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Prolog

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F

lauschige Fallschirmchen stiegen an diesem sonnengefluteten Frühlingstag von den Kappen der Pusteblumen auf, als Lisa mit ihrer fünfjährigen Schwester Lea ausgelassen über die Blumenwiese tollte. Einige von ihnen landeten auf Leas pinkfarbenen Ballerinas, weitere streiften ihr weißes, kurzärmeliges Kleidchen, verweilten einen Augenblick, um purzelnd davon zu schweben. Lea sah den Schirmfliegersamen fasziniert hinterher, die vom lauen Wind davongetragen wurden. Einen dieser putzigen Samenträger blies sie von ihrem bloßen Arm. Sie schaute ihm nach, wie er sich wieder in den vorbei wehenden Schwarm eingliederte.

Lea freute sich schon sehr auf das Picknick. Lisa auch, aber aus einem anderen Grund als ihre Schwester.

Ein leichter Schauer lief ihr den Rücken herab, als sie sich die nächsten Minuten vorstellte. Sie hatte sich diese Situation oft vorgestellt und sogar davon geträumt. Aber, kommt da nicht der Hauch eines Zweifels in ihr auf? Ist da etwas in ihr, das ihr etwas sagen will? Lisa lächelt. Nein, da ist nichts!

Der intensive Duft frisch gemähten Heus strömte von einer Nachbarwiese herüber und löste in ihr ein angenehmes entspannendes Gefühl aus. Nun würde ihr Wunsch endlich wahr werden.

Die beiden Geschwister waren vorausgelaufen und hatten ihre Eltern weit hinter sich gelassen.

Das war ein Teil von Lisas Plan.

Lea folgte einem hin- und herflatternden Schmetterling. Ihr Haar wallte bei jedem ihrer Schritte und schimmerte golden in der Sonne. Sie kicherte vergnügt und war voller Lebensfreude.

Die neunjährige Lisa machte sich nichts aus schicken Klamotten. Sie bevorzugte eher schwarze Kleidung und trug eine Latzhose, dazu passende Chucks und ein dunkles T-Shirt. Das perfekte Outfit für diesen Tag.

Die Geschwister empfanden ein großes Glücksgefühl. Lisa, weil sie sich ihrem Ziel näherte, und Lea, weil sie mit ihrer älteren Schwester, die ihr sonst immer nur Schmerzen zufügte, endlich mit großem Spaß herumtollen durfte. Lisa musste sich sputen, um den Tag für sich noch fantastischer ausklingen lassen zu können. Sie wendete sich um, um zu sehen, ob Lea ihr folgte, und winkte ihr aufmunternd zu. Leas Gesicht war vor Begeisterung gerötet. Sie freute sich schon lange auf das Picknick und lachte vergnügt.

Lisa lächelte. Lea vertraute ihrer vier Jahre älteren Schwester grenzenlos.

Warum auch nicht?

Lea lief prompt in ihre Schwester hinein, weil sie aus heiterem Himmel stehen blieb. Beide kullerten zu Boden. Lea rollte noch ein Stück weiter und hielt sich kichernd die Hand vor den Mund.

Dein süßes Lachen wird dir noch vergehen, dachte Lisa, als sie sich wieder aufgerappelt hatten.

Sie näherten sich ihrem Ziel bis auf ein paar Meter. Lisas Herz klopfte bis zum Hals. Es rauschte und säuselte in ihren Ohren. Sie dachte einmal mehr daran, wie sie mit ihrer Schwester im Garten gesessen hatte. Sie aßen Mamas leckeren Kirschkuchen. Lisa lobte ihn, wie gut er doch schmecken würde. Aber ihre Mutter reagierte überhaupt nicht. Sie beachtete sie nicht einmal. Ihr Interesse galt dem kleinen, putzigen Mädchen mit den Zöpfen, das ja erst laufen gelernt hatte und dem der mit Kirschen verschmierte Mund abgeputzt werden musste. Dann tätschelte sie ihr auch noch liebevoll den Kopf.

Lisa war wütend darüber. Sie rammte ihrer kleinen Schwester in einem unbemerkten Moment die Kuchengabel an den Kopf, genau dorthin, wo die Mutter sie zuvor liebkost hatte.

Es war eigenartig erregend für sie. Eine merkwürdige Last fiel von ihr ab und sie war auf einmal wie befreit.

Sie führte die blutüberströmte Schwester, der das Blut in die Augen lief und nichts sehen konnte, zu ihrer Mutter und erzählte ihr, dass sie in einen Stacheldrahtzaun gefallen sei.

Lisas Mundwinkel zuckten spöttisch, als Lea indessen einer Heuschrecke hinterhersprang. Sie winkte Lisa zu. Die hob eine Hand leicht an und lächelte.

Zwei Schritte noch, dann ist es soweit.

Lisa hatte ihren Vater einmal beim Reparieren ihres ramponierten Zaunes, der von einem Auto gerammt worden war, beobachtet und sich die Werkzeuge – Hammer, Seitenschneider, Säge und Nägel – gemerkt.

»Wer zuerst am Zaun anschlägt ist Sieger«, rief Lisa ihr mit honigsüßem Schmelz in der Stimme zu. Schlage aber sanft an, fügte sie in Gedanken hinzu, sonst passiert vielleicht ein Unglück.

Lea rannte los. Freudestrahlend schlug sie als Erste gegen den Bretterzaun, der den gefährlichen Abhang absicherte und den Lisa Tage zuvor mit dem Werkzeug ihres Vaters bearbeitet hatte.

Von einem Moment auf den anderen war Lea mitsamt dem Zaun von der Bildfläche verschwunden. Sie hatte nicht einmal einen Schrei ausstoßen können.

Es war still um Lisa. Sie wurde sich nicht ihrer eigenen, erregten Atemzüge bewusst. Sie war enttäuscht. Das ging alles so schnell. Hatte Lea geschrien, oder war sie stumm hinabgestürzt?

Wie in einem Rausch näherte sie sich der Stelle, an der vor wenigen Augenblicken ihr kleines Schwesterchen den Zaun berührt hatte.

Gebannt starrte sie den Abhang hinab und entdeckte Lea tief unten mit verrenkten Gliedmaßen.

In Lisas Blick lag kein Mitgefühl, nur gefühllose Kälte. Das geschah ihr recht, ihr freundliches Gehabe würde ihr endlich erspart bleiben. Vorbei war das übertriebene Getue ihrer Eltern. Jetzt war sie die Nummer eins in der Familie. Die kleine Süße, die immer wieder bevorzugt behandelt wurde, gab es nicht mehr.

Sie würde jetzt nicht mehr um Zuneigung betteln müssen.

Sie hörte nicht die panischen Angstschreie ihrer Eltern, die die Situation aus der Ferne hilflos mit angesehen hatten und atemlos bei ihr aufgetaucht waren.

Voller Entsetzen erreichten sie den manipulierten Zaun. Tief unten erblickten sie ihre jüngste Tochter.

Ein Luftzug kam auf. Er brachte den herrlichen Duft frisch gemähten Heus mit sich und erfasste Lisas brünettes Haar. Sie lauschte in sich hinein, aber die wispernde Stimme hatte aufgehört zu ihr zu sprechen.

In ihren Ohren säuselte nur noch der Wind.

*

Manch einer befindet sich auf der Sonnenseite des Lebens, wenn er seinen Weg geht und sich von niemandem beirren lässt.

Egal was geschieht!

Der Weg kann einfach sein, manchmal aber auch sehr beschwerlich und so können nützliche Abkürzungen geradezu in die Irre führen.

Wie du deinen Weg auch gehen wirst, er führt auf einem schmalen Grat entlang.

Manchmal spürst du Gegenwind.

Er kann lau sein. Dann spiele mit ihm.

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst

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