Читать книгу Schlafe mein Kind, bevor du stirbst - Axel Lechtenbörger - Страница 9

Kapitel 1

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chweißgebadet erwacht Maik Stahl aus seinem Albtraum. Diese Szenen würde er niemals aus dem Kopf bekommen. Sein intaktes rechtes Auge blinzelt in das Licht der aufgehenden Sonne.

Sein Brustkorb hebt und senkt sich, es rasselt wie ein löchriger Blasebalg. Sein Herz schlägt in seinem Kopf wie ein Vorschlaghammer, der von innen heraus seine Schädeldecke knacken will. Maik verzieht das Gesicht. Der widerliche Gestank von Erbrochenem löst Brechreiz in ihm aus. Er wischt sich mit dem Ärmel seines heruntergekommenen Ledermantels durch das entstellte Gesicht, tastet über die tiefe Narbe, die das verbrannte Gesicht am verlorenen Auge in zwei Hälften teilt. Unter seinen Fingerkuppen fühlt er die Augenklappe, die die zerklüftete Höhle bedeckt.

Er kann sich an den Unfall, bei dem er sein Auge und sein Gedächtnis verlor, nicht erinnern.

Diese Albträume überfallen ihn stets, sobald der Whiskeypegel in seinem Blut zu sinken beginnt. Er spürt einen Druck auf seiner Brust und schlägt die schmutzige Decke zur Seite, um seinen hageren Körper aufzurichten.

Er erstarrt. Ein grünes Augenpaar blickt ihn unverwandt an.

Eine Katze. Sie liegt auf seiner Brust. Sie scheint nicht die Absicht zu haben, sein Gesicht zerkratzen zu wollen, dazu wirkt sie zu schwach.

»Was machst du denn hier, hast du kein Zuhause?«, hört er eine Stimme krächzen, die seine zu sein scheint.

Maik hat mit seinem vertrauten Freund, dem Alkohol, wie so oft die Nacht verbracht und den üblen Geschmack von Urin im Mund. Er weiß nicht, wo er sich befindet, aber die Gegend kommt ihm bekannt vor. Ächzend setzt er sich etwas auf, sodass das kraftlose Tier haltlos in seinen Schoß rutscht. Maik ahnt, dass sie krank oder verletzt ist.

Aber wie kam sie zu ihm? Hatte er sie vergangene Nacht vielleicht irgendwo aufgelesen? Er weiß es nicht mehr, kann sich aber nicht vorstellen, dass sie sich so einfach auf seine Brust gelegt hatte. Aber das Tier ist hübsch. Es hat ein hellgraues Fell, einen buschigen Schwanz und lange Beine mit weißen Stiefelchen. Der Größe nach zu urteilen muss es ein Kater sein.

Vorsichtig schiebt er ihn mit seinen nachtklammen Händen in das vom Frühtau überzogene Gras, wo er lethargisch liegen bleibt. Er greift nach seiner im Gras liegenden Kubacap und stülpt sie sich umständlich über den kahlen Schädel, wobei er peinlichst darauf achtet, dass sie sein halbverbranntes Ohr bedeckt.

Maik wuchtet seine Einmeterfünfundneunzig hoch und wischt klebrigen Sand und Grashalme von seiner verwaschenen Bluejeans. Er putzt seine ehemals braunen und schiefgelaufenen Drifter Stiefel an den Hosenbeinen ab. Dass er dabei seine Hose versaut, ist ihm egal.

Maik weiß jetzt, wo er sich befindet. Er schaut zur Dyckerhoffbrücke hinüber, die die Hafeneinfahrt des Schiersteiner Hafens bis zur Bismarcksaue überspannt und die ihn stets magisch anzuziehen scheint. Dort trifft er manchmal auf seinesgleichen, die hinunterspringen wollen, weil sie dieses Leben nicht mehr ertragen. Aber Maiks Meinung nach taugt die Brücke nicht dazu, sich das Leben zu nehmen. Einige überleben den Sprung, manche ertrinken dabei, weil sie nicht schwimmen können, und werden anschließend wie Exkremente in einer Kloschüssel vom Rhein fortgespült.

Leblos und blass, kalt und nass.

Kein schöner Reim. Er hatte dort oben gestanden, um hinabzuspringen. Aber er ist ein zu guter Schwimmer.

Er hatte sich ein Seil aus einem alten Kahn besorgt, eine Schlinge geknotet, es am Geländer vertäut und sie sich um den Hals gelegt. Dann hatte er eine Flasche Whiskey auf ex geleert und war in die Tiefe gesprungen. Er erwachte mit schrecklichen Halsschmerzen in einer Klinik, denn das modrige Seil war gerissen. Ein Skipper der DLRG-Station, der ein Boot kontrollieren wollte, hatte beobachtet, wie er im Wasser landete, und ihn noch rechtzeitig herausziehen können. Seitdem ziert eine wulstige Narbe seinen Hals. Schöne Scheiße! Danke dafür!

Sich mit Unmengen von Alkohol totzusaufen, gefällt ihm daher schon viel besser. Maik weiß nicht, worauf er noch warten soll, es gibt nichts mehr für ihn zu tun auf dieser Welt.

Er betrachtet das hechelnde Fellbündel. Warum soll er sich mit dieser kranken Kreatur belasten? Er hat mit sich selbst doch schon genug zu tun. Er seufzt und geht in die Hocke. Sein linkes Bein, an dem er vor fünfeinhalb Jahren einen offenen Splitterbruch erlitten hatte und gerade so an einer Amputation vorbeigerauscht war, schmerzt dabei. An seinem anderen Bein, an dem das Feuer nur das Muskelgewebe verbrannt hatte und nichts mehr schmerzte, weil die Nerven tot waren, umspannte pergamentene Haut seine Knochen.

Er packt den Kater im Nacken und nimmt ihn hoch in seine Arme. Maik kann ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Weiß der Teufel, wie er in diesem Zustand auf seiner Brust zu liegen kam. Vielleicht würde er ja unterwegs eine Stelle finden, an der er ihn zurücklassen konnte und ihn jemand finden würde. Er hat schließlich anderes zu tun, als Kindermädchen zu spielen.

Sechs Jahre sind seitdem vergangen, als Katzen schon einmal eine Rolle in seinem Leben gespielt haben.

Man fand sie tot im Rhein, zusammen mit zwei Leichen, im Innenraum eines Autos.

Leblos und blass, kalt und nass.

Sie wollten zu einem Tierarzt, um die Katzen gegen irgendetwas impfen zu lassen. Er weiß nicht mehr wogegen. Es ist ihm jetzt auch scheißegal.

»Einfach nur zum Impfen«, flüstert er der aufsteigenden Sonne entgegen. Als würde sie das interessieren. »Hey mein Lieber«, murmelt er dem nach Sauerstoff ringenden Tier zu, »was hast du nur für ein Problem?«

Der Kater hechelt apathisch den schmutzig braunen Ärmel seines Mantels an.

Maik setzt sich auf eine der Holzbänke, die hier an der Uferpromenade stehen und auf denen er schon oft seinen Rausch ausgeschlafen hat. Er setzt den Kater auf seinen Schoß ab und schlägt die Decke so um ihn, dass er noch genügend Luft bekommt. »Ich sollte dich einfach hier liegen lassen, Kumpel. Irgendwann wird sicherlich jemand vorbeikommen und dich mitnehmen.« Er legt den Kater auf der Bank ab, zückt die halbvolle Whiskeyflasche aus seiner Manteltasche, schraubt den Verschluss ab und lässt den Alkohol die Kehle herabrinnen, der ihm schier die Speiseröhre zu verbrennen scheint.

»Ich habe mit mir schon genug zu tun. Im Gegensatz zu dir trage ich meine Medizin ständig am Körper.«

Er verschließt die Flasche und lässt den billigen Fusel wieder in seine Manteltasche gleiten. Die Sonne hinter ihm hatte sich mittlerweile etwas weiter nach oben geschoben. Maik betrachtet seinen in die Länge gezogenen Schatten auf dem Gehweg, der sich nun aufrichtet und fortschleicht. Maik vernimmt das armselige Hecheln des Katers. Unsicherheit macht sich in ihm breit. Was ist, wenn ihn niemand finden wird? Die nächsten Stunden würde er wohl kaum überleben.

Das in die Länge gezogene Schattenmonster vor ihm verharrt jäh.

Vielleicht wäre es doch besser, wenn ich dich irgendwo abgeben würde?, meldet sich sein Gewissen. Maik kann es nicht übers Herz bringen und ihn sich selbst überlassen. Ihm fällt ein, dass ganz in der Nähe hin und wieder eine mobile Ambulanz steht, die Obdachlose versorgt. Eine junge Ärztin, die armseligen Pennern ihre Hilfe anbietet. So eine Weltverbesserin. Vielleicht steht sie wieder an der Barke. Sie könnte ja mal nach dem Kater sehen und er wäre ihn wieder los.

Maik folgt der Hafenstraße, und obwohl der Kater so ausgehungert wirkt, liegt er schwer in seinen Armen.

Es ist früh am Morgen. Maik nimmt einen weiteren Schluck Whiskey und lässt die fast geleerte Flasche unbeholfen in der Manteltasche verschwinden. Vor ihm taucht das Speiselokal Barke auf, bei dem sich die weltverbessernde Ärztin gelegentlich aufhält. Tatsächlich steht dort ein buntes, mit Graffiti besprühtes Krankenmobil auf der Straße.

Maik klopft an eines der mit Gardinen verhangenen Fenster. Die Ärztin, die jung und attraktiv sein soll, kennt er nur vom Hörensagen. Ihn interessiert das aber nicht die Bohne. Wozu auch? Hübsche Frauen sind für ihn uninteressant und vor allem unerreichbar. Er braucht keine Frau, wer würde sich auch schon für ihn interessieren, für einen in Selbstmitleid zerfließenden, körperlichen und seelischen Krüppel?

Im Fahrzeug poltert es. Unvermittelt schwingt die Tür auf und ein Blondschopf schaut heraus.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, sagt er. »Kann ich Ihnen helfen?«

Ein strahlender Blick himmelblauer Augen trifft ihn. Die Frau lächelt ihn freundlich an. Grübchen bilden sich in ihren Wangen.

Maik ist beeindruckt, obwohl er stark angetrunken ist. Er hält ihr den Kater hin. »Können Sie vielleicht etwas für ihn tun?«

*

Auch wenn man schon sehr tief gesunken ist und alles um sich herum verdammt, befindet sich tief im Innern immer noch eine Spur von Mitleid, auch wenn man es selbst nicht wahrhaben will.

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst

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