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Ich hatte das Aussehen meines Gastgebers nicht mehr klar vor Augen. Die Ereignisse der letzten Nacht sind nichts, woran ich mich gerne zurückerinnere. Aber als er vor mir steht und zur Seite tritt, damit ich an ihm vorbei durch den engen Korridor und in sein Zimmer gehen kann, fällt mir wieder ein, wie er Asbjørn festhielt. Wie der Kraftaufwand seinem Gesicht erst kurz bevor er ihn wieder losließ anzumerken war. Dabei sieht er alles andere als muskulös, sondern hager, beinahe dünn aus. Auch sein Gesicht ist schmal, mit hohen Wangenknochen, auf denen gerötete Flecken leuchten und die den Rest seines Gesichts noch blasser erscheinen lassen.

Er nimmt mir die Schale mit Eintopf und den Löffel ab, während ich mich umsehe. Wie die anderen Räume des Hauses besitzt auch dieser Altbauwände, die sich weit genug hinauf zur Zimmerdecke erstrecken, sodass man problemlos darin mit Kegeln jonglieren könnte, die aber jetzt im Winter bestimmt elendig schwer zu heizen sind.

Dennoch ist es in dem Raum so warm, dass mir sofort der Schweiß ausbricht. In dem gusseisernen Ofen in der Ecke neben dem Eingang lodert ein Feuer, das mit einer Schmiedeesse konkurrieren könnte. Die Flammen werfen einen unruhig zuckenden Schein über die Fensterscheiben und spiegeln sich leuchtend orange vor dem dunklen Hintergrund. In der Finsternis dahinter erkenne ich kaum mehr als die Lichter der Straßenlaternen und vereinzelte Lampen in den Fenstern der Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Wie hältst du bloß diese Hitze aus«, sage ich über die Schulter hinweg, während ich mich im Raum umsehe. »Ich könnte keine Nacht hier drin verbringen.«

»Ich hab’s gerne warm«, entgegnet Geir, der bereits im Stehen den Löffel in die Schale getaucht hat, um sich über den dampfenden Inhalt herzumachen.

»Warm ist was anderes. Das hier ist eine verdammte Sauna.«

Obwohl er Maler ist, sehe ich kaum Bilder an den Wänden, dafür dominiert eine Reihe von hohen Bücherregalen den Raum. Sie verleiht ihm das Aussehen eines Studierzimmers. Neben einem wuchtigen Schreibtisch aus massivem, dunklem Holz steht eine Staffelei, auf der sich ein Bild von fast zwei Metern Länge und einem Meter Breite befindet. Was es darstellt, kann ich jedoch nicht erkennen, weil Geir ein braunes Leinentuch darüber geworfen hat. Eine weitere, geschlossene Tür am anderen Ende des Raums führt vermutlich zu seinem Schlafzimmer.

Ich lasse mich in einem Korbsessel nieder, der weit genug vom Ofen entfernt steht, und ziehe meinen schwarzen Pullover aus, bevor ich völlig von Schweiß durchtränkt bin.

»Ich mag Extreme«, erklärt Geir mir. Er hat sich mit der Essensschale in seinen Schreibtischstuhl gesetzt und fällt wie ausgehungert über den Eintopf her. »Auf storm.no haben sie für die nächsten Tage eine Kältewelle angekündigt«, fährt er kauend fort. »Es wird bis minus 15° geben. Das kommt auch in Oslo nicht oft vor.«

»Stimmt. Da, wo ich herkomme, erlebst du so ein Wetter im Januar ständig.«

»Also halte ich hier drinnen das Gegenprogramm ab.« Er stellt die bereits halbleere Schale auf der Tischplatte ab und lehnt sich mit einem Lächeln in seinem Stuhl zurück. »Feuer und Eis.«

Die beiden Worte erinnern mich an etwas. Das gestrige Gespräch mit Siri flammt wie das Blitzlicht einer Kamera in meinem Gedächtnis auf. Ich sehe uns in Odds Wohnung auf der Couch sitzen. Sie sagt –

»Du kennst dich mit den alten Sagen aus, nicht wahr?«

Er blickt nicht überrascht, nur interessiert.

»In Feuer und Eis ist die Welt entstanden, so erzählen es die nordischen Mythen«, sagt er langsam, beinahe feierlich. Seine Augen glänzen im flackernden Schein der Flammen. »Und in Feuer und Eis wird sie wieder untergehen. In einer Version der Geschichte ist es ein jahrelanger entsetzlicher Winter, in einer anderen Version setzt der Feuerriese Surtr am Ende der Götterdämmerung die Welt in Brand.«

»Ich kenne die nordische Mythologie«, sage ich.

»Aber es ist nicht die deines Volkes«, erwidert er in nüchternem Ton, wie um eine Tatsache festzustellen.

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Meine Vorfahren haben nicht an Odin und Freya geglaubt. Ich kann mit den Geschichten um die nordischen Götter nicht so viel anfangen, es ist nicht meine Kultur. Trotzdem –«

Ich halte inne und blicke zum Ofen hinüber. Die Stehlampe in der Ecke rechts neben dem Fenster ist heruntergedimmt, das Zimmer liegt bis auf den Schein des Feuers im Dämmerlicht. Hinter der Glasscheibe facht der schwache Windzug die Flammen an und lässt das Holz laut knacken.

»Aber ich mag es, wie in den nordischen Mythen Naturgewalten beschrieben werden«, fahre ich fort. »Etwa Feuer und Eis. Wie diese beiden elementaren Kräfte im Abgrund Ginnungagap aufeinandertreffen und so das erste Wesen entsteht.«

»Der Urriese Ymir«, sagt Geir. Seine Stimme klingt rau. Für den Moment scheint er sein Abendessen ganz vergessen zu haben.

»Das sind starke Bilder«, sage ich. »Echte Bilder, die etwas in den Menschen auslösen, weil sie etwas mit der Natur zu tun haben, die sie umgibt. Ein Mythos wie der von Feuer und Eis konnte nur in einem Land der Extreme entstehen. Einem Land, in dem im Sommer an manchen Orten die Sonne kaum den Horizont berührt und ein halbes Jahr später die Dunkelheit des Winters regiert.«

Ein Lächeln überzieht Geirs Gesicht. Es kommt mir vor, als hätte ich einen Test bestanden.

»Du arbeitest gerne mit diesen mythologischen Bildern, nicht wahr?«, sage ich. »Wie mit dem Abbild von Sleipnir auf einem Motorrad.«

Er grinst. »Ah, Siri hat dir davon erzählt.«

»Hat sie. Wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«

»Über diesen Auftrag und einen gemeinsamen Freund. Er hat Odd erzählt, dass er jemanden kennt, der mit Airbrush arbeitet. So habe ich vor Jahren überhaupt mit dem Malen angefangen, noch vor der Kunsthochschule. Inzwischen übernehme ich nur noch selten Auftragsarbeiten, aber ich hab das Geld gebraucht, und Odd hat versprochen, mir nicht reinzureden, solange er am Ende nur seinen Sleipnir auf dem Motorrad bekommen würde.«

Ich trete vor das verhängte Bild auf der Staffelei. »Aber das ist keine Auftragsarbeit, oder?«

Geir schüttelt den Kopf.

»Kann ich es mir ansehen?«

Er zögert kurz, dann brummt er eine Zustimmung und schnappt sich erneut die Schale mit dem Eintopf. Ich ziehe das Leinentuch herab.

Der Anblick trifft mich völlig unvorbereitet. Bei dem Gedanken von Airbrush auf einem Bike hatte ich irgendwas Kitschiges erwartet, so etwas wie einen Adler im Sonnenuntergang, den Mist, den man auch auf den Wohnmobilen der holländischen Touristen sehen kann, wenn sie im Sommer Richtung Nordkap durch die Finnmark fahren. Aber das … verdammt, Geir ist gut.

Der Baum, den ich vor mir sehe, füllt das komplette Bild aus. Die Perspektive ist etwas verschoben, so dass es wirkt, als ob man von dicht am Boden, nahe dem Stamm, nach oben in die Krone blicken würde, die weit über dem Betrachter den Himmel verdunkelt und dem herabfallenden Sonnenschein einen tiefgrünen Stich verleiht. Der Baum ist fotorealistisch dargestellt, aber das Spiel aus Licht, Schatten und Farben verleiht dem Bild eine Tiefe, die eine Fotografie schwerlich erreichen würde. Zwischen seinen halb im Boden vergrabenen Wurzeln ist im Dunkel des Waldbodens die Bewegung eines breiten, echsenartigen Körpers zu erahnen. Auf halber Höhe den Stamm hinauf Richtung Krone ändert sich immer wieder der Farbton, beinahe, als würden die ausladenden Äste und Zweige kaum sichtbare Sphären in sich aufnehmen und mit einem eigenen Licht erfüllen.

Wie von fern, aus einem Nebenraum oder von einem anderen Stockwerk her, höre ich Geirs Löffel beim Essen gegen die Schale klirren. Bestimmt beobachtet er meine Reaktion auf sein Gemälde. Er sagt weder etwas, noch erklärt er, und das muss er auch nicht. Das Bild spricht für sich. Es gibt nur einen einzigen Baum wie diesen. Jeder, der etwas über nordische Mythologie gelesen hat, kennt ihn.

»Yggdrasil«, murmle ich verhalten.

»Die Achse der Welt«, erklingt Geirs Stimme hinter mir.

Ich drehe mich zu ihm um. »Das … das ist großartig.«

»Danke. Aber es ist noch längst nicht fertig.«

»Für mich sieht’s perfekt aus.«

Er lächelt. »Dann bin ich vielleicht auf dem richtigen Weg.« Er erhebt sich aus seinem Stuhl und tritt zu mir vor das Bild. Ich beobachte die kaum merklichen Bewegungen seiner Augen, ahne, wie sein kritischer Blick über die Leinwand wandert, wie er in Gedanken am Stamm des gewaltigen Baums emporreist, von den sich tief ins dunkle Erdreich grabenden Wurzeln bis zu der sich in den Himmel reckenden Krone.

»In der Religion deiner Vorfahren gibt es ähnlich starke Naturbilder, nicht wahr?«, sagt er mit einem Mal. Er wendet sich mir zu. »Warum bist du vom Polarkreis hierhergekommen, Sara?«

Ich antworte nicht.

»Du hast Asbjørn gestern Nacht etwas gesagt.«

»Ich war betrunken und völlig von der Rolle«, erwidere ich ausweichend, aber Geir ist niemand, der sich so leicht mit einer Antwort wie dieser abspeisen lässt.

»Du hast gesagt, dass du hier in Oslo jemanden suchst.«

»Geir …«

»Und dass du ihn umbringen wirst, wenn du ihn gefunden hast«, fährt er leise, aber unerbittlich fort.

»Das … das war Gerede, um den Wichser zu beeindrucken.«

»Erzähl mir keinen Scheiß. Ich hab dir in dem Moment in die Augen gesehen. Du hast es genau so gemeint.«

»Es ist eine persönliche Angelegenheit.«

»Komm schon, quid pro quo.« Er bückte sich, hebt das Leinentuch auf und hängt es sorgfältig wieder über das Bild. »Ich hab dich schließlich auch etwas ziemlich Persönliches sehen lassen. Normalerweise zeige ich anderen keine unfertigen Bilder.«

Ich betrachte die verhängte Staffelei, den braunen Stoff, der ein atemberaubendes Stück Kunst versteckt. Auf einmal ist der Wunsch, es jemandem zu erzählen, beinahe so physisch spürbar wie ein Druck auf der Blase.

»Vor … vor zwei Monaten ist mein Bruder gestorben«, sage ich langsam. Meine eigene Stimme hört sich merkwürdig fremd und verhalten in meinen Ohren an. Ich komme mir vor, als müsste ich nach Worten suchen, um das Ungeheuerliche, das passiert ist, in eine Form zu gießen. Aber es gibt keine angemessenen Worte für meinen Verlust, dafür, dass Atle für immer fort ist.

Geir sagt nichts, zum Glück. Er wartet ab. Ich habe den Anfang gemacht, einem Fremden von meinem Bruder zu erzählen. Jetzt muss ich auch weitermachen, ob ich will oder nicht. Alles andere wäre nicht fair.

»Jemand hat ihn mit einem Messer erstochen. Auf einem Parkplatz, hinter einer Bar in Alta. Der einzige Zeuge ist ein Junkie. Er hat etwas von einer Kneipenschlägerei erzählt, hat behauptet, dass es eine Rangelei zwischen zwei Betrunkenen war. Der Mann, der meinen Bruder erstochen hat, ist davongelaufen. Man hat ihn bis heute nicht gefunden. Die Polizei war nicht besonders motiviert, den Fall aufzuklären. Zwei besoffene Samen, die sich prügeln, und einer steht nicht mehr auf. Wen kümmert’s.«

Ich mache eine Pause. Die letzten Worte sind wie ein Wasserfall aus mir herausgesprudelt, beinahe wundere ich mich über mich selbst. Geir mustert mich aufmerksam, regelrecht fasziniert.

»Ich bin nach Oslo gekommen, weil ich denjenigen zur Verantwortung ziehen will, der an seinem Tod schuld ist. Ich glaube nicht an die Geschichte, die der Junkie der Polizei erzählt hat. Die Geschichte, dass er in eine zufällige Rauferei verwickelt war, die eskaliert ist, das ist bullshit. Jemand hat meinem Bruder aufgelauert und ihn absichtlich umgebracht.«

»Warum glaubst du das?«

»Er war politisch aktiv, jung und stinkwütend, wie viele von uns, und er hatte Kontakte zu anderen Samen, vor allem aus Schweden, die sich ebenfalls politisch engagieren. Die wollen es nicht mehr länger hinnehmen, dass die Regierung unser Volk nach Hunderten von Jahren immer noch benachteiligt und dass private Konzerne aus Russland und China unsere Lebensgrundlage, das Weideland für die Rentiere, immer stärker bedrohen.«

»Du denkst, dass es beim Tod deines Bruders nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.«

Ich stoße ein Seufzen aus. Das ist der Grund, warum ich so gut wie niemandem von meinem Verdacht erzählt habe. Es hört sich zu sehr nach der bescheuerten Verschwörungstheorie einer trauernden Schwester an. Siri weiß ein wenig, und jetzt dieser Mann, der mir gestern beigestanden hat, als Asbjørn mich die Treppe hinabstieß. Meine älteste Freundin und ein völlig Fremder.

»Ich habe keine handfesten Beweise«, sage ich, »nur ein paar Ungereimtheiten, kleine Details, die einzeln für sich genommen ganz unverfänglich wirken. Aber alle zusammen machen sie stutzig. Ich wollte den Zeugen der Schlägerei sprechen, wollte alles aus seinem eigenen Mund hören. Aber er ist verschwunden, kurz nachdem er seine Aussage bei der Polizei zu Protokoll gegeben hatte. Angeblich hat er sich plötzlich aus heiterem Himmel ein Flugticket nach Oslo besorgt. Allerdings weiß niemand, wo er sich aufhält, weder seine Freunde noch die paar Leute aus seiner Familie, zu denen er noch Kontakt hatte. Seitdem bin ich mir sicher, dass hinter all dem mehr steckt als ein Totschlag im Affekt.«

»Glaubst du, er hat sich abgesetzt?«

Ich nicke. »Ich bin mir sicher, dass ihn jemand dafür bezahlt hat, etwas von einer Kneipenschlägerei zu erzählen. Vielleicht hat er sich ausgerechnet, dass irgendwann jemand auftauchen würde, um bei ihm auf den Busch zu klopfen, was er wirklich gesehen hat. Oder er ist vor denen geflüchtet, die ihn zu seiner Aussage veranlasst haben. Jedenfalls ist er abgetaucht.«

»Weißt du, wie du ihn hier finden kannst?«

Ich zucke die Achseln. »Ich weiß nichts weiter als seinen Namen. Martin. Martin Engvik.«

»Das ist nicht gerade viel«, meint Geir skeptisch.

»Es wird reichen müssen. Was hat Asbjørn gestern Nacht zu mir gesagt? Oslo ist eine kleine Stadt. Ich muss Orte finden, an denen sich Leute, die an der Nadel hängen, ihren Nachschub besorgen oder ungestört spritzen.«

»Wenn du diesen Typen findest und er dir tatsächlich verrät, wer für den Tod deines Bruders verantwortlich ist – hast du wirklich vor, seinen Mörder umzubringen, wenn du ihn gefunden hast?«

Ich spüre Geirs prüfenden Blick auf mir, obwohl ich an ihm vorbei in die Dunkelheit jenseits der Fensterscheiben blicke, die sich für eine weitere Nacht über Oslos Häuser und Straßen gesenkt hat. »Das habe ich Asbjørn gesagt, um ihm Angst einzujagen«, erwidere ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Erst einmal will ich Martin Engvik finden. Ich will wissen, ob und wie tief er in den Mord an meinem Bruder verwickelt war. Und wer ihn dazu angestiftet hat, diesen Mist von einer Kneipenschlägerei zu erzählen. Von wem er das Geld bekommen hat, mit dem er sich aus Finnmark abgesetzt hat. Alles Weitere … ich bin nicht auf einem Rachefeldzug. Ich will Gerechtigkeit.«

Meinen letzten Worten folgt Stille. Ich höre sie in meinen Ohren nachhallen. Wie falsch sie klingen. Sie passen nicht zu dem Zorn, der mich überkommt, wenn ich an den jungen Mann denke, dem ich nie zuvor begegnet bin, den ich aber irgendwo in dieser Stadt aufspüren muss. Zu der weißglühenden Wut, wenn ich mich an die beschissenen Lügen erinnere, die er der Polizei erzählt hat, vor allem aber, wenn ich versuche, mir ein Bild von denjenigen zu machen, die ihn zum Lügen gebracht haben.

Ich weiß, dass es sie gibt.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Geir mir meinen letzten Satz ebenso wenig abnimmt wie ich mir selbst. Aber wenigstens hakt er nicht weiter nach. Je weniger sich andere in das einmischen, was ich in Oslo vorhabe, desto besser.

Ein lautes Klopfen an der Tür durchbricht das Schweigen zwischen uns.

»Ja?«, erhebt Geir die Stimme.

Die Tür öffnet sich, und eine beeindruckend attraktive Asiatin in ungefähr meinem Alter betritt das Zimmer. Ihr Gesicht könnte das Titelblatt eines Magazins wie Vogue oder Elle zieren. Sie nickt mir mit einem Lächeln zu, das den Raum sofort um mehrere Hundert Lux erhellt, und hält ihrem Mitbewohner einen Briefumschlag entgegen. »Jemand hat den hier für dich abgegeben.«

Geir nimmt den Umschlag entgegen und betrachtet ihn stirnrunzelnd. »Wer denn?«, will er wissen.

»Keine Ahnung«, entgegnet sie achselzuckend. »Ich hab den Müll rausgebracht, bin wieder ins Haus und hab ein Klopfen an der Haustür gehört. Der Brief lag auf der Türmatte.«

»Danke dir«, murmelt Geir.

»Keine Ursache!« Sie blickt mich an. »Bist du Sara?«

Ich nickte. »Ja, die bin ich.«

»Anja hat mir von dir erzählt. Ich bin Yuna. Ich wohne mit ihr in der dritten Etage.«

Sie schenkt mir erneut ein Scheinwerferlächeln und wendet sich zum Gehen. Kaum, dass sie das Zimmer verlassen hat, reißt Geir den Brief auf und zieht eine Postkarte aus dem Umschlag. Auf der einen Seite ist sie weiß und leer, auf der anderen sind einige handgeschriebene Zeilen zu sehen. Als er den Umschlag auf den Schreibtisch legt, sehe ich, dass nichts weiter als Geir auf dem Papier steht. Seine Augen bewegen sich schnell hin und her, als er die Zeilen auf der Postkarte liest, und eine Veränderung geht in seinem Gesicht vor: Es verliert alle Farbe, scheint einzufallen und zu altern. Der Mann vor mir sieht auf einmal wie sechzig aus.

»Hey, alles okay?« frage ich ihn.

Geirs Kopf, den er über die Postkarte gebeugt hat, ruckt hoch. Der winzige, unheimliche Augenblick, in dem ich einem alten Mann gegenüberstand, der eine schreckliche Nachricht erhalten hat, ist fort, als hätte es ihn nie gegeben. Dann öffnet Geir den Mund, und mir wird klar, dass der Moment immer noch unsichtbar im Raum hängt. »Ja, ja, alles ist in Ordnung«, sagt er schnell. Seine Stimme hört sich hohl an. Er wirft einen deutlichen Blick auf die Digitalanzeige der Uhr auf seinem Schreibtisch. »Aber ich muss dich jetzt leider rauswerfen. Ich hab heute noch eine Menge Arbeit zu erledigen.«

»Wenn es irgendwas mit der Nachricht da zu tun hat …«, sage ich, aber er wehrt sofort ab.

»Ich sag doch, alles okay. Nur einfach eine Menge Zeitdruck. Wenn man eine Ausstellung organisiert, dann ist auch immer ein Berg an Papierkram zu erledigen, und das schieb ich gern auf die Wochenenden.«

»Na gut«, sage ich zögernd und wende mich zum Gehen. Ich glaube ihm kein Wort. »Dann halte ich dich mal nicht länger auf.«

Ich habe bereits die Türklinke in der Hand, als er mich anspricht. »Eins noch, Sara: Du hast gesagt, dass du Orte suchst, an denen sich jemand wie der Mann aufhalten könnte, hinter dem du her bist. Frag mal die Sozialarbeiter von der Arche unten im Erdgeschoss, wenn das Café geöffnet hat. Die können dir bestimmt sagen, wo du Fixerstuben findest.«

»Danke dir für den Tipp«, antworte ich. An den Verein und dass seine Mitarbeiter mir helfen könnten, hatte ich bisher gar nicht gedacht. Geirs Hinweis freut mich, gleichzeitig bin ich verwirrt darüber, so unvermittelt von ihm hinauskomplimentiert zu werden.

»Die Gegenden, wo die Osloer Junkies ihr H kaufen, da kannst du es auch versuchen«, fährt Geir fort. »Ich weiß nicht genau, wo die heute sind, meine wilde Zeit ist schon ein paar Jahre her. Aber versuch es einfach mal am Hauptbahnhof, in der Gegend um den Tiger.«

»Danke dir«, sage ich noch einmal. Ich zögere, dann füge ich hinzu: »Pass auf dich auf, ja?«

»Na klar doch!«, gibt er zurück. Er wirft mir einen fragend-amüsierten Blick zu, als wüsste er mit meiner Bemerkung gar nichts anzufangen. Mir liegt die Frage auf der Zunge, was zum Teufel plötzlich mit ihm los ist, aber ich glaube nicht, dass er mir im Moment antworten würde. In Gedanken hat er sich bereits von mir verabschiedet.

Ich lasse Geir allein in seinem überhitzten Arbeitszimmer und trete in das kalte Treppenhaus. Noch einmal entsteht der Ausdruck, mit dem er den Brief gelesen hat, vor meinem inneren Auge. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, eisig wie eine schlechte Vorahnung.

Raubtierstadt

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