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Kapitel 2

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ie Ärztin schaut ihn aufmunternd an. Maik will ihr den Kater eigentlich nur in die Hände drücken und sofort wieder verschwinden. Aber er kann nicht anders, ihr Blick mit den faszinierenden Augen zieht ihn magisch an. Als würde seine verstorbene Frau ihn anschauen. Verwirrt reißt er sich aus den Tiefen ihrer Augen. Wie lange hatte er sie wohl angestarrt? Obwohl der Alkohol seine Sinne stark benebelt hat, ist es ihm peinlich.

»Kommen Sie herein, aber halten Sie das arme Tier gut fest.«

»Aber ich,» … erwidert Maik zögernd.

»Na kommen Sie schon rein!«

Zögerlich steigt Maik auf die herausgeklappte Stufe des Wohnmobils, der Duft von Desinfektionsmitteln schlägt ihm entgegen.

»Keine Angst, ich beiße nicht.« Sie lächelt ihn an, während sie ein Handtuch auf der Tischplatte ausbreitet. »Es sieht so aus, als würde es dem armen Tier gar nicht so gut gehen. Legen Sie ihn bitte auf den Tisch.«

Maik atmet ihren Fliederduft ein, wie er den hechelnden Kater umständlich auf der Tischplatte ablegt. Am liebsten hätte er jetzt in seine Tasche gegriffen und sich einen großen Schluck aus seiner Flasche gegönnt. Aber es ist ihm in diesem Moment irgendwie unangenehm.

»Übrigens, ich heiße Nicole, Nicole Voss»

Sie hält ihm ihre Hand hin. Maik ergreift sie zögernd und spürt ihren festen Händedruck. Er lässt sie schnell wieder los, als hätte er sich verbrannt. Scheinbar erwartete sie, dass er sich ebenfalls vorstellen würde, aber er denkt gar nicht daran. Sie zuckt mit den Schultern und schaut sich das Tier genauer an.

»Wenn Sie wollen, dass Ihr Kater überlebt, dann muss er sofort in eine Tierklinik gebracht werden.«

»Es ist nicht mein Kater«, erwidert Maik stur, »ich habe ihn nur gefunden.«

»Das ist mir egal. Es sieht nicht gut aus mit ihm, er muss sofort in eine Tierklinik, am besten nach Hofheim.«

»Okay, dann bringen Sie ihn nach Hofheim.« Maik wendet sich der Tür zu, um zu gehen.

»Warten Sie, Sie können jetzt nicht so einfach von hier verschwinden. Wenn ich dem Kater helfen soll, dann müssen auch Sie mir helfen. Alleine kann ich ihn nicht fahren, weil ich leider keinen Transportbehälter für Kleintiere dabei habe. Setzen Sie sich bitte und halten Sie Ihren Kater fest, damit er beim Fahren nicht vom Tisch fällt.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, er ist nicht mein Kater«, erwidert Maik etwas zu schroff. Seine Hände zittern, er braucht jetzt dringend etwas von seinem Alkohol.

»Setzen Sie sich«, erwidert sie energisch und deutet auf die Sitzbank am Tisch.

Maik ist über sich selbst verwundert und schluckt eine harte Erwiderung herunter. Aber diese Augen, sie erinnern ihn so sehr an Laura. Er kauert sich widerstrebend auf die Bank, nimmt den Kater und legt ihn auf seinen Schoß. Die Ärztin beobachtet ihn, schlüpft anschließend durch den Zwischenraum der beiden vorderen Sitze, telefoniert mit der Tierklinik und startet den Motor. Maiks Gedanken schweifen ab.

Er denkt zurück an die Zeit, in der er viele Monate wegen eines Unfalls, bei dem er sein Gedächtnis verloren hatte, im Koma auf der Intensivstation verbringen musste.

Nur blitzartige Erinnerungsfetzen tauchen bei ihm nach und nach wieder auf.

Nach zwanzigminütiger Fahrt vom Schiersteiner Hafen zur Tierklinik in Hofheim parkt Nicole Voss ihr Fahrzeug auf dem großzügigen Parkplatz ein und öffnet Maik, der das kranke Tier in seinen Armen trägt, von außen die Seitentür. Am Empfang wird ihnen der Kater von einer Tierärztin und dem Personal abgenommen und nach ein paar klärenden Worten ziehen sie sich in die Notaufnahme zurück. Maik begibt sich nach draußen und setzt sich auf eine der für Herrchen und Frauchen bereitgestellten Bänke.

Ihm ist übel. Sein Alkoholpegel ist abgesackt und seine Hände zittern. Aus dem Augenwinkel sieht er Nicole Voss kommen, die sich kurz darauf neben ihn setzt. Maik starrt vor sich zu Boden und zieht seine Kappe tief in die Stirn.

»Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt«, hört er sie sagen.

Maik antwortet nicht, die Zementplatten am Boden scheinen ihn mehr zu interessieren.

»Sie sind Maik, richtig?«

Maik ist überrascht. Woher weiß sie das? Er wirft ihr einen neugierigen Blick zu.

»Sie sind der einäugige Maik. Einige meiner Patienten haben mir von Ihnen erzählt.«

Maik räuspert sich. »So? Was erzählt man sich denn über diesen Maik?«

»Es wird gesagt, dass der Einäugige sich schützend vor hilflose Menschen stellt, wenn diese bestohlen oder überfallen werden. Es wird erzählt, dass er einmal hinter einem Mann hergelaufen sein soll, der seinen Hund im Rhein ertränken wollte. Er stutzte ihn zurecht und gab ihm selbst das Rheinwasser zu saufen.«

Maiks Hände zittern. Er leckt sich über die spröden Lippen. Ihm ist es unangenehm, er mag solche Lobhudeleien nicht. Der Alkoholpegel in seinem Blut ist mittlerweile wieder auf einem Tiefstand. Er muss sich schleunigst den Rest seines Whiskeys einverleiben.

Nicole Voss blickt ihn fragend an. Aber anstatt ihr zu antworten, steht er auf und geht mit steifen Gliedern zur Toilette der Klinik. Herrchen und Frauchen, die mit ihren Haustieren auf ihren Termin warten, erkennen direkt den Obdachlosen in ihm und werfen ihm argwöhnische Blicke zu. Aber das ist ihm egal. Er stößt die Tür zum Vorraum der Toilette auf und betrachtet sein Konterfei in dem über dem Waschbecken hängenden Spiegel. Ein armseliger Obdachloser mit einer schmutzigen Kappe auf dem kahlen Schädel stiert ihn mit einem Auge an. Die hässliche Narbe, die von der Stirn bis fast zum Mundwinkel reicht, wird nur teilweise von seiner Augenklappe bedeckt. Seine Hand gleitet in die Manteltasche. Er tastet gierig nach der Flasche Jim Beam, umschließt sie mit bebenden Händen und setzt sie an.

Plötzlich macht sich Ekel in ihm breit, Ekel vor sich selbst. Der Whiskey brennt an seinen rissigen Lippen und rinnt an seinem Kinn herab in den Halsausschnitt. Er reißt die Flasche von seinem Mund und schleudert sie neben das Waschbecken in den Papierbehälter. Das Glas zerbricht mit einem hässlich klirrenden Geräusch. Alkoholdunst weht ihm entgegen und unter dem Papierkorb bildet sich eine Whiskeylache. Das Zittern seiner Hände überträgt sich auf seinen gesamten Körper. Ihm wird schlecht. Maik saugt keuchend Luft in seine Lungen. Ein Schwächeanfall überkommt ihn, er muss sich auf das Waschbecken stützen. Kurz darauf geht es ihm schon wieder besser und er stakst, als würde er unter Trance stehen, wieder hinaus zur Bank, auf der Nicole Voss sitzt und das Ergebnis der Tierärztin abwartet.

Kritisch betrachtet sie ihn, als er sich neben sie setzt und ihr dabei eine Alkoholfahne entgegenweht.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«, fragt sie ihn, als hätte sie das von ihm erwartet.

Maik erwidert nichts. Warum auch.

»Was sind Sie für ein Mensch? Sie sind ein obdachloser Trinker, sind selbst nicht gesund und sorgen sich um eine kranke Katze? Sie haben Mitleid mit Lebewesen, was hat Sie nur so aus der Bahn geworfen?«

Maik hat überhaupt keinen Bock darauf, über sein Leben zu philosophieren. Das, was er erlebt hat, geht sie einen feuchten Dreck an. Sie wäre die Letzte, der er erzählen würde, warum er seine Träume in Alkohol zu ertränken versucht, in denen die beiden Leichen ihn Nacht für Nacht im Traum aufsuchen, wie sie ihm zuwinken und zuflüstern, dass er zu ihnen kommen soll. Der Gedanke daran lässt ihn wieder einmal erschauern. Er schließt sein Auge. Bilder tauchen in ihm auf, Bilder von Körpern, die in einem Auto am Grunde des Rheins, wie Algen im Meer, gemächlich hin und her wogen. Wie sie ihn mit ihren toten Augen vorwurfsvoll anblicken, wie aus ihren zum Biss geöffneten und von Algen überwucherten Mündern nadelspitze Zähne herausragen. Wie tote Glubschaugen sich auf einmal mit Leben füllen und ihn unvermittelt anstarren, zu Fischen werden, die moränengleich aus ihren Höhlen schnellen, um ihm mit ihren Zähnen die verbrannte Haut vom Körper nagen zu wollen.

Hilf uns, schreien die Leichen ihn jedes Mal vorwurfsvoll an. Warum hilfst du uns nicht?

Schweiß rinnt von Maiks Stirn.

»Sie möchten nicht darüber reden, stimmt’s? Geht es Ihnen nicht gut?«

Nicoles Stimme holt ihn aus seinen Gedanken und er wird jäh aus seinem Wahn gerissen. Maik schluckt einen dicken Kloß herunter. Er kann ihr in seiner jetzigen Verfassung unmöglich antworten. Diese Frau bringt in völlig durcheinander. Er will aufstehen, fortlaufen und sich völlig besaufen, er kann diese Tagträume nicht länger ertragen.

Die Tierärztin erscheint, sie trägt den Kater in einem Karton, der mit Luftlöchern versehen ist.

»Er hat ein Herzproblem und benötigt diese Medikamente. Ich habe ihm bereits eine Spritze injiziert, die sollte fürs Erste genügen.« Sie hält ihr eine Packung hin. »Und weil die Intensivstation für heute überbelegt ist, müssen sie den Kater wieder mitnehmen und morgen noch einmal vorbeischauen, falls sich sein Zustand verschlimmern sollte« versteht Maik noch, bevor er sich abwendet und dem Gespräch nicht weiter folgt, weil er sowieso nichts davon versteht.

Als Nicole Voss kurz darauf mit dem Karton bei ihm auftaucht und ihm übergibt, um mit ihm zu ihrem Fahrzeug zu gehen, zögert er kurz.

»Steigen Sie ein, ich fahre Sie wieder zurück.«

Sie öffnet die Tür zum Behandlungsraum im Fahrzeug und Maik stellt den Karton mit dem Kater hinein. Dann geht sie um das Fahrzeug herum, startet den Motor und wartet darauf, dass Maik die Tür schließen würde. Aber der ist verschwunden. Nicole steigt wieder aus und verriegelt die Tür selbst. Sie erwägt, nach ihm zu rufen, überlegt es sich aber anders und fährt ohne ihn los.

Maik beobachtet aus dem Schatten der Klinik heraus das in der Ferne immer kleiner werdende Wohnmobil. Maik kennt in der Nähe eine Tankstelle. Dort würde er sich gewiss eine Dröhnung besorgen können. Er macht sich auf den Weg und hofft, dass dieser Ekel ihn nicht wieder übermannen wird. Er erwirbt dort zwei Flaschen, eine davon ist nach den ersten Schlucken bereits halb leer und sein erbärmliches Zittern flaut ab. Er spricht einen Truckfahrer mit Wiesbadener Kennzeichen an, der ihn glücklicherweise in der Nähe des Schiersteiner Hafens absetzt. Er könnte in eines der Boote klettern, die zur Reparatur oder Wartung auf dem Gelände der Bootsverleiher aufgebockt auf ihre Überholung warten. Aber ein alter Freund hatte ihm vor einiger Zeit erlaubt, auf dessen Boot zu übernachten, falls er mal nichts anderes finden sollte und er haust jetzt schon einige Tage darauf herum. Die Anlegestege dort werden zwar durch Tore gesichert, aber Maik weiß, wo der Schlüssel von einem der Stege zu finden ist. Für die nächsten Stunden wird er ein Dach über dem Kopf haben und genügend Alkohol, um seine schrecklichen Träume darin zu ersäufen.

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst

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