. Manchmal hatten sie einfach zu unterschiedliche Ansichten gehabt. Aber er hatte im Laufe der Zeit gelernt, daß es besser war, Lisa in solchen Situationen einfach aus dem Weg zu gehen. Er war nicht sonderlich versessen darauf, ewig mit ihr zu streiten. Denn bei dieser Thematik zog er regelmäßig den Kürzeren! Klaus-Dieter Warbs setzte sich langsam in seinem Bett auf, verharrte noch einen Moment wie regungslos und wandte sich schließlich wieder nach links zu Lisa. Das Gewicht seines Oberkörpers ruhte auf seinem linken Ellenbogen, den Kopf hatte er in die linke Handfläche gelegt. Behutsam strich er mit seiner Rechten über das kastanienbraune Haar, das ihre eine Gesichtshälfte wie ein schützender Vorhang fast völlig verbarg. Er nahm es vorsichtig zur Seite, beugte sich ganz zu ihr herunter und berührte mit seinen Lippen sanft und liebevoll ihre rechte Wange. Er liebte diese Frau und er war süchtig nach ihr. Und hoffentlich würden sie noch viele Jahre miteinander verbringen dürfen. Klaus-Dieter Warbs warf sich schwungvoll auf die andere Seite des Bettes und schlug mit einem gezielten Ruck die blaugeblümte Decke zur Seite. Es wurde Zeit für ihn. Und wenn er heute schon aufstehen mußte, so konnte er es auch gleich tun, ging es ihm durch den Kopf, als er mit langsamen Schritten in das gegenüberliegende Bad schlurfte. Auf dem Weg dorthin fuhr er sich noch kurz mit allen zehn Fingern durch die Haare, um diesen wenigstens für einen Moment den Anschein einer vorläufigen Ordnung zu geben. Mit einem knarrenden Geräusch gab die gläserne Tur der Duschabtrennung seinem festen Griff nach und glitt ächzend zur Seite. Er drehte die Heißwasserarmatur auf, fingerte dann ein weißes Badetuch aus dem offenen Schrank hinter seinem Rücken und legte es über den oberen Rand der Duschkabine. Klaus-Dieter Warbs machte zwei lange Schritte hinüber zum Waschtisch, nahm Zahnbürste und Zahnpasta von der gefliesten Ablage und blickte kurz in den Spiegel vor ihm. Kleine Wassertropfen hatten sich mittlerweile auf dem kühlen Glas des Spiegels niedergeschlagen, so daß er im unteren Teil nur noch die verschwommenen Umrisse seines Gesichts ausmachen konnte. Das Badezimmer glich mittlerweile einem türkischen Dampfbad.Nachdem er sich sorgfältig die Zähne geputzt hatte, ging er wieder hinüber zur Dusche. Langsam drehte er mit der Rechten an der Kaltwasserarmatur, während er die linke Hand kurzerhand in den Wasserstrahl tauchte. Als die aus der Wand kommende Fontäne die richtige Temperatur erreicht hatte, zog er seinen Pyjama aus und stieg schließlich unter die Dusche.Wohlig empfing ihn das herabprasselnde Wasser wie ein warmer Sommerregen. Es umschloß seinen müden und ausgelaugten Körper wie eine beschützende Hülle. Kleine Rinnsale liefen seinen Rücken hinab und durchfluteten ihn mit Energie. Er schloß für einen Moment die Augen und er sog diese Kraft förmlich in sich auf. Alles, was er bekommen konnte. Nachdem sich sein Körper an die wohltuende Wärme gewöhnt hatte, legte er den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen. Er ließ seinen Mund röchelnd mit Wasser vollaufen, um es dann mit einem kurzen und gezielten Strahl gegen das Glas der Duschabtrennug zu schießen. Sein Ziel war ein unnützes Gelage von Wassertropfen, das sich an einer der Duschkabinenwände versammelt hatte und dem scheinbar nur mit seiner Hilfe der Weg nach unten zu seinen Füßen geebnet werden konnte. Dort verlor es seine Individualität, seine scheinbare Persönlichkeit. Es verschwand ganz einfach gurgelnd im Ausguß, um wieder ein Teil des Universums zu werden, oder um in irgendeiner anderen Dusche irgendwo auf der Welt ein neues Gelage zu bilden. Er genoß es, morgens lange und ausgiebig zu duschen und er nahm sich die Zeit dafür. Es war die richtige Moment des Tages, um sich mit vergangenen Begeben- heiten zu befassen oder über Probleme nachzudenken. Auch wenn die Lösung dieser Probleme eigentlich noch nicht so ganz dringend war. Hier unter der Dusche fand er Wege, ja ganze Verkaufsstrategien für bis dahin nicht verkaufbare Kriminalromane irgendwelcher namenloser Jungautoren. Meist Schreiberlinge im Nebenberuf, die von dem Gedanken beseelt waren, sich selbst und der Welt etwas beweisen zu müssen. Eigentlich konnte er sich nicht beklagen, ging es ihm durch den Kopf, während er sich vorbeugte und die Flasche mit dem Shampoo vom Wannenrand fingerte.Er sah für seine fünfundfünfzig Jahre immer noch phantastisch aus, war gesund und erfolgreich und hatte eigentlich alles erreicht, was es zu Erreichen gab. Er hatte weder Probleme mit dem Gewicht, noch mit seinem Haar. Zwar war er mittlerweile stark ergraut, doch störte ihn das wenig, solange es Lisa nichts ausmachte. Er konnte mit sich zufrieden sein. Claudia würde ihren Weg als Chemikerin vielleicht doch noch machen und eines Tages möglicherweise sogar noch die Doktorwürde erlangen. Eigentlich hätte er lieber einen Sohn gehabt. Ein Sohn, der auch in Zukunft den Namen Warbs tragen würde und der sein Unternehmen eines Tages weiterführen konnte. Ein Sohn, dem er zum richtigen Zeitpunkt die Zügel in die Hand geben konnte und der sein Lebenswerk vollenden würde. Er hatte es Lisa zwar nie ausdrücklich gesagt, doch hatte er aus seinem Wunsch auch nie einen Hehl gemacht. Er war sich somit sicher, daß sie seine Gefühle und Wünsche in dieser Hinsicht kannte. Ein zweites Kind war ihnen ja leider versagt geblieben. An ihm hatte es nicht gelegen, da war er sich sicher. Er hätte es gern gesehen, wenn Claudia damals nach dem Abitur eine Lehre in seinem Unternehmen begonnen hätte. So hätte sie das Verlagsgeschäft von der Pike auf kennenlernen können mit dem Ziel, die Geschäfte eines Tages selbst zu führen oder zumindest eine leitende Position einzunehmen. Er hatte es ihr wieder und wieder angeboten, aber sie hatte es immer wieder abgelehnt. Lisa hatte ihn leider nicht dabei unterstüzt. „Laß`sie doch das tun, was sie möchte:“ hatte sie ihn gebeten. Er konnte Lisas Einstellung nicht verstehen und manchmal hatten sie sich deswegen gestritten. Claudia hatte stattdessen den Plan geschmiedet, mit ein paar engen Freundinnen einen Frauenladen zu eröffnen. Kleidung, Bücher, Accesoires, Kosmetika und Versicherungen. Alles für die Frau und nur für die Frau.Die Idee hatte etwas, das hatte er schon damals zugeben müssen. Da aber weder seine Tochter noch die anderen Damen zumindest über Grundkenntnisse im kaufmännischen oder betriebswirtschaftlichen Bereich verfügten, hatte er diesen Plan nicht unterstützt. Sie wären schnell gescheitert, da war er sich sicher. Und er wäre der Leidtragende gewesen, denn dieser Fehlschlag wäre immer mit ihm und seinem guten Namen in Verbindung gebracht worden. Er hätte die Scherben zusammenkehren dürfen. Wiedereinmal! Nein. Er hatte vielmehr alles daran gesetzt, Claudia diese Flausen aus dem Kopf zu treiben und sie zu einem ordentlichen Studium zu bewegen. Mit sehr viel Überredungskunst, ein wenig Druck, einem eigenen Cabriolet und einem kleinen Appartment in der Stadt war es ihm schließlich gelungen. Ein Betriebswirt- schaftsstudium oder Jura waren doch noch immer der Garant für den Start in eine erfolgreiche berufliche Karriere. Er selbst hatte leider nicht studieren können. Die Zeiten waren anders, damals. Irgendwie härter. Er hatte schon sehr früh sein eigenes Geld verdienen müssen. Und später hatte er einfach keine Zeit mehr gehabt, für ein Studium. Arbeit, Karriere und Familie hatten ihn voll in Anspruch genommen. Es war ohnehin schwer genug gewesen, daß alles unter einen Hut zu bringen. Jetzt war er zu alt, die Schulbank noch einmal zu drücken. Und irgendwann würde er sich seinen Doktortitel einfach kaufen, ging es ihm durch den Kopf. Eine mittelgroße Spende an eine namenlose Universität in Südamerika war ausreichend, hatte er vor kurzem irgendwo gehört. Und einige seiner Geschäftspartner hatten es getan und ihren h.c. bereits verliehen bekommen. Eine Urkunde mehr an der Bürowand. Bei seiner Tochter hatte alles zunächst recht erfolgversprechend ausgesehen. Claudia hatte Spaß an ihrem Studium gehabt, war erfolgreich und hatte auch schon ein paar beachtenswerte Erfolge verbuchen können.. Und insgeheim hatte er noch immer die Hoffnung gehegt, daß sie ihre Meinung vielleicht ändern und eines Tages doch in seinen Verlag einsteigen würde. Dann der Bruch. Die Entführung. Schluß, Aus, Ende. Von einem auf den anderen Tag. Fast sieben Jahre war es jetzt her. Klaus-Dieter Warbs registrierte, wie sich seine Laune wieder zusehends verfinsterte. Langsam senkte er den Kopf, ließ die Schultern hängen und blickte betreten zu Boden. Der harte Strahl des Wassers traf jetzt auf seinen Hinterkopf und es kam ihm so vor, als würde sein Nacken von tausenden kleiner Nadeln durchbohrt. Ein kalter Schauer durchzuckte ihn und lief dann mit langsamer Geschwindigkeit seinen Rücken hinab. Er war eine schlimme Zeit, damals. Die Erinnerung war schmerzlich und verursachte noch immer dieses dumpfe Gefühl des Gelähmtseins und der unsagbaren Wut in ihm. Ab und an durchlebte er diese Zeit wieder, fühlte er sich plötzlich um sieben Jahre zurückversetzt. Nicht nur in vereinzelnd auftretenden Gedanken, sondern auch in regelmäßig wiederkehrenden Alpträumen. Die Träume waren weniger geworden, im Lauf der Zeit. Aber sie kamen. Ohne Vorankündigung und zermürbten ihn, machten ihn fertig. So mächtig er auch war, auf diese Alpträume hatte er nicht den geringsten Einfluß. Sie waren immer da und es waren immer dieselben Bilder, die sich vor seinem geistigen Auge abspielten. Er konnte Claudia sehen, angekettet an ein verrostetes Heizungsrohr. Frierend mit dreckverschmiertem Gesicht und zerrissener Kleidung. Wimmernd und um ihr Leben bettelnd. Daneben ein fies grinsender Fettwanst mit verschwitztem Gesicht, eine riesige mattglänzende Waffe an die Schlafe seiner Tochter haltend. Davor eine zweite Person. Ein kleiner Gnom. Einäugig, laut und hämisch lachend und mit einem gefalteten Stadtplan in der Hand. Der Zwerg zwang Claudia, nach einem überdimensionalen Telefonhörer zu greifen. Dann konnte er ihre Stimme hören, ängstlich flehend, tränenerstickt. Was sie sagte, konnte er nicht verstehen. Aber ihre Stimme klang wie durch einen dicken Wattebausch hindurch. Weit weg. An dieser Stelle des Traumes sah er immer seine Assistentin Frau Busch auf einem Motorrad heranfahren. In dunkler Lederbekleidung, aber ohne Helm. Sie drückte dem Gnom ein Paket aus Zeitungspapier in die Hand, woraufhin dieser Claudia auf die Wange küßte, sich plötzlich umdrehte und verschwand. Dann tauchte sein Vater in diesem Traum auf, mit einem Revolver in der Hand. Schüsse fielen. Blut spritzte und das Bild verfärbte sich dunkelrot. Und der Traum endete immer mit der gleichen Sequenz. Lisa stand vor dem geöffneten Sarg des Fettwanstes und weinte. Eine unsagbare Wut stieg langsam in ihm hoch. Eine Wut, die er nicht kontrollieren konnte. Es war plötzlich alles wieder da: dieses übermächtige und lähmende Gefühl, nicht das Geringste tun zu können und der daraus resultierende Haß. Haß gegen die Entführer und auch Haß gegen sich selbst. Haß, dies alles wie in einer Ohnmacht über sich ergehen lassen zu müssen! Klaus-Dieter Warbs ballte die rechte Hand zur Faust und schlug diese laut krachend gegen das Glas der Duschkabine. „Nein!“ entfuhr es ihm mit einem trotzigen Unterton in der Stimme. Er hatte richtig gehandelt, damals. Und er würde wieder so reagieren, sollte er noch einmal in diese Situation kommen. Warum konnten ihn die Bilder also nicht einfach in Frieden lassen? Warum konnte er das alles nicht einfach vergessen? Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte gar nicht anders handeln können. Es war der Preis, den er zu zahlen hatte. Vorsichtig drückte Klaus-Dieter Warbs die Stirn gegen das kühle Glas der Duschabtrennung. Er schloß die Augen. Die Entführer hatten bekommen, was sie verdienten und es war gerecht! Sie hatten ein Leben zerstört. Ein junges Leben, voller Träume und Pläne. Die Entführer mußten büßen. Büßen für das, was sie ihm und seiner Tochter angetan hatten. Sie waren es nicht mehr wert, ein eigenes Leben zu leben. Dieses Recht hatten sie verloren, verwirkt.Den einen der beiden Entführer hatten die Justizbehörden schon kurz nach der Freilassung seiner Tochter geschnappt und abgeurteilt. Zweieinhalb Jahre Gefängnis. Es war ihm eine Genugtuung gewesen, diesem verschlagenen Kerl im Gerichtssaal gegenüber zu sitzen. Obwohl eine Gefängnisstrafe für das, was man ihnen angetan hatte, wirklich nicht ausreichend war. Zweieinhalb Jahre, soviel war den Richtern das Leben seiner Tochter wert gewesen. Ganze neunhundert- zwölf Tage. Der andere Entführer, der Kopf der Bande, hatte sich rechtzeitig nach Canada abgesetzt, hatte versucht, sich seiner gerechten Strafe zu entziehen. Aber schließlich hatte es auch ihn erwischt. Zwei kurze Telefonate, mehr war nicht nötig gewesen. Er hatte die entsprechenden Verbindungen. Wenn er ehrlich war, traute er dem deutschen Rechtssystem nicht sonderlich über den Weg. Es gab zu viele Schlupflöcher. Ein zu großes Betätigungsfeld für karrieresüchtige Strafverteidiger, die immer auf der Lauer lagen, dem Gericht auch den noch so kleinsten Formfehler nachweisen zu können! Manchmal mußte man dem Recht daher ein wenig auf die Sprunge verhelfen, denn Justitia trug eine Augenbinde und war somit blind. Nein, er hatte richtig gehandelt, damals, ging es ihm durch den Kopf, als er die Augen wieder öffnete. Er war es schließlich gewohnt, weitreichende und schmerzliche Entscheidungen zu treffen. Die Entführer hatten bekommen, was sie verdienten! Und das war doch das Einzige, was wirklich zählte. Klaus-Dieter Warbs legte den Kopf wieder in den Nacken und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit der Polizei war nicht ernstlich zu rechnen gewesen, damals. Eine Meute satter und überbezahlter Staatsdiener, mehr nicht. Er hatte sich daher auch nicht einfach in etwas eingemischt. Etwas, was ihn eigentlich nichts anging. Die eingesetzten Polizisten hatten schon bei der Geldübergabe kläglich versagt und leichtfertig das Leben seiner Tochter aufs Spiel gesetzt. Sie waren ihm zur Geldübergabe gefolgt. Einfach so. Ohne Absprache, ohne ihn zu informieren. Die Entführer hatten ihn ganz offensichtlich beobachtet und seine Verfolger bemerkt, denn sie waren nicht erschienen. Erst Tage später hatten sie ihm telefonisch einen neuen Übergabeort mitgeteilt. Die Stunden bis zu diesem Telefonat waren eine Qual für Lisa und ihn gewesen. Diese Ungewißheit. Er hatte insgeheim schon das Schlimmste befürchtet. Von den neuen Übergabemodalitäten hatte er der Polizei vorsichtshalber nichts gesagt. Er hatte nicht mehr auch nur das kleinste Risiko eingehen wollen, das Geld wie gefordert in den Abfalleimer geworfen worauf sie Claudia noch am selben Tag freiließen. Wenn die Polizei schon nicht in der Lage war, einem Fahrzeug unauffällig zu folgen, wie sollte sie dann erst einen flüchtigen Entführer fassen. Ein Entführer der sich nach Canada abgesetzt hatte und dessen Spur sich auf dem Hamburger Flughafen verloren hatte. Wie hätte er solchen Leuten trauen können? Nein, er hatte eine Entscheidung gefällt und es war die richtige. Er hatte es selbst in die Hand nehmen müssen. Mit einer schnellen Handbewegung drehte Klaus-Dieter Warbs das Wasser der Dusche ab und langte mit einem gezielten Griff nach seinem Handtuch. Nie wieder würde er über diese ganze Entführungsgeschichte nachdenken, ging es ihm durch den Kopf, während er sein Gesicht trocknete. Er würde es schon noch in den Griff bekommen! Ein wenig benommen öffnete er die Tur der Duschkabine und trat vorsichtig auf die weiße Badematte. Nachdem er auch noch den Rest seines Körpers frottiert hatte, machte er zwei Schritte hinüber zum Waschbecken, um sich zu rasieren. Mit einer langsamen Bewegung wischte Klaus-Dieter Warbs mit dem Handrücken über den noch beschlagenen Spiegel, griff dann nach seinem elektrischen Rasierapparat und versenkte den flachen Stecker in der Steckdose neben der Ablage. Normalerweise bevorzugte er eine Naßrasur, jedoch war ihn heute morgen nicht danach. Fur eine Naßrasur brauchte er Ruhe. Ruhe und Ausgeglichenheit. Beides hatte er heute nicht.Er nahm die dunkelblaue Flasche After Shave aus der Ablage, schüttelte ein paar Tropfen in seine linke Handfläche und klatschte diese mit einem gezielten Schwung auf seine Wangen. Ein leichtes Brennen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er den goldenen Verschluß wieder auf die Flasche schraubte. Nachdem er das kurze Haar mit wenigen gezielten Strichen einer Bürste in eine abschließende Ordnung gebracht hatte, ging er wieder hinüber ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Lisa schlief noch immer tief und fest. Sie lag jetzt auf der linken Seite, die Bettdecke bis fast zu den Ohren hochgezogen. Lautlos huschte er an ihr vorüber und öffnete vorsichtig die Türen des begehbaren Kleiderschrankes. Er wählte einen dunkelgrauen, weitgeschnittenen Flanellanzug mit Weste. Ein Zweireiher, der ihm eine gewisse seriöse Note verlieh, ohne jedoch seiner Sportlichkeit und Lässigkeit -auf die er soviel Wert legte- Abbruch zu tun. Klaus-Dieter Warbs nahm ein schlichtweißes Button-down Hemd vom Bügel, zog ein frisches Taschentuch vom Stapel im Fach direkt vor ihm und kramte dann eine mintfarbene Seidenkrawatte aus dem Regal darüber. Zwar besaß er auch eine Menge gemusterter Binder -meist Verlegenheitsgeschenke seiner Schwiegermutter- jedoch konnte er diese gestreiften „Allerweltsdinger“ nicht sonderlich leiden und vermied es sie zu tragen, so oft es eben ging. Es war völlig legitim und ausreichend, solche Krawatten nur zu Weihnachten oder an Schwiegermutters Geburtstag zu tragen, ging es ihm durch den Kopf, während er angestrengt nach einem Paar passender Socken suchte. Lisa hatte offensichtlich wieder einmal in seinen Schrank herumgeräumt. Es war kurz vor sieben, als Klaus-Dieter Warbs sich angekleidet hatte und die geschwungene Holztreppe hinunterstieg, um ein wenig zu frühstücken. Sie bereiteten sich das Frühstück und auch die anderen Mahlzeiten jeden Tag selbst zu, denn Lisa und er hatten bewußt auf Personal verzichtet. Es war ihnen lieber, so zurückgezogen und unauffällig zu leben wie nur irgend möglich. Ein Leben in Ruhe und Abgeschiedenheit, fast einsam. Seine Position hatte ihn angreifbar und verletzlich gemacht, da mußte man schon darauf achten, mit wem man sich umgab. Und sie hatten sich auch nicht unnötig der Gefahr von gezielten Indiskretionen geschwätzigen Personals aussetzen wollen. Diese Geschichten, die man üblicherweise schon am nächsten Morgen im hiesigen Boulevardblatt lesen konnte. Reißerisch aufgemacht, aber ansonsten inhaltsleer! Das Einzige, was sie sich an Personal leisteten war Herr Petersen. Der Gärtner, der sich in regelmäßigen Abstanden um die Anlagen kümmerte. Mehr Personal brauchten sie nicht. Klaus-Dieter Warbs ging hinüber in die Küche, zog einen mittleren Frühstücksteller aus dem Schrank, nahm einen Kaffeebecher vom Haken unterhalb des Hochschrankes und stellte beides auf den kleinen Holztisch vor dem Fenster. Auf dem Rückweg drückte er auf den roten Schalter der Kaffeemaschine, nachdem er zuvor ein wenig Wasser und Kaffeepulver hineingefüllt hatte. Normalerweise bevorzugte er Tee, doch hatte er es sich in den letzten Monaten zur Gewohnheit gemacht, morgens Kaffee zu nehmen. Nur so konnte er sicher sein, auch wirklich den allerletzten Rest Müdigkeit für immer und ewig aus seinem Körper vertrieben zu haben.Als das periodische Gurgeln und Röcheln der Kaffeemaschine begann, lud er eine Scheibe Weißbrot in den Toaster, nahm Honig und Butter aus dem Kühlschrank und stellte beides neben dem Frühstücksteller ab. Mit einer fließenden Handbewegung schob er die Gardine des Küchenfensters ein Stück zur Seite, verschränkte dann die Arme vor der Brust und blickte flüchtig nach draußen. Es dauerte nur einen kleinen Moment, bis das Brot mit einem harten und sprungfederartigen Geräusch goldbraun aus dem Toaster sprang. Er schnappte es es sich kurzerhand mit zwei Fingern und setzte sich an den Tisch. Klaus-Dieter Warbs blickte gedankenverloren durch das Fenster in den Vorgarten hinaus und er ertappte sich dabei, wie er das beschlagene Honigglas fortwährend auf dem Rand hin und her kippte. Er hatte seine Tochter eigentlich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, ging es ihm ein wenig wehmütig durch den Kopf. Es war bestimmt schon ein Jahr her, seit Claudia von Bayern zu ihnen heraufgekommen war. Zwar hatten sie seit der Entführung die Weihnachtsfeste und auch noch ein paar andere Feiertage zusammen verbracht, aber richtig miteinander reden können, hatten sie nicht. Er konnte sich jedenfalls nicht entsinnen. Entweder hatte er dringende geschäftliche Termine gehabt oder Claudia mußte zurück nach München. Es ergab sich einfach nicht. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte gelitten. Es war nicht mehr so, wie es vor der Entführung zwischen ihnen gewesen war. Und Claudia hatte sich verändert. Zu ihrem Nachteil. Sie war zwar auf der einen Seite selbstbewußter geworden, hatte auf der anderen Seite aber ihr Ziel aus den Augen verloren. Diese Entführung hatte sie aus der Bahn geworfen, einen anderen Menschen aus ihr gemacht. Und wenn er ehrlich war, so mußte er zugeben, daß sie sich auf eine bestimmte Art entfremdet hatten. Er war sich nicht sicher, was genau der Auslöser hierfür gewesen sein könnte. Er wußte nur, daß es einfach passiert war. Langsam, heimlich und ganz schleichend. Klaus-Dieter Warbs schüttelte ungläubig den Kopf und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Claudia hatte damals nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt ihre Zelte im Norden abgebrochen und war nach München gegangen. Um Chemie zu studieren, wie sie behauptet hatte. Er hatte sie gehen lassen, obgleich er ihr daß mit dem Studium keinen Moment abgekauft hatte. Eigentlich wußte er nicht genau, was sie dort eigentlich tat. Studieren jedenfalls nicht mehr, soviel hatte er mittlerweile in Erfahrung bringen können. Das Einzige, was er sicher wußte war, daß seine Tochter dort in einer Wohngemeinschaft lebte. Lisa besuchte sie dort regelmäßig. Er hatte bislang nicht die Zeit dazu gefunden. Seine Frau hatte zwar immer wieder versucht, ihn zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen, Claudia kriegt die Kurve wieder. Laß ihr einfach ein bißchen Zeit!“ hatte sie zu ihm gesagt. Aber er glaubte nicht mehr daran. Es war schon zu lange her, um noch Resultate zu erwarten. Und Resultate waren doch das Einzige, was im Leben wirklich zählte. Er würde sich mehr um seine Tochter kümmern, ging es ihm durch den Kopf, während er sich langsam erhob und mit dem Becher in der Rechten zur Kaffeemaschine hinüberging. Er würde sich die Zeit dafür nehmen! Klaus-Dieter Warbs zog die gläserne Kanne unter der Maschine hervor und füllte seinen Becher mit der braunen Flüssigkeit. Dann drehte er sich um, lehnte den Rücken gegen die Oberkante des Unterschrankes und nahm einen kräftigen Schluck des wohlduftenden Kaffees. Er würde wieder die Zügel in die Hand nehmen, denn Claudia durfte ihr kostbares Leben nicht so einfach vergeuden. Es war seine Aufgabe als Vater, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, wenn sie es aus eigener Kraft schon nicht schaffte. Mütter waren dazu da, ihren Kindern Liebe und Verständnis entgegenzubringen. Väter waren hingegen für Strenge, Disziplin und das Aufzeigen von Grenzen verantwortlich. Väter waren der Gegenpol und das war gut so. Er war auch mit Strenge und Härte erzogen worden und geschadet hatte es ihm nicht. Ab jetzt würde er sich wieder mehr um seine Tochter kümmern, nahm er sich fest vor, während er wieder zum Tisch hinüberging und nach draußen blickte. Vielleicht würden sie einen neuen Anfang machen können. Die Zeit einfach zurückdrehen. Dort anfangen, wo sie vor sieben Jahren aufgehört hatten. Es konnte doch noch nicht zu spät sein. Gleich eines der nächsten Wochenenden würde er zusammen mit Lisa nach München fliegen. Vielleicht könnte er sich auf die Schnelle ein paar Tage freimachen. Es mußte schließlich auch mal ohne ihn gehen, im Büro. Außerdem war da ja noch Frau Busch, die auch gut Bescheid wußte. Eine leichte Unruhe ergriff Besitz von seinem Körper, als Klaus-Dieter Warbs sich wieder an den Tisch setzte und den Blick durch das Küchenfenster nach draußen lenkte. Mit einen schnellen Bewegung seiner rechten schob er den Frühstücksteller mit dem erkalteten Toast an den Rand des Tisches. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Appetit. Es war ein ruhiger Morgen. Nichts Außergewöhnliches, keinerlei Bewegung. Da war nichts, was seine ungeteilte Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Dunkelheit war fast gewichen und das Grau des herannahenden Morgens breitete sich langsam in seinem Vorgarten aus. Und es kam ihm so vor, als konnte er förmlich sehen, wie die Helligkeit von Moment zu Moment zunahm. Fast so, als betrachtete man einen Filmschnipsel um dabei festzustellen, wie sich ein winziges Detail von Bild zu Bild veränderte. Sein Blick streifte die hell schimmernden Gehwegplatten, die zum Eingangs- bereich seines Anwesens führten. Dunkel und mächtig hob sich das tiefe Schwarz des Eingangstores von der übrigen Umgebung ab. Es war nur eine Nuance, um die sich das Dunkel des Tores von dem übrigen Grau abzeichnete. Durch die geschmiedeten Stäbe des linken Flügels hindurch konnte er den Schattenriß eines dunklen Wagens ausmachen, der auf dem Seitenstreifen der anderen Straßenseite parkte.Die noch nicht ganz gewichene Dunkelheit und der leichte Bodennebel tauchten die Szenerie in ein gespenstisch trübes Licht und verhießen den Beginn eines wundervoll sonnigen Tages. Der Himmel hatte im Osten eine glutrote Färbung angenommen und ließ die vereinzelt vorbeiziehenden Wolken vor dieser Kulisse noch dunkler und gefährlicher aussehen. Fast so, als ob ein Gewitter herannahte. Klaus-Dieter Warbs blickte auf seine Armbanduhr. Es wurde langsam Zeit für ihn. Gerade als er im Begriff war, sich von seinem Stuhl zu erheben, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Er schob den Oberkörper ein paar Zentimeter nach vorn und blickte angespannt in den Vorgarten. Es war ein kleiner Feuerschein, der plötzlich in dem abgestellten Wagen auf der anderen Straßenseite aufgeflammt war und der nun zu ihm herüberschien. Klaus-Dieter Warbs kniff die Augen zusammen und legte den Kopf leicht zur Seite. Das Leder des Küchenstuhles verursachte ein knarrendes Geräusch, als er sich auf seinem Sitz noch weiter nach vorn beugte. Im fahlen Licht des Feuerscheins erkannte er für einen kurzen Moment die Silhoutte eines Gesichts. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Danach erlosch der Feuerschein abrupt und hinterließ einen winzigen hellen Punkt auf dem Dunkel der Frontscheibe. Ganz offenbar saß dort jemand in dem abgestellten Wagen, ging es ihm durch den Kopf, während er sich wieder zurücklehnte. Jemand, der vielleicht auf etwas wartete und der sich nur gerade eine Zigarette angesteckt hatte. Also nichts Besonderes.Klaus-Dieter Warbs erhob sich schwungvoll von seinem Stuhl, schob diesen akkurat an den Tisch und stellte das Geschirr auf die Spüle. Er knipste die Kaffeemaschine aus und trat schließlich in den langen Flur hinaus, der sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Leise zog er die Küchentür mit der rechten ins Schloß, während er mit der anderen Hand den hellen Trenchcoat von der Garderobe angelte. Er ergriff den dunkelbraunen Aktenkoffer mit den silbernen Beschlägen, den er -wie jeden Abend- in der Nische zwischen Garderobe und Schirmständer bereit gestellt hatte und legte den Mantel halb über seinen Arm, halb über den Koffer. Er ging nach links zur Eingangstür und blieb dort auf dem Absatz stehen. Prüfend warf er einen kurzen Blick in den goldgefaßten Kristallspiegel, der sich zu seiner rechten befand. Nachdem er den Sitz seiner Krawatte ein wenig korrigiert hatte, ergriff er die schwere Klinke der Eingangstür und drückte sie kraftvoll hinunter. Gerade als er im Begriff war, das Haus endgültig zu verlassen, schoß es ihm siedendheiß durch den Kopf. Er hätte es beinahe vergessen! Klaus-Dieter Warbs drehte sich kurzentschlossen um, stellte den Aktenkoffer in die geöffnete Eingangstür und legte den Trenchcoat auf die antike Anrichte vor dem Spiegel. Mit schnellen Schritten rannte er in sein Arbeitszimmer hinauf. Er hätte es wirklich fast vergessen! Lisa hatte sich heute mit ein paar Freundinnen in der Stadt zum Frühstück verabredet. Das hatte sie ihm gestern Abend noch kurz erzählt. Zwischen Tür und Angel. Er würde sie telefonisch heute also nicht erreichen können, da die Damen im Anschluß üblicherweise noch einen Shopping-Bummel unternahmen. Hastig öffnete Klaus-Dieter Warbs die mittlere Schublade seines wuchtigen Schreibtisches und kramte einen Notizblock hervor. Und noch ein wenig außen Atem griff er mit seiner Rechten in die Innentasche des Sakkos und zog einen goldenen Füllfederhalter heraus. Ein Geschenk von Lisa. Zum ersten Hochzeitstag. Gerade als er damit begonnen hatte, die Kappe des Federhalters abzuschrauben, zerriß ein lautes und durchdringendes Quietschen die morgendliche Stille. Das sägende Geräusch drang durch die geöffnete Eingangstür zu ihm herauf. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse und schüttelte verständnislos den Kopf. Klaus-Dieter Warbs kniff die Augen zusammen, bis diese nur noch als schmale Streifen zu erkennen waren.Wann endlich würde sein Nachbar diese verdammte Gartenpforte ölen, ging es ihm durch den Kopf, während er die folgenden Zeilen niederschrieb:

Guten Morgen, meine Schöne!

Ich hoffe, Du hast gut geschlafen und etwas Nettes geträumt. Ich werde heute Mittag leider nicht nach Hause kommen können. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam in der Stadt zu Mittag essen könnten.

Ruf mich bitte im Büro an!

Klaus-Dieter

P.SWas hältst Du davon, wenn wir Claudia bald in München besuchen würden?

Zerrissen

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