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Wie erkennt man eine Hexe?

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Wenn Gisela Alexa auf die Amish ansprach oder in Englisch, hob diese erschrocken die Hände und gestikulierte wild, stieß seltsame Flüche aus oder war plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Gisela war sich sehr schnell klar, dass Alexa ihr auswich, wenn ihr Fragen gestellt wurden. Die beiden Mädchen umschlichen sich wie zwei Kater, die ihr Revier verteidigten. Gisela wollte wissen, woher die andere kam. Und die andere, Alexa, versuchte, Gisela zu bannen. Aber nichts davon klappte. Der Bannspruch „Zippe-zappe-zoll, du wirst im Kopf ganz toll“ entlockte Gisela ein glückliches Grinsen. Der Fluch „Hasenhirn und Vogelbein, grunzen sollst du wie ein Schwein“ brachte Kadaver dazu, sich aus Angst vor den Spatzen im Wäschekorb zu verstecken. Auch der Zauberspruch „Himmel, Hölle, Regenbogen, kommst als Wolke hergeflogen“ versagte und sorgte nur dafür, dass der Schornsteinfeger auf dem Dachfirst Pirouetten drehte.

Nein, das war es nicht, was Alexa gewollt hatte. Keine tanzenden Schornsteinfeger oder ängstliche Kater. Was lief falsch? Gisela löste sich nicht in Luft auf. Sie, Alexa, war nicht zurück in ihrem Dorf Hasenwinkel. Und Meldec Schrawak war weit und breit nicht zu sehen. Sie war eine Gefangene in diesem Land und in diesem Haus und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie dieser merkwürdigen Situation entkommen konnte.

Und Gisela, die mehr oder weniger alles mitbekam, was Alexa an Flüchen und Wünschen ausstieß, wusste es auf einmal. Sie saß in der Geschichtsstunde und all das Rätselraten löste sich auf einmal in Wohlgefallen auf. Warum war sie nicht schon eher darauf gekommen: Alexa war keine Amish. Sie war eine Hexe.

Am Nachmittag kaufte sich Gisela das Buch Der einfachste Weg, eine Hexe zu erkennen. Und zog sich zu Hause sofort in den Besenschrank zurück, wo sie von Felix und allen anderen in Ruhe gelassen wurde. Aufmerksam las sie: An den Füßen lassen sich Hexen eindeutig erkennen, denn einer ihrer Füße ist nicht normal ausgebildet. Entweder ähnelt er bei Mädchen einem Entenfuß oder bei Burschen dem Huf einer Ziege.

Gisela runzelte die Stirn. Alexa hatte keinen Entenfuß. Sie blätterte weiter. Hexen besitzen ein hufeisenförmiges Mal auf dem Körper, das so genannte Hexenmal. Ein Abdruck des Teufels, der den Bund mit der Hexe besiegelt.

Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Dort lag Alexa in der Badewanne. Nach der Eieruhr zu urteilen, wollte sie fünfzehn Minuten lang die Luft anhalten. Ha, ha, ha, dachte Gisela, die spinnt doch. Aber dann dachte sie daran, weswegen sie ins Bad gekommen war, und suchte Alexas Körper nach Hexenmalen ab. Da war nichts.

Wieder zurück in der Besenkammer setzte Gisela ihre Studien fort. Nichts von dem, was sie bisher gelesen hatte, war sonderlich befriedigend, aber dann schlug sie ein neues Kapitel auf: Wie stellt man eine Hexe auf die Probe?

„Genau“, flüsterte sie. „Jetzt wird es interessant.“

Um eine Hexe von ihrem Schadenzauber abzuhalten, kippe man Salz auf den Boden. Das lenkt sie von ihren bösen Absichten ab. Sie können sich gegen den Zwang, die Salzkristalle zu zählen, nicht wehren und müssen sie einzeln aufsammeln.

„Das ist es!“, schrie sie auf und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Sie horchte, ob Alexa noch im Bad war. Als es still blieb, schlich sie aus dem Kabüffchen, flitzte zur Küche und suchte ein Salzfässchen für die Hexenprobe. Als Alexa wenig später die Küche betrat, war der Kaffeetisch mit Limo, Schokokeksen und einem hart gekochten Ei gedeckt. Die Hexe setzte sich, ohne etwas zu sagen, griff nach den Keksen und verschlang einen nach dem anderen. Gisela beobachtete wieder einmal, dass Alexa futterte wie ein Scheunendrescher. Dabei schien sie nie auch nur ein einziges Gramm zuzunehmen. Es sah überhaupt nicht danach aus, als ob Alexa sich jemals mit dem Essen zügeln würde. Sie aß und aß und aß – und wurde nicht dicker. Das war frustrierend Gisela titulierte sie bereits heimlich als „Hexe Nimmersatt“..

Als Alexa sich endlich dem Ei zuwandte, reichte Gisela ihr umständlich das Salz. „Hier, Alexa, das Salz für dein Ei.“

Bevor Alexa zugreifen konnte, ließ Gisela das Salzfässchen fallen. Der Schraubdeckel löste sich, und der gesamte Inhalt ergoss sich auf den Küchenfußboden. Alexa wollte das Gefäß instinktiv mit einem Zauber wieder auf den Tisch stellen, riss sich jedoch zusammen.

„Oh, wie dumm von mir“, seufzte Gisela übertrieben. „Das Salzfässchen ist umgekippt.“

Alexa reagierte nicht.

„Das schöne, schöne Salz. Alles Salz auf dem Fußboden.“

Alexa köpfte das Ei und aß es ohne Salz.

„Meinst du nicht, dass wir uns um diese vielen wertvollen Salzkristalle kümmern sollten?“, versuchte es Gisela noch einmal.

„Ich bin satt“, sagte Alexa, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging.

Keine von beiden hatte das Salz auf dem Fußboden angerührt.

In der folgenden Nacht, nach Wochen brütender Hitze, zog ein Gewitter auf und Blitze zuckten über den bedeckten Himmel. Alexa hielt es in ihrem Bett nicht mehr aus. Sie schnippte sich in den Baum vor Giselas Fenster und ließ das Gewitter über sich hinwegfegen. Sie saß auf einem der stärkeren Äste und wippte juchzend auf und ab. Mit Interesse beobachtete sie, wie sich Giselas Fenster öffnete und ein Turnschuh, eine Sandale, ein Stiefel und ein Hausschuh durch den Regen flogen.

Als Alexa sich später unter ihre Decke kuschelte, nahm Gisela ihre restlichen Schuhe und stellte sie leise, damit Alexa es nicht bemerken sollte, mit der Schuhspitze gegen Alexas Matratzenlager auf. Alexa schlief grinsend ein.

Der nächste Morgen begann übel.

Alexa erwachte aus einem quälenden Traum, in dem Meldec Schrawak sie ausgelacht hatte. Dann stach sie sich den Fuß an einer verrosteten Gabel, die in ihrem Stiefel steckte. Und als sie mit ihrer Freundin am Weiher vorbeikam, gab Gisela ihr eine schallende Ohrfeige. PENG!

„Mücke. Die überträgt Malaria. Ist tödlich.“ Giselas Miene war die reinste Unschuld.

Alexa trat daraufhin kräftig gegen Giselas Schienbein – PONG! – und erklärte ungerührt: „Hilft gegen böse Gedanken.“ Damit waren sie quitt.

Gisela humpelte durch den Park, während Alexa wieder einmal spurlos verschwand. Vor sich hin fluchend erreichte Gisela die Schule. Das war doch alles Blödsinn, was in den Büchern stand. Nichts von dem, was sie gelesen hatte, hatte bisher etwas ergeben, außer dass ihr Schienbein wie die Hölle brannte.

„Bin ich von allen guten Geistern verlassen? Ich hab sie doch nicht mehr alle. Und dann auch noch eine Ohrfeige! Sie wird nie wieder mit mir reden. Nun habe ich schon eine Freundin und dann bin ich so unfreundlich ... Ich blöde Kuh! Ich blöde, blöde Kuh!“ Sie schlich durch den Schulflur und wühlte in ihrer Tasche. „Und dieses blöde Buch! Das Buch gehört in die Tonne.“ Gerade wollte sie sich des Buches entledigen, als Cynthia sie einholte. Gisela schloss die Tasche und sah stur an Cynthia vorbei.

„Für wen hast du dich denn so schick angezogen?“, spöttelte Cynthia boshaft.

Mona trippelte dicht hinter ihr her und säuselte falsch: „Und hast du Rückenschmerzen? Du gehst so merkwürdig.“

Und wie immer wurden beide von Lara und Sabine begleitet, die sich ausschütteten vor Lachen.

Die siamesischen Vierlinge!, dachte Gisela. Sogar vier eierlegende Hühner machten weniger Lärm als Cynthia mit ihrem Gefolge. Zugegeben, Giselas Schuhauswahl war etwas krass. Ihr linker Fuß steckte in einem von Farbklecksen übersäten Turnschuh, der rechte in einer roten Gesundheitssandale. Das waren die einzigen trockenen Schuhe, die sie am Morgen hatte finden können. Die dazugehörigen Hälften hatte sie aus dem Fenster geworfen. Für die Hexenprobe. Sie war ihr in der Nacht als so vernünftig erschienen. Nur war sie bedauerlicherweise ohne Ergebnis geblieben.

„Ach das“, erwiderte Gisela mit einem aufgesetzt liebenswürdigen Lächeln und log: „Das ist lediglich ein Schuhtest. Danach darf ich die Schuhe behalten.“

„Jeweils nur den einen Schuh?“, fragte Lara.

Für einen kurzen Moment guckte Cynthia wie ein Schaf, dann fing sie schallend an zu lachen. „Genau. Kriegst du nur den einen Schuh geschenkt, Gisela?“ Sie klatschte sich vor Lachen auf den Oberschenkel. „Lara, du bist einfach göttlich.“

Lara schaute ein wenig dümmlich, Sabine und Mona grinsten.

Gisela seufzte übertrieben theatralisch. „Seid nicht albern. Ich darf mir jeden Monat Schuhe im Werte von zweihundert Euro aussuchen. Und Lara, du kannst einen qualitativ hochwertigen Schuh ja noch nicht einmal erkennen, auch wenn er dich beißen würde.“

Die Mädchen verstummten.

Neidisch musterte Cynthia ihre Klassenkameradin. Doch dann erinnerte sie sich, dass irgendjemand behauptet hatte, sie sähe, wenn sie einen anstarrte, unvergleichlich dumm aus. In Sekundenschnelle verzogen sich ihre Lippen zu einem zuckersüßen Lächeln. „Wie nett!“, gurrte sie. „Dann mach dich ruhig weiterhin lächerlich. Ich ziehe es vor, meine Schuhe als Paar anzuziehen, Schuhtest hin oder her.“

„Vergiss aber die zweihundert Euro nicht“, flüsterte Lara aufgebracht, als ob sie dächte, Cynthia hätte nicht genau verstanden, was Gisela gemeint hätte.

„Pö!“, machte Cynthia, setzte ihr hochmütigstes Gesicht auf und wandte sich ab. Gefolgt von ihren Freundinnen stakste sie die Treppe zum Klassenzimmer hinauf.

Gisela sah ihnen gedankenverloren nach. Sie beschloss, das Buch zu behalten, auch wenn die Hexenproben alle für die Katz’ gewesen waren. Die Schuhprobe war wie alle Proben ein Reinfall gewesen. Mit einem in eine Windböe hineingeworfenen Schuh konnte man angeblich eine Wetterhexe entmachten und sie dazu bringen, sich zu zeigen. Siebzehn Schuhe, darunter auch die Puschen ihres Vaters, hatten nichts Derartiges hervorgebracht, weder eine Wetterhexe noch ein Nachlassen des Sturms. Das Gewitter schien ausschließlich physikalischer Natur zu sein, so wie sie es im Unterricht gelernt hatte. Nichts da von wegen Wetterhexerei. Das war doch alles Schwachsinn mit den Hexenproben. Warum hatte sie das nur geglaubt?

Die Eisenprobe war auch ein Reinfall gewesen. Hexen sollten angeblich Eisen fürchten. Sie hatte die Gabel in Alexas Stiefel gesteckt, nachdem sie sie mit einem Magneten überprüft hatte. Aber soweit sie beobachtet hatte, hatte Alexa die Gabel bedenkenlos angefasst und sie in ihren Rucksack geworfen, ohne vor Angst mit den Zähnen zu klappern oder hysterische Schreie auszustoßen.

Und angeblich konnten Hexen nicht weinen, doch die saftige Ohrfeige hatten Alexas Augen tränen lassen. Ob es nun richtige Tränen waren, konnte Gisela nicht sagen, denn sie musste mit ihren eigenen Tränen kämpfen. Alexas spontaner Schienbeintritt war ganz schön heftig gewesen und Giselas Tränen durchaus sehr echt.

Schlussendlich sollten Schuhspitzen, die gegen eine Hexe gerichtet sind, jede Hexe vom Schlaf abhalten. Aber ganz im Gegenteil, Gisela schien es, als ob Alexa noch nie besser geschlafen hätte, während sie selbst kein Auge zutat. Sie hatte versucht, Alexa die Nase zuzuhalten. Leider hatte Alexa zugebissen, und Giselas Daumen fühlte sich immer noch ein wenig taub an.

An diesem Morgen war die letzte Schulstunde dem Freeclimbing gewidmet. Aus welchen Gründen auch immer sich Gisela für diesen Kurs angemeldet hatte. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dadurch schlanker zu werden. Nein, das war nicht ganz wahr, sie wollte Clemens nahe sein (und schlanker werden). Und in dem Moment, als sich Cynthia gegen diesen Kurs entschieden hatte, war Giselas Finger schneller in die Höhe gefloppt als man Freeclimbing hätte rufen können. Nun saß sie in der Falle. Angemeldet war angemeldet, und Gisela fühlte sich mitnichten schlanker oder besser, auch wenn Clemens in der Nähe war. Sie fühlte sich dicker, dümmer und hilfloser. Der Kurs tat ihr so gar nicht gut.

Alexa tauchte unvermittelt neben ihr auf und begleitete sie über die letzten Runden im Park.

„Es tut mir leid wegen der Ohrfeige“, entschuldigte sich Gisela keuchend.

„Mir auch.“ Aus Alexas Antwort ging nicht hervor, ob sie die Ohrfeige oder den Tritt gegen Giselas Schienbein meinte.

„Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich ...“ dir erzählen, dass ich dich für eine Hexe gehalten habe. Gisela hatte den Gedanken nicht laut geäußert. Sie schämte sich. Alexa war doch nett, auch wenn sie Bier trank. Heimlich. Das wusste Gisela. Denn am Abend, wenn der Vater sich eine Flasche Bier aus der Küche holen wollte, war der Kasten, den er am Morgen gekauft hatte, bereits wieder leer. Bisher glaubte er, dass seine Frau Kadaver mit dem Bier fütterte, wobei er fieberhaft überlegte, wie sie bloß an den Flaschenöffner herangekommen war. Er trug ihn doch die ganze Zeit bei sich. (Die restlichen Flaschenöffner und alles, was danach aussah, hatte er vorsichtshalber unter seiner Matratze versteckt. Er schlief seitdem ziemlich unruhig.)

Als Gisela die Kletterwand erreichte, war Alexa wieder einmal von einer Sekunde auf die nächste verschwunden. Wie machte sie das nur? Sie tauchte plötzlich auf, sie verschwand ebenso plötzlich wieder. Das war nicht normal. Aber die Proben hatten gezeigt, dass Alexa keine Hexe sein konnte. Diese Gedanken streiften Gisela und waren ebenso schnell wieder vergessen, denn das Problem, vor dem sie stand, war immer noch da: die Kletterwand und damit auch ihre Höhenangst. Ihr wurde schlagartig übel. Am liebsten wäre sie davongelaufen. So weit weg wie möglich, ohne jeden Umweg direkt in ihr Bett unter die Bettdecke. Hatte es sich herumgesprochen, dass sie Clemens’ Kletterrekord gebrochen hatte? Es musste wohl so sein, denn nicht nur die siamesischen Vierlinge waren dieses Mal gekommen, um sie zu verspotten, sondern auch noch alle anderen aus der Klasse, die sich nicht für den Kurs angemeldet hatten. Und Jurek, der Sohn eines polnischen Meisters im Bogenschießen. Er überragte mit seinem schlanken, hoch aufgeschossenen Körper nicht nur die anderen, sondern er war darüber hinaus auch nett. Sehr nett sogar! Gisela mochte ihn, aber es schien, dass er Cynthia ebenso blind anhimmelte wie alle anderen Jungen der Schule.

Lächerlich machen kann ich mich auch ohne Publikum, dachte sie gereizt und verbarg ihre Nervosität hinter dem Beugen und Strecken ihrer Beine.

Alexa saß derweil versteckt hinter Blättern in einem nahe stehenden Baum. Der langmähnige Engel namens Cynthia war auch ihr sofort aufgefallen. Diese Art Mädchen kannte sie. Wenn sie etwas wollten, verbissen sie sich wie gierige Hunde in ein Stück Fleisch. Man musste sehr vorsichtig sein und sie nicht reizen. Auch wenn sie üblicherweise nicht zu der Zunft der Hexen gehörten, waren ihr Ausbrüche oft sehr gefährlich, denn sie besaßen eine nicht zu unterschätzende Bauernschläue, getarnt hinter Schönheit. Und Schönheit blendete.

Alexa kannte viele, die sich von Schönheit blenden ließen. Nicht so der hoch aufgeschossene, schlanke Junge, der verkniffen die anderen Jungen beobachtete. Auch wenn Alexa es nur als vages Gefühl wahrnahm, dieser Junge war anders als die anderen. Er ließ sich nicht blenden. Sie bezweifelte, ob er überhaupt manipulierbar war. Jeder war ihrer Meinung nach manipulierbar. Ein paar schmeichelnde Worte hier, eine Lächeln dort und schon hatte man den anderen in der Hand. Den da schien so etwas nicht zu kümmern.

Die Sportler hatten in der Zwischenzeit ihre Trainingsjacken abgestreift und standen in ärmellosen T-Shirts beisammen, um ihre Oberarmmuskeln spielen zu lassen und sich scherzhafte Bemerkungen zuzuwerfen. Sie weitereiferten um Bewunderung.

Gisela sollte heute als erste klettern und bekam vom Kursleiter Bastian das Seil gereicht. Doch anstatt den Sicherheitsgurt umzulegen, krümmte sie sich und jammerte: „Mir ist schlecht. Ich glaube, ich habe heute Morgen etwas Falsches gegessen.“

„Hab ich es euch nicht gesagt!“, bemerkte Cynthia deutlich hörbar. „Alles nur Gerede, von wegen Kletterrekord.“

Jurek sah zu Boden, die anderen feixten. Gisela wünschte sich, ganz woanders zu sein. In diesem Moment bedauerte sie zutiefst, dass Alexa keine Hexe war. Sie hätte sie auf Knien angefleht, sie sofort in einen Karpfen zu verwandeln und in den Weiher zu werfen.

Und Alexa, die einen guten Platz hatte, um alles verfolgen zu können, fühlte sich bestätigt: Engelsgleiche Schönheiten brachten grundsätzlich Ärger. Sie beschloss, Gisela mit einem kleinen Hilfezauber unter die Arme zu greifen.

Gisela versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Angetrieben von Cynthias Bemerkung, setzte sie den ersten Fuß auf die Felsenstufe, nachdem sie den Gurt auf Bastians unfreundliche Aufforderung hin widerwillig angelegt hatte. Unmotiviert griff sie nach einem Eisenring und zog sich langsam und ebenso lustlos auf den ersten Felsvorsprung. Jeder Knochen ächzte. Am liebsten hätte sie aufgegeben. Wie sie es überhaupt beim letzten Mal geschafft hatte, die Wand zu besteigen, würde sie ihr Leben lang nicht begreifen.

Sportlehrer Bastian trieb sie an. „Na Gisela, dann zeig mal unseren Zuschauern, zu welchen Leistungen unser Schlusslicht fähig ist!“

Zu gar keiner, dachte Gisela und fühlte sich wie an die Wand genagelt.

„Dieses Talent muss zum Glänzen gebracht werden“, sagte Bastian freundlicher.

Wollte er sie veräppeln? Von welchem Talent sprach er? Dem Talent, sich lächerlich zu machen? Zaghaft fragte Gisela: „Darf ich aufhören?“

„Na-na-na, so schnell geben wir aber nicht auf, Gisela, nicht wahr?“ Bastians Brust schwoll vor Stolz an. „Ich habe dich für die Freeclimbing-Meisterschaft angemeldet.“

Gisela verschluckte sich und hustete erbärmlich. Aber nicht in diesem Leben!

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, grinste Bastian selbstgefällig und erwiderte: „Doch, doch, meine Beste. Ich habe heute Morgen bereits alles telefonisch geregelt. Du bist dabei und wirst unsere Schule vertreten.“

Das einzige, was ich mir gleich vertreten werde, ist mein Fuß. Gisela starrte nach unten, keine fünfzig Zentimeter trennte sie vom sicheren Boden. Wenn doch nur diese Höhenangst nicht wäre. Ich werde jetzt einfach runterspringen und so tun, als ob ich mir den Fuß verstaucht hätte. Genau, und ich bin raus aus dem Spiel. Bis zum Ende des Schuljahres.

Gisela war noch dabei, sich zu überlegen, wie genau sie springen musste, damit es schlimm aussah, als Alexa ihre Hände hob und flüsterte: „Tinne-tann und tanne-tinn, wie ich eine Hexe bin, steigen in dir hoch die Säfte, erlangen deine Beine Kräfte.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, hörte man von überall her leises Rascheln und hohes Fiepen. Erstaunt steckte Alexa ihren Kopf durchs Blätterdach und versuchte herauszufinden, was geschehen war.

Cynthias spitzer Schrei durchbrach das allgemeine Gemurmel, bis dann auch Lara, Mona und Sabine hysterisch loskreischten.

Tausende von weißen Mäusen sausten, aufgestachelt durch die gellenden Schreckensrufe der Mädchen, durchs Gebüsch, an der künstlichen Felswand vorbei und versuchten sich in irgendwelchen Nischen und Ritzen zu verstecken.

Cynthia und die anderen Mädchen tanzten schreiend auf der Stelle, damit nur keine Maus ihre Beine hochkletterte. Auch Bastian hob die Beine, als ob er den Tanz der wilden Kosaken üben wollte. Jurek war wie Clemens die Wand hinaufgeklettert und beobachtete die Mäuse von oben, wie auch Gisela, die sich nicht von der Stelle rührte. Alles in allem war es spektakulär, was gerade geschah. Etwas Besseres hätte Gisela nicht passieren können. Sie brauchte nicht klettern, sie hatte sich nicht lächerlich gemacht, nur blieb eine Frage: Woher kamen diese armen Viecher? Sie waren rotäugig, hatten keine Schwänze und ihre Ohren waren zerfranst.

Gisela suchte die Baumkronen ab. Sie konnte Alexa ausfindig machen, die, blass wie ein Laken, das Gewimmel unter sich verfolgte. Während die anderen so schnell wie möglich davonpreschten, kletterte sie die Felswand hinauf und ließ sich neben ihre Klassenkameraden auf der Kante nieder. Ihre Höhenangst hatte sie komplett vergessen. Ihr Blick fiel auf Clemens. „Du trägst keinen Sicherheitsgurt.“

Clemens zuckte die Achseln. „Jurek auch nicht.“ Sein Blick war nach wie vor auf den Boden geheftet.

Gisela sah Jurek an. „Hast du keine Angst?“

Jurek lächelte. „Doch“, erwiderte er, und sie fühlte sich das erste Mal an diesem Tag unglaublich leicht.

Alexa und das Zauberbuch

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