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Kapitel 4

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aik vernimmt ein kratzendes Geräusch. Er richtet sich auf, dabei rollt eine leere Whiskeyflasche von seinem Bauch, um mit einem dumpfen ›Klock‹ auf den hölzernen Schiffsboden zu fallen. Seine Zunge liegt wie ein Stück faulendes Fleisch in seinem Mund und sein Kopf dröhnt wie nach einem AC/DC Konzert.

Die zugezogenen Gardinen schwingen hin und her. Das kleine Kajütboot, auf dem er genächtigt hat, schaukelt unruhig auf dem Wasser des Hafenbeckens. Wirre Träume und ein Geräusch haben ihn aufschrecken lassen. Er lauscht. Er hört die Wellen, die an die Außenwand des Bootes plätschern und wahrscheinlich durch ein vorbeifahrendes Schiff ausgelöst wurden.

Schwindel und Übelkeit überfallen ihn. Da! War da nicht wieder dieses Geräusch? Tatsächlich, jetzt hört er deutliche Schritte auf den Planken. Jemand ist an Bord. Vielleicht der Eigentümer des Bootes? Das wäre natürlich in Ordnung, er hatte ja seine Erlaubnis, hier zu übernachten, aber ist es nicht ein bisschen zu früh für einen Besuch? Vielleicht ist es aber auch ein Einbrecher? Hier würde es für ihn allerdings nichts zu holen geben. Hatte er nach seiner Ankunft etwa vergessen, das Tor des Anlegers, auf dem der Hafen-Brunnen und das alte Vermietschluppchen stehen, hinter sich abzuschließen? In dem Zustand heute Nacht wäre das kein Wunder, so besoffen wie er war. Er schwingt sich aus der Koje und tritt dabei gegen die leere Flasche, die daraufhin bis an die Bordwand kullert. Maik wird es plötzlich schwindelig. Wieder hört er diese Geräusche. Er öffnet lautlos die Tür, um vorsichtig hinauszublicken. Es ist noch dunkel und er sieht kaum etwas. Er vernimmt, wie kleine Wellenberge unregelmäßig gegen die Bootswand klatschen. Er setzt einen Fuß auf das holzbeplankte Oberdeck und hebt die leere Whiskeyflasche an, die er als Waffe in der Hand hält, als er einen Schatten am Bug erkennt.

»Was haben Sie hier zu suchen?«

Das Boot beginnt jäh zu schaukeln, wie der Unbekannte sich ihm zuwendet und sich dabei an der Reling festhalten muss, um nicht zu stürzen. Er antwortet nicht.

»Was haben Sie hier zu suchen? Wer sind Sie?«, wiederholt Maik seine Frage.

Der Schatten verliert das Gleichgewicht, und wenn er nicht in die Hocke gegangen wäre, dann wäre er jetzt rücklings über Bord gefallen.

»Ich habe es nicht gewusst, ehrlich«, lallt der Fremde mit weinerlicher Stimme, erhebt sich mit wackligen Beinen und streckt einen Arm aus.

Maik erwartet einen Angriff und holt ebenfalls mit seiner Whiskeyflasche aus. Er ist zwar ein Krüppel, aber nicht kampfunfähig. Der unbekannte Mann führt die Flasche an seinen Mund und nimmt einige tiefe Züge. Maik entspannt sich etwas. Eine groteske Situation, in der beide eine Flasche in der Hand halten. Wie bei einem Zechgelage, sie brauchten sich nur noch zuzuprosten.

»Was haben Sie nicht gewusst«, raunt Maik seinem Gegenüber gefährlich ruhig zu und lässt seinen erhobenen Arm langsam sinken, wie er bemerkt, dass ihm keine unmittelbare Gefahr droht. »Dass Sie auf dem falschen Boot sind?«

Der Fremde verleibt sich in tiefen Zügen den Schnaps ein.

»Sie sind ja völlig betrunken, Mann. Was wollen Sie?« Maik wird es allmählich zu bunt.

»Erinnerst du dich nicht an mich?«, lallt der Fremde.

Maik kann den Typen kaum verstehen.

»Tut mir leid, aber ich kenne Sie nicht. Und jetzt verschwinden Sie von hier.« Maik deutet auf die Laufplanke. »Dort können Sie das Boot wieder verlassen!«

Aber der Fremde streckt ihm seine Flasche entgegen.

»Erinnerst du dich wirklich nicht an mich? Ich bin wohl etwas fülliger geworden und trage einen Bart. Ist ja auch schon ein paar Jahre her.«

Maik hat jetzt das Gefühl, dass er die Stimme schon einmal gehört hat. Ist das nicht Ronny? Ronny Kuhlmann?

»Ronny?«, fragt Maik ungläubig. Ronny war ein ehemaliger Kollege von ihm. Er war einer von denen, der den anderen stets die gefährliche Arbeit überließ, selbst aber immer die Lorbeeren einheimsen wollte. Er hat ihn noch nie leiden können.

»Ich habe nicht gewusst, dass er sie töten wollte. Er hat es billigend in Kauf genommen, dass sie dabei sterben würden. Es sollte nach einem Unfall aussehen und du solltest dabei ebenfalls sterben.« Theatralisch streckt er seinen Arm mit der Flasche aus, wobei Alkohol aus dem Flaschenhals spritzt. »Ich weiß jetzt, was für ein Schwein er ist, und deswegen will ich nichts mehr damit zu tun haben.«

»Du bist ja völlig betrunken, Mann. Womit willst du nichts mehr zu tun haben? Erzähl mir jetzt endlich, mit was du nichts mehr zu tun haben willst!«

Maik nervt es, er hasst es, mit Betrunkenen zu reden, die in Selbstmitleid zerfließen und nicht auf den Punkt kommen wollen.

»Es ist fünf Jahre her, seit deine Familie tot ist. Ihr wolltet zu einem Arzt fahren, du warst aber wegen eines kurzfristigen Einsatzes verhindert. Er hat es wie einen Unfall aussehen lassen.«

Maik atmet schwer. Natürlich weiß er das noch. Es hat sich wie Säure in sein Gehirn eingefressen, nur dass es kein Arzt war, zu dem sie wollten, sondern ein gottverdammter Tierarzt. Anschließend wollten sie den Nachmittag noch für einen Trip in die Fasanerie nutzen, dem Tier- und Pflanzenpark, in dem die beiden Rehkitze Max und Moritz aufgepäppelt wurden, die bei einem Autounfall aus dem Bauch des Muttertieres gerissen und auf die Straße geschleudert wurden.

»Eigentlich solltest du getötet werden, Maik.« Ronny reißt ihn aus seinen Gedanken.

Maiks Körper beginnt zu zittern. Was sagt Ronny da? Maiks Ohren rauschen. Seine Worte klingen dumpf, als hätte jemand seinen Kopf mit Watte vollgestopft.

»Er wollte dich töten, Maik. Dass deine Familie dabei auch draufgeht, interessierte ihn nicht. Bei deinem späteren Crash ging es dann auch schief, Mario hatte dich ja noch rechtzeitig aus dem brennenden Auto herausziehen können.«

Maik ist fassungslos. Was Ronny ihm da gerade mitteilt, ist im Moment zu ungeheuerlich für ihn.

»Er lässt dich beobachten, seitdem du aus dem Koma erwacht bist, auch von mir. Er will mit dir ein Spiel spielen«, lallt er mit schwerer Zunge. »Aber auf einmal ist er so merkwürdig.«

Ronny nimmt einen ordentlichen Schluck aus seiner Flasche, setzt sie wieder ab und stiert ihn aus gläsernen Augen an. Fusel rinnt an seinem Mundwinkel herab. Ganz in der Nähe vernimmt Maik auf dem Wasser einen leise, blubbernden Außenborder eines Bootes.

»Wer ist das, der mich töten will?« Maik meint, unvermittelt einen unruhigen roten Lichtpunkt an Ronnys Kopf aufleuchten zu sehen, er kann sich aber auch getäuscht haben.

»Ich werde es dir gleich sagen, du würdest es sowieso niemals rauskriegen«, stammelt er. »Dieses Arschloch. Ich habe es ihm ins Gesicht gesagt, dass ich bei so was nicht mehr mitmachen werde. Vielleicht wird er jetzt auch Ivo auf mich loslassen, aber das ist mir scheißegal.«

»Wer will mich töten?«, wiederholt Maik seine Frage.

Wieder taucht ein rotleuchtender Punkt an Ronnys Schläfe auf. Plötzlich spritzt Blut aus dessen Schädel. Ronny kippt rückwärts über die Reling, die Flasche Fusel entgleitet seiner Hand und scheppert auf die Decksplanken. Maik vernimmt, wie sein Körper auf die Wasseroberfläche des Hafens aufschlägt. Über ihm knallt es trocken, daraufhin hört er einen schmerzhaften Aufschrei. Maik blickt nach oben und fast gleichzeitig trifft ihn ein heftiger Schlag gegen die Schläfe. Seine Kappe trudelt davon. Er wird durch die Wucht der Kugel über die Reling geworfen, etwas zippt noch schmerzhaft zwischen seinem Arm und seinen Rippen hindurch. Maik taucht ohne Besinnung in den kalten Fluss. Sein Mantel saugt sich voll und zieht ihn in die Tiefe. Wasser dringt in seinen Mund und in seine Nase, er spürt das aber nicht. Bilder seiner ertrunkenen Frau und Tochter flackern in ihm auf.

Maik! Lauras Stimme ist unvermittelt in seinem Kopf.

Sie liegen zusammen in ihrem Bett und sie hat ihren Kopf auf seine Brust geschmiegt. Ihre langen Haare kitzeln an seiner Nase.

Schläfst du schon?

Er will schlafen, eine unsägliche Müdigkeit erfüllt ihn. Maik möchte erwidern, dass sie ruhig sein soll, dass er nur noch schlafen möchte, aber er hat auf einmal schreckliche Atemnot. Die Luft, die er einatmen will, ist dick und zäh wie Brei. Lass mich ihn in Ruhe, will er sie anschreien, doch er bekommt keinen Ton heraus.

Von der Zimmerdecke regnen plötzlich mächtige Wassertropfen auf ihn herab. Lauras Kopf wird von seiner Brust gespült.

Maik, du darfst jetzt nicht einschlafen, schreit sie ihn an. Sie springt auf und schlägt ihm mit der flachen Hand mehrmals ins Gesicht. Er ist wütend, will sie von sich reißen und ihre Handgelenke fassen, aber er kann sich nicht bewegen.

Maik, wir müssen gleich zum Tierarzt, die Katzen müssen geimpft werden! Sie schlägt ihm mit der linken, dann mit der rechten Hand ins Gesicht.

Maik vernimmt unvermittelt den Klingelton seines Handys:

Die Liebe macht uns stark

Der Regen, der zunächst von der Zimmerdecke tropfte, steigert sich allmählich zu einem Wasserfall.

… uns nichts zu trennen vermag

Irgendwie kann Maik nach seinem Handy greifen, aber alles wirkt so unreal.

… wir lieben uns so sehr,

ganz fest und immer mehr.

Er hört, wie eine Frauenstimme zu ihm spricht, versteht aber nichts von dem, was sie sagt. Er will ihr antworten, aber das Schlafzimmer ist von Wasser geflutet, es strömt ihm in Mund und Nase.

Maik, wach auf!

Lauras Stimme holt ihn endlich aus tiefster Besinnungslosigkeit. Er erkennt, dass er zu ertrinken droht und schlägt panisch mit seinen Armen und Beinen um sich. Er spürt etwas Schlammiges unter seinen Füßen und stößt sich mit aller Kraft ab, um im letzten Moment die Wasseroberfläche zu erreichen. Maik hustet und kotzt Wasser. Mit hektischen Armbewegungen schwimmt er über der Wasseroberfläche und die nasse Kleidung droht ihn immer wieder in die Tiefe zu ziehen. Er konzentriert sich. Was war geschehen?

Schlagartig wird ihm bewusst, dass auf sie geschossen wurde, auf Ronny und ihn. Maik sieht sich um. In etwa hundert Metern dümpelt ein Schlauchboot auf den Wellen. Ein Scheinwerfer gleißt jetzt dort auf und taucht das Kajütboot, in dem er genächtigt hatte, in grelles Licht. Der Lichtkegel wandert über die Wasseroberfläche und kommt ihm gefährlich nah. Rechts von sich erkennt Maik die Anlegestelle. Er holt tief Luft und bevor der Schein der Lampe ihn erreicht, ist er untergetaucht. Der Mantel, der wie eine zweite Haut an ihm klebt, behindert ihn, aber er kann ihn jetzt unmöglich ausziehen. Kurz darauf rauschen die Antriebspropeller eines Außenborders über ihn hinweg. Hastig taucht Maik weiter und hofft in der Nähe des Ufers anzukommen, aber viel Sauerstoff ist ihm nicht geblieben. Das brausende Geräusch der Schiffsschrauben entfernt sich. Mit letzter Kraft taucht Maik weiter, seine Lungen scheinen bersten zu wollen.

Weiter, weiter, nur noch ein paar Meter, brüllt es in ihm. Sein Selbsterhaltungstrieb setzt ein. Er muss jetzt sofort auftauchen und Luft holen! Jetzt sofort! Er stößt mit seinen Händen gegen einen Pfeiler, schnellt hoch, reißt seinen Mund auf und schnappt pfeifend nach Luft. Gott sei Dank, er hat eine der Bootsanlegestellen erreicht. Maik kann gerade noch erkennen, wie das Boot in Richtung Dyckerhoff-Brücke verschwindet. Er muss jetzt schleunigst aus dem kalten Wasser heraus, schwimmt an eine in den Rhein ragende Stahlleiter heran und klettert daran hoch. Dann überwindet er irgendwie den Zaun des Anlegers, um auf der anderen Seite erschöpft liegen zu bleiben.

Maik friert fürchterlich. Starke Kopfschmerzen plagen ihn. Er tastet nach seiner Schläfe, wo seine Haut eine hässliche Furche bekommen hat. Eine Narbe mehr oder weniger, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, geht es ihm sarkastisch durch den Kopf. Aus einem Riss am Ärmel seines Mantels sickert Blut hervor. Er zieht ihn aus und erst jetzt spürt er seine schmerzenden Rippen. Ein Streifschuss, die Kugel war zwischen Arm und Rippen hindurchgefahren und hat dabei Fleisch von den Knochen gerissen. Blut läuft ihm auch von der Schläfe hinab und tropft auf seinen Ärmel.

Oh Ronny, welchen Namen wolltest du mir nur nennen?

Maik muss schleunigst von hier verschwinden und seine Verletzungen behandeln lassen. Ihm fällt die Ärztin ein, vielleicht steht sie ja zufällig bei der Barke.

Er friert und seine höllisch schmerzenden Rippen plagen ihn. Sein Kopf dröhnt, als würden die Glocken von Rom seinen Abschied einläuten. Er schleppt sich mühsam die Hafenstraße entlang und lehnt sich erschöpft an eine der mächtigen Platanen. Um die Blutung zu stillen, hat er sich seinen Mantel unter den Arm auf die Wunde geklemmt. Das Blut, das ihm mit Wasser verdünnt durch das Hosenbein in den Stiefel rinnt, läuft aus den Löchern der Sohle wieder hinaus.

Ronnys Worte gehen Maik wieder durch den Kopf.

»Er wollte dich töten«, hatte dieser zu ihm gesagt.

Zweimal sollte Maik schon von ihm ermordet werden, heute war es das dritte Mal. Erst jetzt wird ihm das gesamte Ausmaß so richtig bewusst. Ronny war damals die undichte Stelle im LKA gewesen. Er hatte Maiks Ermittlungen verraten. Wer ist diese Person, die ihn töten will? Maik rutscht langsam an der Platane, an die er sich rücklings angelehnt hat, herab. Hier hatten sie sich fotografieren lassen, damals, als sie geheiratet hatten. Laura wollte in ihrem Hochzeitskleid fotografiert werden, hier, in der Nähe der Barke, wo sie gefeiert hatten, erinnert er sich. Was hatten sie für einen Spaß gehabt. Maik lächelt wehmütig. Eigentlich hatten sie damals gar nicht vor zu heiraten. Aber wie das Leben eben immer so spielt. Sie lernten sich zufällig am Ufer des Rheins kennen, wo Maik mit seiner Clique am Lagerfeuer saß, an den Saiten seiner Gitarre zupfte und den Song ›Hurt‹ von Johnny Cash sang. Laura spazierte zufällig mit einer Freundin vorbei, sie blieben stehen und lauschten Maiks Musik. Sie hockten sich auf einen Baumstamm, der dort irgendwann einmal ans Ufer geschwemmt worden war. Laura war fasziniert von seiner Stimme und seinem Gitarrenspiel. Sie sagte ihm später einmal, dass ihr Tränen in den Augen standen, nachdem er ›Hurt‹ gesungen hatte. Sie kamen ins Gespräch und verabredeten sich auf einen Kaffee. Aus diesem Kaffee wurde mehr. Als er ihr offenbarte, dass er bei der Kripo sei, war sie zuerst etwas skeptisch. Aber dann legten sich ihre Bedenken. Sie meinte, er würde mit seinem Job für die Menschen ja auch viel Gutes tun, und wenn ein Mensch sich für etwas entschieden hat, wofür er brennt, dann muss er das auch tun. Sie war nicht der Typ Frau, die jemandem ihre Meinung aufzwingen wollte, er möge aber vorsichtig sein, denn wenn ihm etwas passieren würde, dann würde sie es nicht überleben.

Wenn er abends später als sonst nach Hause kam und sie schlaflos im Bett lag und auf ihn wartete, tat sie ihm jedes Mal unendlich leid.

Aber dann wurde ihre Tochter Denise geboren und Maik kümmerte sich liebevoll um beide. Er brachte Denise das Gitarrenspielen bei und Laura schaute glücklich zu, wenn Denise das neu Erlernte auf der Klampfe zum Besten geben konnte. Eines Tages, als er nach Hause kam, hörte er die beiden den abgeänderten Song ›Hurt‹ leise singen, wobei Denise sie mit der Gitarre begleitete. Maik bekam eine Gänsehaut, als er dem abgeänderten Text lauschte:

Die Liebe macht uns stark

uns nichts zu trennen vermag

wir lieben uns so sehr

ganz fest und immer mehr.

Er vernahm Lauras sanfte Stimme:

Uns wird nie etwas trennen

für immer wir vereint

mein Herz beginnt zu brennen

wenn mein Kindlein weint.

Denise begleitete sich selbst beim Gitarrenspiel und Maik hörte dann ihre glockenzarte Mädchenstimme:

Ich liebe euch so sehr

euch beide Tag für Tag

ich geb´ euch nicht mehr her

was auch geschehen mag.

Tränen steigen Maik ins Auge, wie er daran zurückdenkt. Sie hatten das Lied aufgenommen und ihm den Speicherstick geschenkt. Er trägt ihn immer bei sich, wasserdicht verpackt, in der Hosentasche. Er hatte sich ihren Song direkt als Klingelton auf sein Smartphone gespeichert.

Maik tastet nach seiner Wunde am Kopf. Er versucht einen klaren Gedanken zu fassen und überlegt, ob sein damaliger Partner Mario wirklich der Maulwurf beim LKA gewesen sein könnte. Aber sicher ist er sich nicht. Ihm fällt der Anruf wieder ein, kurz bevor er mit seiner Familie zum Tierarzt fahren wollte. Eine Frauenstimme berichtete ihm, dass sie einen Kinderschänder entdeckt habe, der sie früher missbraucht haben soll. Allerdings hätte sie noch keine Beweise dafür und man würde ihr keinen Glauben schenken, weil der Täter eine angesehene Persönlichkeit in Wiesbaden sei. Sie war völlig verängstigt und wollte sich direkt mit ihm treffen. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, aber sie versetzte ihn.

Maik rappelt sich wieder hoch. Ein Presslufthammer bahnt sich einen Weg durch seinen Kopf, Tränen schießen ihm ins Auge. Mittlerweile ist die Sonne vollends aufgegangen. Einige Jogger blicken misstrauisch zu ihm herüber, kümmern sich aber nicht weiter um ihn. Manche haben ihn wohl schon öfter hier völlig betrunken gesehen, wie er durch die Platanenallee torkelte. Jetzt wirkt es nicht anders. Er presst seinen Mantel wieder unter den Arm und wankt zur Barke. Als er dort eintrifft, verlassen ihn seine Kräfte und er stürzt zu Boden. In der Ferne hört er die Kirchenglocken läuten, Begleitmusik für die eigene Beerdigung, geht es ihm lakonisch durch den Kopf. Er hebt den Blick und erkennt das umgebaute, mit Graffiti besprühte Wohnmobil am Straßenrand. Maik mobilisiert seine letzten Kräfte und zieht sich an einem abgestellten Fahrzeug hoch. Der Motor der mobilen Ambulanz wird gestartet und eine Rußwolke schlägt ihm entgegen. Er stolpert mehr als er läuft, und als er der Länge nach hinstürzt, erreicht er mit der flachen Hand gerade noch das Heck des Fahrzeugs. Das Wohnmobil macht noch einen Satz nach vorne, die Bremslichter leuchten auf und es kommt ruckartig zum Stehen. Nicole Voss springt heraus und gleich darauf vernimmt er ihre aufgeregte Stimme.

»Sie Maik? Mein Gott, hab ich Sie angefahren?«, fragt sie völlig aufgelöst, als sie seinen erbärmlichen Zustand erkennt.

Behutsam zieht sie den durchnässten Mantel unter ihm hervor und erkennt seine blutenden Verletzungen.

»Das sind ja Schusswunden!«, meint sie besorgt. »Sind Sie überfallen worden? Mein Gott, Sie müssen sofort in die Notaufnahme.«

»Nein, nicht ins Krankenhaus. Sie sollen denken, ich sei tot!«, keucht Maik.

»Wer soll denken, dass Sie tot seien?«

»Nicht in die Klinik!«, erwidert er völlig erschöpft.

Es gelingt ihm, sich etwas aufzurichten.

»Helfen Sie mir, Nicole, bitte!«

Maik hat das Gefühl, sich in einem sich immer schneller drehendem Karussell zu befinden. Ihm wird speiübel.

»Nicht in eine Klinik! Bitte!«

Nicole Voss unterstützt Maik so gut sie kann beim Aufstehen. Sie legt seinen unverletzten Arm über ihre Schulter und weiß später nicht mehr zu sagen, wie sie ihn ins Fahrzeug und auf die Liege bugsiert hatte. Maik ist währenddessen in eine wohltuende Ohnmacht gefallen. Sie holt seinen Mantel von der Straße und sucht nach seiner Kappe, die sie aber nicht finden kann. Dann sieht sie sich um, ob sie beobachtet worden sind, aber es fällt ihr nichts auf. Allerdings schaut sie nicht nach oben, denn sonst hätte

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst

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