Читать книгу Alexa und das Zauberbuch - Astrid Seehaus - Страница 14

Im Zauberland

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Alexa verbummelte den nächsten Tag in der Fußgängerzone. Die Zauberwagen, die ohne Pferde davonknatterten, faszinierten sie besonders. Sie versuchte herauszufinden, wie die Zauberei vor sich ging. Sie umschlich eines dieser verzauberten Exemplare und begutachtete, befingerte und beschnüffelte es von allen Seiten. Trotzdem wurde sie einfach nicht schlau daraus. Sie kniete sich hinter einen großen, brummenden Wagen nieder und steckte ihre Nase in das Rohr, aus dem es übelriechend qualmte. Vielleicht war dort das Geheimnis der pferdelosen Kutschen verborgen? Plötzlich tat es einen Knall, eine schwarze Rauchwolke puffte aus dem zitternden Rohr und der davonratternde Wagen ließ Alexa würgend und keuchend zurück.

„Bä!“, spuckte sie aus. Sie wischte sich den Ruß von der Nase und murmelte: „Hölle und Verdammnis! Das ist schlimmer als der Gestank von Strobels Schweinen.“

Sie seufzte, zu gerne hätte sie mehr über diese Zauberkraft herausgefunden. Ihre Blicke wanderten umher, bis sie an einem Mann hängen blieben, der zu einer Zauberkutsche ging, eine schwarze Stange an der vorderen Glasscheibe anhob, etwas darunter hervorzog, das wie zerknittertes Papier aussah, gegen ein Vorderrad trat, laut „Scheiße!“ brüllte, das Papier in seine Jackentasche schob, einstieg und davonbrauste.

Alexa nickte zufrieden. So machten die Menschen das hier. Aha, gut zu wissen.

Da es so viel Neues zu sehen gab, wusste sie nicht, wohin sie zuerst gucken sollte. Mit Interesse beobachtete sie ein Mädchen, das einen Stock gegen ein schwarzes Rad drückte, das mit einem anderen Rad durch Eisenstangen verbunden war, und staunte nicht schlecht, als das Mädchen auf diese sonderbare Eisenbrille kletterte und davonstrampelte. Völlig verblüfft war sie, als ein Junge mit weit ausgestreckten Armen auf einem Brett an ihr vorbeisauste und damit über eine Holzbank sprang, währenddessen einen Salto vorwärts über die Banklehne machte, wieder auf diesem Brett landete und auf ihm weiterraste. Und als dann noch etwas an ihr vorbeisauste, wobei jemand bewegungslos auf einem schmalen Brett stand und sich an einer Stange festhielt, war es ihr absolut klar: Das konnte nur Zauberei sein.

„Tod und Teufel! Das ist rechte Zauberkunst“, murmelte Alexa. „Meldec Schrawak, du hast mich in ein wahrhaft verhextes Land geschickt.“

Pferde sah Alexa nirgends, auch keine Kühe, Schafe, Schweine, Ziegen, Hühner, Enten oder Gänse. Es gab keine Esel oder Maultiere, die die Ware trugen. Eigentlich sah sie außer Tauben und angeleinten Hunden gar keine Tiere, was sie sehr wunderte.

Die Frauen trugen Beinlinge wie die Männer daheim oder waren fast nackt an den Beinen. Ihre Röcke waren so kurz wie Alexas Leinenhemd. Keine trug lange Röcke so wie sie. War eine Steuer auf Röcke erhoben worden? Oder verbot die städtische Kleiderordnung lange Röcke? Alexa schüttelte den Kopf. Sie musterte die Männer. Diese trugen lange oder kurze Beinlinge. Keiner trug etwas auf dem Kopf, weder Mützen, Hüte noch Körbe. Einige schmückten sich mit schwarzen Gläsern auf der Nase und sahen aus wie Riesenbrummer. Sie sah keinen Brunnen, aus dem Wasser geschöpft wurde, und keine Waschsteine, auf denen die Wäsche gewaschen wurde, und als sie auf den Marktplatz kam, wunderte sie sich, dass niemand am Pranger stand. Wenn sie es recht betrachtete, fehlte der Pranger völlig. Sie drehte sich nach allen Seiten um. Niemand schien Notiz davon zu nehmen, dass es keinen Pranger gab. Alexa wusste sich darauf keinen Reim zu machen. Sie entschied, sich erst einmal neu einzukleiden.

Die rollende Geldbörse vor sich herschiebend trödelte sie die Fußgängerzone entlang und musterte die Auslagen der Geschäfte. Tod und Teufel, dachte sie, als sie vor einem Schaufenster stand und fasziniert eine viereckige dünne Platte betrachtete, in der zwergenkleine Menschen ziellos herumliefen. Sie krauste die Stirn. Also, es gab in diesem Zauberland keinen Pranger, der auf dem Marktplatz stand, weil … weil … genau: Weil die Übeltäter in diese Platte gesperrt wurden. Aber wie? – Sie hatte keine Ahnung. Das war beängstigend.

Sich nach allen Seiten umsehend schlenderte Alexa weiter und betrat ein Bekleidungsgeschäft.

Staunend hielt sie inne. Uuuu, so viele Kleider! Es gab kurze Röcke und ganz kurze Hemdchen, Röcke mit Fransen und durchsichtige Hemdchen mit Schleifen, rote Röcke, grüne Hemdchen und blaue, geblümte Röcke, gepunktete und gestreifte Hemdchen, aber keinen einzigen langen, schwarzen Rock. Ungeduldig griff sie sich einen graublau gestreiften Rock und zog sich mit ihrer Geldtonne in eine Umkleidekabine zurück. Sie wisperte eine Verwandlungsformel. Aus graublau gestreift sollte schwarz werden. Doch statt eines langen, schwarzen Rocks quiekte plötzlich ein graublau gestreifter Hamster in ihrer Hand. Leise sprach sie die nächste Verwandlungsformel. Aus dem Hamster wurde ein graublau gestreifter Putzlappen. Danach zauberte Alexa einen Teller, graublau gestreift, einen Schuh ebensolcher Farbe, eine graublau gestreifte Schlange, von der sie bezüngelt wurde, und eine Kuh, graublau gestreift, die mit ihrem Hinterteil aus der Kabine ragte und ein Andenken hinterließ: Grau-blau gestreift.

Alexa wollte schon aufgeben, doch endlich klappte es. Aus der Kuh wurde ein langer, schwarzweiß gefleckter Rock, und Alexa zog ihn erleichtert an. Auf diese Weise kleidete sie sich komplett neu ein. Zum Schluss – SCHWUPP – hexte sie sich eine Sonnenbrille auf die Nase. Fertig! Sie drehte und wendete sich vor dem Spiegel, wobei sie die breite Hutkrempe hochklappte, um besser sehen zu können, und sah eine Hexe ganz nach ihrem Geschmack! Sie hüpfte aus der Kabine und zuckelte mit ihrer rollenden Tonne zur Kasse, als ein hysterischer Schrei sie zusammenfahren ließ.

„IIIIIIIIH! EIN KUHFLADEN! – Ich bin in einen graublau gestreiften Kuhfladen getreten! IIIIIIIIIH!“

Alexa zog sich den Hut noch tiefer ins Gesicht und rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht. Eine Verkäuferin stürzte zu den Umkleidekabinen.

Alexa erreichte die Kasse und zählte auf: „Den Rock, das Hemd, die Stiefel, den ledernen Sack, den Umhang, den Hut und äh, das da mit den schwarzen Gläsern.“ Dabei tippte Alexa auf die Sonnenbrille. Dann wühlte sie in der Tonne herum und nahm mehrere Handvoll Münzen heraus. Die fassungslose Kassiererin zählte die Münzen und, als alles stimmte, verließ Alexa den Laden.

Die Anzahl der Münzen war kein bisschen geschrumpft. Die Tonne war schwer, es war drückend heiß, und Alexa hatte keine Lust mehr, das Geld hinter sich herzuziehen. Als sie den Bettler aus dem Park sah, stellte sie die Tonne vor ihm ab.

„Du kannst das hier haben“, antwortete sie erleichtert und zeigte auf die Tonne.

Der Mann sah sie schräg von der Seite an.

„Ich weiß, was du denkst“, sagte Alexa, klappte den Deckel auf, nahm sich eine Handvoll Münzen und ließ sie in ihre Rocktasche gleiten. „Der Rest ist für dich. Das sollte für eine anständige Mahlzeit reichen.“ Dann blickte sie ihn an. „Du bist doch hungrig, oder?“

„Und wie“, meinte der andere, erhob sich schwerfällig und starrte verdutzt in die Mülltonne, die bis zum Rand mit Geld gefüllt war.

„Ich weiß auch nicht warum, aber die Tonne wird einfach nicht leer.“ Alexa zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, was du damit machen willst.“

„Och, ich wüsste da schon eine Menge“, grinste der Mann und zuckelte fröhlich davon, Richtung Kneipe, wo er sich ein gepflegtes Glas Bier gönnen würde.

Inzwischen klebte Alexa mit der Nase an einem Schaufenster voller Uhren und glitzernden Schmuck. Es gab so viele lustige Dinge, die ihren Blick fingen, aber eine Uhr hatte es ihr besonders angetan: Sie bestand aus einer Scheibe, die so ähnlich aussah wie die Uhr am Kirchturm von Salzbrunne. Die Zeiger der Uhr waren wie Besen geformt, und auf dem Besenstiel ritt eine lachende Hexe, die einen roten Schal trug. Keine fünf Minuten später gehörten ihr die Uhr und ein roter Seidenschal, den sie sich um ihren Hut band. Nun würde sie Gisela aufsuchen. Sie hatte das Gefühl, das Gisela ihr irgendwie weiterhelfen würde. Wie das aussehen sollte, wusste sie nicht, aber dass es so sein würde, schien ihr so sicher wie auf Regen Sonne folgte.

Und so war es. Kaum eine Stunde später saß sie mit Gisela, Felix und deren Eltern Corinna und Willi Salzmann in der Küche. Kater Kadaver lauerte unter dem Abendbrottisch und wartete auf sein Futter. (Sein voller Name lautete eigentlich Kater Kadaver aus der Biotonne, weil Felix ihn dort gefunden hatte. „Pfui, lass den Kadaver dort liegen!“, hatte seine Mutter noch geschrien, und der Kater hatte sich sofort schnurrend an ihre Beine geschmiegt. Seitdem wich er nicht mehr von ihrer Seite wich.)

Alexa lümmelte auf ihrem Stuhl und schlenkerte ungeduldig mit den Beinen. Sie hatte Hunger, und es roch köstlich. Wann gab es denn nun endlich etwas zu essen?

„Warum sagst du denn nicht, dass du in diesem Jahr eine Austauschschülerin mitbringst“, nörgelte Corinna Salzmann und blickte angewidert auf die schwarz vermummte Gestalt.

Kadaver umkreiste Alexa und leckte ihr genüsslich die Fußsohlen ab. Sie kicherte.

„Du heißt also Alexa“, stellte die Mutter bereits zum dritten Mal fest.

„So werde ich gerufen“, antwortete Alexa brav und stierte auf den gedeckten Tisch. Ihr Magen knurrte. Mit energischen Tritten versuchte sie, den Kater auf Abstand zu bringen.

„Woher kommst du?“, fragte die Mutter.

„Von weit her“, antwortete sie vage. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem gedeckten Tisch.

Giselas Vater gluckste hinter seiner Zeitung. Die Mutter musterte verärgert das vibrierende Papier. Kadaver sprang Alexa auf den Schoß. Sie wischte ihn ungeduldig beiseite.

„Amerika“, fügte Gisela hastig hinzu.

„Und du bleibst wie lange?“, fragte die Mutter weiter. Ihre linke Augenbraue zuckte nervös, ihr Blick schnellte zwischen Gisela und diesem fremden Mädchen hin und her.

„Solange, wie der Mei … wie ich meine“, improvisierte Alexa rasch und forschte in Giselas Gesicht, ob sie ihren Versprecher gemerkt hatte.

Kadaver streifte weiterhin um ihre Beine und schnurrte wie eine Propellermaschine. Willi Salzmann gluckste immer noch vor sich hin, bis ihn ein Schluckauf schüttelte, und Felix klapperte mit dem Suppenlöffel gegen den Tellerrand.

„Alexas Eltern gehören zu den Amishpeople“, erklärte Gisela, ohne weiter auf ihren hicksenden Vater zu achten. „Du weißt schon, Mutti, die jede Art von Technik ablehnen. Keine Autos, keine Fernseher.“

„Aber dann wäre Alexa nicht erlaubt worden, von Amerika hierher zu fliegen, oder?“, giftete Corinna Salzmann.

Alexa verschluckte sich, hustete und prustete: „Nein, auf gar keinen Fall, ich bin nicht geflogen. Ich kann überhaupt nicht fliegen. Keine von uns kann fliegen!“

Zwei Augenpaare glotzten sie an, das dritte schaute hinter der Zeitung hervor und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Kadaver sprang auf Alexas Schulter, schnupperte in die Luft und rieb sich an ihrem Ohr, während seine Krallen lustvoll ihre Schulter knetete.

„Ich bin zu Fuß gegangen“, erklärte Alexa und versuchte, diese nervige Klette abzuschütteln.

„Von Amerika hierher? Aha, du bist wohl übers Wasser gelaufen“, spöttelte die Mutter und stellte die Suppenterrine auf den Tisch.

„Natürlich hat sie das Flugzeug genommen“, griff Gisela beherzt ein.

„Ich sehe nichts mehr!“, schrie Alexa entsetzt auf. Ihr Kopf mit den beschlagenen Brillengläsern hing über der dampfenden Suppenterrine.

„Nimm doch endlich diese blöde Sonnenbrille ab!“, stöhnte Gisela und sprang vom Stuhl. „Mutti! Ich zeige Alexa, wo sie schläft.“ Sie packte ihre neue Freundin am Arm und riss sie unsanft mit.

Der Kater schreckte auf und sprang in die Suppenschüssel, dass es nur so schwappte.

„Kadaver, du FERKEL!“, kreischte Corinna und schlug mit dem Geschirrtuch nach ihm, traf jedoch ihren Mann, der fluchtartig die Küche verließ – mit der Zeitung in der Hand.

„Wo kommst du denn nun eigentlich her?“, fragte Gisela, als sie sich zwischen ihren vielen Kissen auf dem Bett bequem machte.

„Wie du es bereits gesagt hast“, antwortete Alexa ausweichend.

Gisela fragte verblüfft: „Aus Amerika? Echt?“

„Gewiss“, murmelte Alexa und wich Giselas Blick aus.

„Und du bist wirklich eine Amish?“

Alexa entschied, bei ihrer Lüge zu bleiben, so lange, bis sie Gisela gebannt hatte, und nickte lediglich.

„Und was machst du hier?“ Gisela wollte alles über dieses verrückte Mädchen wissen, das sich so merkwürdig kleidete und auf zwanzig Meter hohe Bäume klettern konnte. Vielleicht konnte sie noch von ihr lernen?

Alexa senkte den Kopf und schwieg.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte Gisela.

„Zu Hause.“

„Vermissen sie dich nicht?“

Alexa schniefte. Bei dem Gedanken an ihr Dorf lief ihr eine Träne die Wange hinunter. Gisela rückte ganz nahe an sie heran und nahm sie in den Arm.

„Klaust du?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein“, seufzte Alexa. Aber sie hatte gelogen. Das würde sie natürlich nicht zugeben. Lügen war schlecht, und sie fühlte sich auch nicht gut dabei.

„Bettelst du?“

Alexa sah Gisela an. „Du meinst, wie der Mann auf dem Marktplatz?“

„Ja, wie die Typen, die ständig auf dem Marktplatz oder am Bahnhof herumhängen. Machst du so etwas? Bist du eine Zigeunerin?“

„Nein“, sagte Alexa.

„Bist du weggelaufen?“

Alexa schüttelte den Kopf. „Es ist eine Prüfung.“

Gisela nickte verständnisvoll. „Oh, das verstehe ich. Deine Eltern haben dich gehen lassen, damit du die moderne Welt mit ihren technischen Errungenschaften kennenlernst.“

Alexa blinzelte sie erleichtert an. Was für eine Erklärung! Natürlich! Meister Schrawak hatte sie hierher geschickt, damit sie die moderne Welt mit ihren technischen Errungenschaften, was immer das auch war, kennenlernte.

Gisela grinste sie breit an. Dann stand sie auf, legte Alexa einen ihrer Schlafanzüge hin und ging ins Badezimmer. Als sie zurückkam, lag Alexa bereits unter der Decke auf ihrem Matratzenlager und hatte sich etwas Weißes über ihre rote Lockenpracht gezogen. Gisela starrte sie an.

Alexa zupfte an Giselas geblümter Unterhose auf ihrem Kopf. „Warum haben eure Schlafmützen so große Ohrenlöcher. Das ist im Winter sehr unpraktisch. Aber die Blümchen gefallen mir.“

Mit einem Aufschrei riss Gisela ihren Baumwollschlüpfer an sich und stopfte ihn zurück in die Kommodenschublade. „Du bist echt komisch. Das ist keine Schlafmütze, das ist eine Unterhose. Du wirst doch noch Unterhosen kennen, oder?“ Sie zögerte, als sie Alexas ratloses Gesicht sah. „Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass ihr Amish keine Unterhosen kennt. Tragt ihr denn gar nichts unter euren Röcken?“

Alexa zeigte auf die Kommode, in die Giselas Unterhose verschwunden war. „Du meinst das da?“

Gisela nickte. „Ja, eine Unterhose. Oder ein Unterhemd.“

Alexa krauste die Nase. „Wenn es kalt ist, ziehen die Frauen mehrere Röcke übereinander an, und die Männer tragen Beinlinge.“

Beinlinge? Das ist doch ein Begriff aus dem Mittelalter.“ Gisela schnaufte. „Also wirklich, ihr seid echt von vorgestern.“ Sie krabbelte ins Bett und fragte nach einigem Zögern: „Warum unterhalten wir uns nicht in englisch über dein Leben in der Amish-Gemeinde? Dann lerne ich auch gleich was.“

Alexa, die keine Ahnung hatte, wovon Gisela sprach, hielt den Atem an, bis sie schließlich ein „Sicher“ hervorpresste, und „Wir könnten noch viele Worte miteinander wechseln, doch nun ist mein Kopf schwer, und ich will ruhen.“ Sie drehte sich um und gab vor zu schlafen.

Gisela fand in dieser Nacht lange keinen Schlaf.

Es war später Samstag, als die Mädchen sich endlich aufrafften, das Bett zu verlassen. Die Schule am Montag lag in weiter Ferne, und natürlich führte der erste Weg in die Küche. Sie hatten Hunger.

„Meine Eltern sind auf der Arbeit, und mein Bruder Felix ist bei der Tagesmutter“, erklärte Gisela und breitete theatralisch die Arme aus. „Also sind wir frei und können tun und lassen, was wir wollen.“ Und da Alexa nicht darauf reagierte, setzte sie hinzu: „Ich mach uns jetzt was zu essen.“

Während Gisela zwei Schalen mit Müsli füllte, betrachtete Alexa fasziniert einen weißen Kasten, dessen vordere Tür sich öffnen ließ. Die Neugier nagte an ihr wie eine hungrige Maus. Sie steckte den Kopf in den Kasten und drückte mehrere Schalter. WUMMMM!

„AAAAAAAHHH!“ Entsetzt sprang sie zurück und beschnüffelte vorsichtig ihre Haarspitzen. Ihr Haare rochen verkokelt.

„Spinnst du!“, krächzte Gisela erschüttert. „Du kannst doch nicht einfach den Kopf in den Gasherd stecken!“

Alexa schüttelte ihre Lockenpracht und meinte: „Wir kochen auch mit Feuer.“

Giselas Mund klappte auf und wieder zu. Die war ja echt durchgeknallt. Vor sich hinlamentieren schüttete sie Milch in die Schalen und stellte sie auf den Tisch. Sie sah auf. Alexa stand nicht mehr am Herd. Es war auf einmal so ruhig geworden. Beängstigend ruhig. Was stellte Alexa denn jetzt schon wieder an? Gisela hastete zum Badezimmer, aus dem ihr freudiges Quieken entgegenschallte.

Alexa stand unter der Dusche und jauchzte vor Freude: „Kalt, heiß, kalt, heiß!“ Sie drehte den Griff nach rechts, nach links, dann wieder nach rechts. „Das Wasser fließt aus der Wand“, frohlockte sie und zeigte auf den Duschkopf. „Das nehme ich mit nach Hause.“

Giselas Blick fiel auf den nassen Schlafanzug, der um Alexas Füßen in der Duschwanne lag, und murrte: „Was ist mit Frühstück?“ Und nach einer Weile, als Alexa nicht reagierte: „Habt ihr denn bei euch kein fließendes Wasser?“

„Das Wasser fließt in einem Fluss und kommt bei uns nicht aus der Wand.“ Platschnass trat Alexa aus der Dusche und schaute Gisela beglückt an. „Das ist eine rechte Errungenschaft, die mir gefällt“, seufzte sie. „Ich will sie mitnehmen und meinem Meister, äh, meinen Eltern zeigen. Wie bekomme ich mich wieder trocken?“ Suchend sah Alexa sich im Bad um.

Gisela zeigte auf ein Regal über einem Trockner. „Handtücher sind dort. Und das nasse Zeug kannst du in den Trockner werfen. Aber nicht anstellen, das mach’ ich dann.“

Alexa besah sich das weiße Gerät. „Aha! Wieder eine technische Errungenschaft. Muss ich da hineinsteigen?“

„Natürlich nicht.“ Gisela lachte und verzieh ihr ihre Schrullen. „Wenn du dich angezogen hast, lass uns dann was essen. Ich habe Hunger.“

Gisela verließ das Badezimmer, und Alexa trocknete sich ab. Anschließend stopfte sie das Handtuch, den nassen Schlafanzug, ihre Sonnenbrille, und alles, was sie den Tag davor getragen hatte, in den Trockner.

„Gute moderne Errungenschaft“, murmelte sie. „Das muss ich alles Meister Schrawak erzählen.“ Danach stiefelte sie in Giselas Zimmer und bediente sich aus deren Kleiderschrank.

Als sie die Küche betrat, sah sie zwei armselig kleine Müslischalen mit Körnern auf dem Tisch stehen, verdrehte die Augen und verabschiedete sich tirilierend wie ein Vögelchen: „Gewiss ist Vogelfutter genau das richtige für Vögel, aber für eine He … äh, Amish ist Fleisch und Bier das einzig Wahre.“

Noch bevor Gisela etwas einwenden konnte, war Alexa weg. Einfach weg! Mit einem Fingerschnippen. Gisela starrte die Stelle an, an der kurz zuvor noch Alexa gestanden hatte. Was hatte sie sich da nur eingebrockt?

Es war Abend, als Alexa sich in Giselas Wohnung zurückschnippte. Sie war schlecht gelaunt. Das Fleisch war fade und das Bier wässrig gewesen. Nun kauerte sie auf dem Garderobenständer. Wie sie dahin gekommen war, wusste sie nicht. Irgendetwas stimmte so ganz und gar nicht mit ihren Zaubersprüchen. Egal, darum würde sie sich morgen kümmern, jetzt war sie müde und wollte schlafen.

Gespannt lauschte sie, um festzustellen, ob man sie bemerkt haben könnte. Fremde Stimmen drangen in den Flur. Es waren nicht die Stimmen der Salzmanns, sondern andere. Unvertraute. Vorsichtig kletterte sie vom Garderobenständer, schlich zur Wohnzimmertür und drückte ihr Ohr daran platt. Sie vernahm sinnloses Gekreische.

„Nein! Nein! Liebster, geh nicht!“ Wimmer-wimmer! Ich muss gehen. Stampf-stampf-stampf! Sie könnten dich töten! Kreisch! Ich trage einen Sheriffstern. Niemand wird mich töten. Peng-peng! Oh! Oh! Wimmer-wein! Warum nur? Liebster? Ohoohohooh! Heul! Warum hast du mich verlassen? Schnäuz!

Alexa stieß die Tür auf und schrie: „Welcher Schurke sich dir auch immer nähert, Gisela, ich werde ihn zum Mond hexen … äh, jagen!“

Drei Köpfe drehten sich erschrocken zu ihr um. In der Mitte des Zimmers thronte ein flaches, schwarzes Brett, genau so eines wie im Schaufenster. Mit schreckgeweiteten Augen dachte Alexa an den Pranger, den sie in der Stadt entdeckt hatte. Hexendreck noch mal! Der Mann im Kasten war mausetot. Das sah man sofort. Aber wer hatte ihn getötet? Alexas Kehle war wie zugeschnürt. Sie schluckte. – Und wer saß gemütlich in diesem Raum? Gisela! Sie war eine Urteilsvollstreckerin. Sie war eine Hexenjägerin, und sie, Alexa, war in einem Haus von Hexenjägern gefangen! – UMPF! „Tod und Teufel“, stieß Alexa hervor. „Tod und Teufel!“

Gisela erhob sich aus ihrem Sessel.

Alexa schrie auf.

„Was hast du denn?“, fragte Gisela irritiert.

„Äh, nichts“, stammelte Alexa und versuchte, sich zu verdrücken.

„Lass uns in mein Zimmer gehen und miteinander quatschen“, schlug Gisela vor.

„Nein!“ Alexa schüttelte den Kopf. Für einen kurzen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte: Wegrennen oder bleiben.

Gisela musterte sie ratlos. „Was ist denn los?“

„Ich muss gehen … äh, bleiben“, änderte Alexa tapfer ihre Meinung. Sie hatte keine Wahl. Die Hexenjäger würden sie überall finden. Sie wusste, dass es ein harter Kampf werden würde. Mann gegen Mann, Maus gegen Maus … Quatsch … Hexe gegen Hexenjägerin. Sie würde sich nicht kampflos ergeben. Das war eine Prüfung. Meister Schrawak hat sie einer Prüfung unterzogen. Deswegen war sie hierher gesendet worden. Sie musste tapfer sein. Sehr tapfer sogar.

Die Schultern gerafft, hastig Zauberformeln murmelnd, hob sie ihre Arme und hexte …

Corinna stand auf und starrte ihren Gast an. Der Vater murrte, dass sie für so einen Schwachsinn auch noch Gebühren zahlten und stellte den Fernseher aus.

Alexa fuchtelte mit den Armen. „Schweigen sollt ihr, blind und taub. Nur ein Wort, dann seid ihr Staub. Wisst nicht, was ich war und bin, verwirrt sei euer ganzer Sinn.

Mein Gott, die Arme hatte sich aus Heimweh volllaufen lassen!, dachte Gisela, während ihre Augen Alexas wilden Armbewegungen folgten. Zum Erstaunen der anderen hielt Alexa plötzlich ein Bündel verschrumpelter Karotten in der Hand.

„Oh, wie … ähem … nett“, meinte die Mutter. „Möhren. Und zwar alte, die deine neue Freundin aus der Tonne gefischt hat. Sieh zu, wie du dieses Mäd … äh Möhren loswirst. Ich gehe jedenfalls zu Bett.“

Alexa starrte auf das, was sie in den Händen hielt, und warf es von sich. Und später, als sie im Bett lag, konnte sie keinen Schlaf finden. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Irgendetwas lief vollkommen falsch. Sie musste sich den Tatsachen stellen: Sie konnte nicht mehr hexen.

Alexa und das Zauberbuch

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