Читать книгу Raubtierstadt - Bernhard Stäber - Страница 5

Оглавление

Schnee taumelt in wenigen großen Flocken zwischen den Bäumen herab, die einzige Bewegung im beinahe völlig finsteren Dämmerlicht. Kein Windhauch regt die Zweige der dunkelgrünen Fichten und kahlen Birken. Die Stille ringsum ist so vollständig, dass Jarl Lohne den Tinnitus in seinen Ohren so deutlich wie das Zirpen von Grillen in Sommergras vernehmen kann.

Das beständige Hintergrundgeräusch begleitet ihn schon so lange, dass er nicht mehr genau sagen kann, wann es ihm zum ersten Mal aufgefallen ist. Vielleicht fing es vor fünf Jahren an, als er zusammen mit seinen Freunden Lars und Arild in Lars’ Scheune auf eine Reihe Bierflaschen feuerte. Es hatte in Strömen geregnet, die drei hatten gemeinsam eine Flasche polnischen Grasovka geleert, und keiner von ihnen hatte Lust darauf gehabt, sich zum Zielschießen hinaus in das Dreckswetter zu begeben. Natürlich hatte keiner von ihnen einen Ohrenschutz getragen.

Normalerweise fällt Jarl der Tinnitus gar nicht auf. Es sind immer viel zu viele andere Geräusche um ihn herum, hinter denen das hohe Sirren verschwindet. Jarl arbeitet im Zentrum von Oslo in der Anwaltskanzlei seines Onkels, Lohne & Magnussen. Tagsüber ist er die meiste Zeit von den beständigen Geräuschen der Großstadt umgeben, die er für gewöhnlich ebenfalls nur wahrnimmt, wenn er sich auf sie konzentriert. Aber hier, im frühwinterlichen Waldgebiet der Østfold zwischen Norwegen und Schweden, hört er keinen Laut – außer dem leisen Summen in seinen Ohren.

Er zuckt heftig zusammen, als er neben sich im Schnee eine Bewegung bemerkt. Der Mann, den er hierherführen musste, hat sich bestimmt eine halbe Stunde nicht gerührt, trotz der Kälte. Mehr als das: Er hat Jarl das Gefühl gegeben, er wäre alleine, als befände sich neben ihm nichts weiter als ein Stück Fels.

Der Mann mit dem eigenartigen Namen hat in die linke Tasche seiner dicken Fleece-Winterjacke gegriffen. Jetzt hält er in seiner Bewegung inne. Sein Kopf wendet sich langsam Jarl zu. Als Jarl den Mann vom Flughafen Oslo Gardemoen abgeholt und ihm zum ersten Mal in die Augen geblickt hat, haben sie in der Nachmittagssonne in einem leuchtend tiefen Blau geschimmert. Heute, drei Tage später, ist bereits die Nacht angebrochen, und die Augen des Mannes sind zwei dunkle Flecken in einem fahlen, langen Gesicht. Seine eigentlich vollen Lippen haben sich zu einem Strich zusammengezogen.

Jarl zuckt entschuldigend die Achseln. Er glaubt nicht, dass seine erschrockene Bewegung irgendein Tier aufgescheucht hat – dann hätte man etwas gehört. Selbst Schleichern gelingt es nicht immer, sich lautlos in einem völlig stillen Winterwald zu bewegen. Trotzdem kann es nicht schaden, dem Mann mit dem eigenartigen Namen gegenüber vorsichtig zu sein. Etwas stimmt nicht mit ihm. Der Mann ist irgendwie unheimlich.

»Verzeihung, Mr. Mithothin«, flüstert er kaum vernehmbar.

Sein Begleiter starrt ihn regungslos an, ohne etwas auf seine Entschuldigung zu erwidern.

Jarl weiß, dass der Mann nicht wirklich Mithothin heißt. Der Kollege seines Vaters aus London, der ihm den Kontakt vermittelte, hat gleich beim ersten Gespräch erwähnt, dass seinem Klienten Anonymität äußerst wichtig sei. Er hat Jarl nur einen Platzhalter genannt, wie Smith oder Miller. Der wirkliche Name des Mannes ist in dessen Jagdlizenz vermerkt, aber die hat Jarl nicht zu sehen bekommen.

Der eigenartige Name seines Begleiters weckt eine unbestimmte Erinnerung in ihm, die er nicht greifen kann. Der Mann spricht Englisch mit britischem Akzent, doch da ist etwas Skandinavisches in der Art, wie er redet. Jarl glaubt allerdings nicht, dass er einen Landsmann neben sich hat. Vielleicht ist er ein Schwede oder ein Isländer. Verdammt, er campt hier seit drei Tagen völlig allein mit einem bewaffneten Mann, den er überhaupt nicht kennt!

Mr. Mithothin mustert ihn weiter regungslos mit hartem Blick. Die beiden dunklen Augenflecke, die in dem gespenstisch bleichen Gesicht schwimmen, lassen Jarl an die Augenhöhlen eines Schädels denken. Auf einmal ist sein Mund staubtrocken. Er tastet unauffällig mit der linken Hand nach seiner Remington, die neben ihm auf der dicken Isomatte liegt. Die Berührung verspricht Sicherheit. Aber im selben Moment, als er das Holz des Griffs durch den Handschuh spürt, wendet der unheimliche Fremde neben ihm seinen Blick wieder von ihm ab. Erleichtert atmet Jarl aus. Er beobachtet, wie Mr. Mithothin ein kleines Nachtsichtgerät aus der Tasche zieht und es sich vor die Augen hält.

»Ich dachte, ich hätte direkt vor uns eine Bewegung wahrgenommen«, murmelt er, als würde er mit sich selbst sprechen. »Aber da war nichts. Nein, alles unverändert.«

Seine Stimme ist tief und sonor. Obwohl er kaum mehr als flüstert, kann Jarl ihn gut verstehen.

Er selbst besitzt kein Nachtsichtgerät, nur einen ganz normalen Feldstecher, aber von guter Qualität. Die hilft bei fortschreitender Dunkelheit allerdings auch nicht viel. Dennoch hält Jarl sich das Fernglas vor die Augen. Er will vor dem Fremden nicht wie jemand dastehen, der nicht einmal vernünftige Ausrüstung zu einem Jagdtrip mitgenommen hat. Dabei ist er es ja, der für diesen Ausflug an die schwedische Grenze verantwortlich ist, er und Frederik Harner.

Die Londoner Kanzlei, für die Harner tätig ist, hatte in der Vergangenheit mit der seines Vaters zu tun. Einer der Klienten des britischen Anwalts hat gehört, dass Norwegen in diesem Jahr bis zum Wintereinbruch in der Region Østfold neun Wölfe zum Abschuss freigegeben hat. Dieser Klient, dessen Namen Harner als Mr. Mithothin angab, hat sich für den Abschuss eines Wolfs um eine Jagdlizenz bemüht.

Normalerweise würden bei der Verteilung dieser Lizenzen einheimische Jäger den Vorzug bekommen. Aber Harner hat sich bei Jarls Vater Erik für seinen Klienten eingesetzt, und der wiederum hat bei der lokalen Jägervereinigung ein gutes Wort für den Ausländer eingelegt. Unterstützt von einer großzügigen Spende hat sich Mr. Mithothin das Recht erworben, auf dem Grund der Familie Lohne, wo sich nahe der schwedischen Grenze mehrere zusammenhängende Waldstücke befinden, einen Wolf zu jagen. Wenn er ihn lokalisieren kann.

»Vielleicht hat der Wolf uns gerochen oder gehört«, flüstert er. »Könnte doch sein, dass er längst über die Grenze abgewandert ist.« Er hat in den letzten Tagen immer wieder versucht, Smalltalk mit dem schweigsamen Mann zu führen. Jarl ist es nicht gewohnt, die Jäger auf dem Besitz seines Vaters zu begleiten. Zu jagen ist etwas anderes, als auf Flaschen zu schießen. Er mochte das Gewese seiner Familie um die Jagd schon als Kind nicht, und der Gedanke, eine weitere Nacht schweigend neben dem Fremden zu sitzen, hängt wie eine schwere Regenwolke über ihm.

Aber der Job ist nun einmal an ihm hängengeblieben. Sein Vater hatte wegen einer Geschäftsreise keine Zeit, und seine Schwester hat sich geweigert. Und wenn Ingrid etwas nicht will, hat noch nie jemand sie umstimmen können, schon gar nicht ihr Vater.

Während Jarl auf eine Erwiderung wartet, sucht er mit dem Feldstecher den Waldrand am anderen Ende der Lichtung ab, die sie etwas höher gelegen von Westen aus überblicken. Aber das Tageslicht hat bereits zu stark abgenommen, um in den beiden Objektiven des Fernglases mehr als eine finstere Masse aus Dickicht und einzelnen Baumstämmen zu erkennen.

Er rechnet schon gar nicht mehr damit, dass Mr. Mithothin ihm antworten wird, als plötzlich neben ihm seine geflüsterte Stimme ertönt. Sie hört sich beinahe amüsiert an.

»Wölfe sind klug, und ihr Lernfaktor ist enorm. Wenn einem ein Wolf erst einmal entkommen ist, wird es beim nächsten Mal umso schwieriger, ihn zu erwischen.«

Es ist keine Antwort auf seine Frage, aber Jarl ist schon zufrieden, dass der Fremde überhaupt ein Gespräch mit ihm führt. Er lässt den Blickwinkel des Feldstechers etwas nach unten wandern. Der Elchkadaver in der Mitte der Lichtung erscheint unvermittelt so plastisch und groß wie ein meterhoher Berg aus Fell und Fleisch vor seinen Augen. Dabei ist es nur ein Kalb, und noch nicht einmal gut genährt. Wahrscheinlich war es schon seit längerem von seinem Muttertier getrennt.

Der Wolf hat große Bissen an Muskelmasse aus dem Bauch des Tieres herausgerissen. Die einbrechende Dämmerung hat dem Blut um die Wunden herum die Farbe geraubt. Dennoch lässt Jarl der Anblick des frisch getöteten Tiers nicht kalt. Darum ist er als Kind nicht mit seinem Vater auf die Jagd gegangen. Was da im Schnee liegt, besaß noch vor wenigen Stunden ein warmes, pochendes Herz.

»Denken Sie …«, sagt er langsam, um das Thema zu wechseln, »… dass er schon einmal jemandem entkommen ist? Dass er klug ist? Wir haben ihn in den letzten drei Tagen kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Nichts anderes als seine Spuren im Schnee und das tote Kalb. Genauso gut könnte man einen Geist jagen.«

»Er kommt«, erwidert Mr. Mithothin mit der ruhigen Gewissheit von jemandem, der etwas Unausweichliches wie die Gezeiten ankündigt. »Er hat gejagt, er hat gefressen, jetzt ist er wieder hungrig, und die Nacht ist angebrochen. Er kommt.«

Jarl hat den Feldstecher wieder abgesetzt. Sich am Rand dieser Talsenke mitten im Schnee den Hintern abzufrieren ist etwas, das viel besser zu seiner Schwester Ingrid passen würde. Die ist so ein Outdoor-Typ, wie es der Mann neben ihm offensichtlich ebenfalls ist, und jagen geht sie auch, aber Elche und hin und wieder Wildgänse, weiter im Norden an der Westlandsküste. Nur keine Wölfe. Ganz im Gegenteil: Sie wird wütend, wenn sie hört, dass Wölfe geschossen werden.

»Was ich jage, wird zu Essen verarbeitet«, hat Jarl sie mehr als einmal sagen hören. »Die Typen, die Wölfe schießen, sind Trophäenjäger. Das sind Wichser ohne Respekt vor dem, was sie töten.«

Jarl kennt keine Trophäenjäger, aber das Wenige, was der Mann bisher zum Thema Jagd von sich gegeben hat, klang ganz danach, als ob er Wölfen eine beinahe ehrfürchtige Achtung erweisen würde. Und dann die Sache mit der Waffe, die er von seinem Flug aus London mitgebracht hat! Erst hatte Jarl kaum glauben wollen, dass sein Gast sie tatsächlich einsetzen wollte. Er dachte, der Mann würde einen Scherz machen. Aber Mr. Mithothin ist kein scherzhafter Mensch, das hat Jarl schnell begriffen.

»Sie können dieses Ding nicht für die Jagd auf einen Wolf benutzen«, hat er dem Fremden gesagt, als sie ihr Lager für die erste Nacht aufgeschlagen hatten. »In diesem Land gibt es Regeln für die Jagd auf Großwild. Sie können einen Wolf nur mit einer Rifle erlegen.« Er hat ihm die Remington seines Vaters unter die Nase gehalten. »Benutzen Sie die hier.«

Mr. Mithothin hat ihn kalt angeblickt und nach kurzem Zögern das Jagdgewehr ergriffen, um das Magazin zu überprüfen.

»Expandierende Kugeln, die mindestens neun Gramm wiegen«, hat Jarl ihm erklärt. Er ist sich dabei wie ein Papagei vorgekommen. Als sein Vater ihn gebeten – nein, aufgefordert – hat, Mr. Mithothin auf der Jagd zu begleiten und zu unterstützen, hat er den ganzen Formalkram schnell auswendig gelernt, wie im Studium. »Das ist die Munition, die von der Jagdbehörde verlangt wird.«

Mr. Mithothin hat ihm die Remington zurückgegeben, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich kenne die Regeln«, hat er gesagt. »Ich kann sogar eine aktuelle schriftliche Bestätigung vorweisen, dass ich mit einer Rifle umgehen kann. Wird das in Ihrem Land nicht ebenfalls verlangt?«

Jarl hat genickt, das Jagdgewehr eingepackt und die Sache auf sich beruhen lassen. Etwas in der Art dieses eigenartigen Mannes duldet keinen Widerspruch. Er ist jemand, der bekommt, was er haben will. Und, so entschuldigt Jarl sein eigenes Einknicken, es sieht ja nicht einmal so aus, als würde Mr. Mithothin tatsächlich dazu kommen, sein mitgebrachtes Spielzeug einzusetzen. Dazu müssen sie den Wolf, der sich seit einiger Zeit in diesem Teil des Waldes an der Grenze zu Schweden herumtreibt, erst einmal stellen.

Als wollte ihn seine Intuition Lügen strafen, richten sich Jarl mit einem Mal die Haare im Nacken auf. Er kann dem Gefühl keine Worte verleihen, aber ihm ist, als ob das lange Ausharren in dem unwirtlichen, kalten Gelände etwas in ihm ausgelöst hätte, etwas Altes, Urtümliches. Als hätte sich ein Teil von ihm mit dem Wald verbunden, ein komplexes Gefüge aus verborgenem Leben um ihn herum in der Nacht. Er fühlt, dass etwas passieren wird, bald schon. Etwas kommt.

Mr. Mithothin scheint es ebenfalls zu spüren. Vielleicht haben sich die beiden Männer in den letzten Tagen wie zwei empfindliche Saiteninstrumente aufeinander eingestimmt. So langsam, dass Jarl die Bewegung neben sich mehr ahnt als tatsächlich wahrnimmt, bewegt Mr. Mithothin sein Nachtsichtgerät wieder vor das Gesicht.

Jarl kneift die Augen bis auf einen Spalt zusammen, um genauer sehen zu können. Er verzichtet auf den Feldstecher, dessen Objektive bereits zu viel von dem kaum noch vorhandenen Licht schlucken. Erst ist er sich nicht sicher, ob er sich die Bewegung am anderen Ende der Lichtung nur einbildet. Vielleicht täuscht ihm sein angestrengtes Starren auf den dunklen Fleck zwischen zwei Kiefernstämmen nur vor, dass sich dort etwas verbirgt.

Doch dann – kein Zweifel! Etwas schiebt die niedrigen Zweige zur Seite. Ein langgezogener Kopf erscheint, dann ein Rumpf.

Jarls Herz hat heftig zu schlagen begonnen. Verdammt, das ist kein Fuchs, kein Luchs, und auch kein streunender Hund. Es ist der Wolf, den sie schon seit Tagen verfolgen! Sie haben ihn tatsächlich aufgespürt – das lange Warten hat sich doch gelohnt! Der Adrenalinschub lässt Jarl die Kälte und seine steifen Glieder vergessen. Seiner Meinung nach ist das Jagdhobby eigentlich ein archaisches Ritual, das im 21. Jahrhundert so anachronistisch erscheint wie der Glaube an einen Gott, der Kains Brandopfer höher schätzte als Abels Feldfrüchte. Aber in diesem Augenblick hat ihn das gleiche uralte Fieber gepackt, mit dem schon steinzeitliche Jäger auf der Lauer gelegen haben müssen.

Der Wolf hat seine Deckung verlassen und ist mit scheuen, vorsichtigen Bewegungen ganz auf die Lichtung hinausgetreten. Seine Art ist keine Bedrohung für den Menschen, denkt Jarl, sie war es nie. Das Tier, das etwa so groß wie ein Schäferhund ist, hebt den Kopf und nimmt Witterung auf. Gleichzeitig bemerkt Jarl, dass ein leichter Nachtwind aufgekommen ist, der ihm kalt gegen die Stirn weht. Eine weitere Welle aus beinahe fiebriger Begeisterung beschleunigt seinen Herzschlag: Der Wind, der ihnen aus der Richtung ihrer Beute entgegenkommt, ist wie ein gutes Zeichen: Der Wolf kann sie so nicht riechen! Momentan können Jarl und sein Begleiter am Rand der Senke, die in die Lichtung hinabführt, nur gesehen und gehört werden. Und da der abnehmende Mond von Wolken verhangen ist, haben sie einen weiteren Vorteil. Zum ersten Mal, seitdem sie sich auf die Spur des Wolfs gemacht haben, glaubt Jarl daran, dass es ihnen tatsächlich gelingen könnte, ihn zu schießen.

Neben ihm ist Mr. Mithothin wieder zu einer Statue erstarrt. Jarl duckt sich mit dem Oberkörper so flach auf den Boden, als wolle er sich durch seine Isomatte hindurch und ins gefrorene Erdreich drücken. Er hofft, dass er von der Lichtung aus nicht mehr zu sehen ist. Vorsichtig wälzt er sich auf die linke Seite, ergreift sein Jagdgewehr und wälzt sich wie in Zeitlupe, um kein Geräusch zu verursachen, mit der Rifle in der Hand zurück. Er legt das Gewehr neben Mr. Mithothin, damit dieser es sofort zur Hand hat.

Als Jarl einen Blick über den Rand der Senke riskiert, sieht er, dass der Wolf sich dem Elchkadaver genähert hat und Fleisch aus seiner Beute herausreißt. Er ist abgelenkt. Jetzt ist die Gelegenheit.

Dann geht alles so schnell, dass Jarls Verstand den Eindrücken nicht mehr hinterherkommt. Mr. Mithothin hat sich in einer einzigen fließenden Bewegung zu voller Größe aufgerichtet. Beinahe gleichzeitig hat er unter die Thermodecke neben sich gegriffen und den fast mannshohen Eibenbogen gepackt, der zusammen mit zwei Pfeilen griffbereit darin verborgen gelegen hatte.

Der Wolf hat seinen Kopf in der Seite des Elchs vergraben. Obwohl Mr. Mithothin beim Aufstehen kaum ein Geräusch von sich gegeben hat, hält das Tier im Fressen inne und hebt den Kopf.

Der angelegte Pfeil zielt im gleichen Moment auf den Wolf, als dieser zu ihnen hinaufblickt. Das Tier wirbelt herum, und der Pfeil löst sich mit einem kaum hörbaren Schnalzen.

Ein hohes, abrupt abreißendes Jaulen hallt über die Lichtung. Der Wolf wird wie von einer unsichtbaren Hand zwei Meter zur Seite in den Schnee geschleudert. Mit offenem Mund starrt Jarl Mr. Mithothin an, der mit dem riesigen Eibenbogen in der Hand in die Senke hinabblickt. Nun liegen zwei Tierkörper reglos auf der Lichtung.

»Ich … ich … verdammt, ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie diese Waffe hier nicht benützen dürfen!«, stammelt Jarl. Eine innere Stimme fragt ihn höhnisch, was er denn denkt, wieso sein Begleiter den Bogen dann mit auf diesen Jagdtrip geschleppt hat – als Glücksbringer etwa? Er wollte ihn von Anfang an verwenden, und das hat er auch getan.

»Sparen Sie sich Ihre Vorträge!«, sagt Mr. Mithothin. Die Pupillen in seinem fahlen Gesicht wirken wie zwei harte, schwarze Kiesel. »Ich habe gutes Geld dafür bezahlt, ihn mit diesem Bogen zu erschießen.«

Als sei damit alles gesagt, wendet er sich von Jarl ab und stapft durch den tiefen Schnee die Senke hinab und auf die Lichtung. Jarl steht langsam auf. Der Moment der Begeisterung, ein seltenes Tier gestellt zu haben, ist verschwunden und hat nichts weiter als eine betäubende Kälte zurückgelassen.

Mr. Mithothin ist bei dem toten Wolf angekommen. Beinahe achtlos legt er den Bogen neben sich in den Schnee. Jarl, der den Fußstapfen folgt, weil das im tiefen Schnee einfacher ist, sieht ihn sich in einer langsamen, merkwürdig ehrfürchtig anmutenden Bewegung vor dem Tier auf ein Knie herablassen.

Erst bei diesem Anblick erinnert Jarl sich an die Kamera, die er auf den Rat seines Vaters hin auf den Jagdtrip mitgenommen hat. Jäger wollen Bilder von sich und ihrer erlegten Beute haben, und Mr. Mithothin soll erhalten, wofür er bezahlt hat. Jarl zieht sich die Handschuhe aus, stopft sie in die Seitentasche seiner Outdoor-Jacke und zückt seine Digitalkamera. Vor zwei Jahren hat er sich die Leica für Ausflüge angeschafft, klein, aber dafür handlich. Schritt für Schritt nähert er sich von hinten dem Mann, der eben den Pfeil aus dem Körper des toten Wolfs herausgezogen und neben sich in den Schnee geworfen hat.

Mr. Mithothin beugt sich mit dem Rücken zu Jarl über den Kadaver. In seiner Rechten hält er ein Jagdmesser mit breiter Klinge. Jarl zoomt im Sucher seiner Leica den Wolf heran. Der Kopf des toten Tiers tritt im letzten Dämmerlicht vor dem Hintergrund aus matt schimmerndem Schnee leicht verschwommen hervor, die Lefzen wie im Aufbäumen vor dem unvermeidlichen letzten Atemzug zurückgezogen, sodass seine Zähne gut sichtbar sind. Jarl drückt den Auslöser.

Das Blitzlicht taucht den am Boden liegenden Wolfskopf in ein unnatürlich grelles Licht, das in allen Schneeflocken ringsum ein diamantenes Feuer entzündet. Für einen Moment glaubt Jarl, die Augen des Tiers würden in den Höhlen herumrollen und ihn ansehen. Erschrocken schnappt er nach Luft, die ihm kalt in den Rachen dringt.

Mr. Mithothin wirbelt herum. Er ist ebenso schnell auf die Beine gekommen, wie vorhin, als er den Bogen auf den Wolf abgefeuert hat. Seine Rechte hat sich so fest um sein Jagdmesser gekrampft, dass Jarl selbst in dem dämmrigen Licht die Fingerknöchel weiß unter der Haut hervortreten sehen kann. Instinktiv versucht der junge Mann vor dem Fremden zurückzuweichen, aber seine Beine bleiben im tiefen Schnee stecken.

»Keine Fotos!«, herrscht Mr. Mithothin ihn wütend an. Seine Augen sind zwei dunkle Steine, aus denen man Funken schlagen könnte. Einen Lidschlag lang glaubt Jarl, dass es dieselben Augen wie die des Wolfs am Boden sind, tot und dennoch von kaltem Leben erfüllt.

Er ringt nach Worten, doch bevor er etwas herausbringen kann, reißt der Mann ihm die Leica aus der Hand. Er holt aus und schmettert sie mit voller Wucht gegen einen hüfthohen Felsen, der neben ihnen aus dem Schnee ragt. Einmal, zweimal ertönt ein mahlendes Krachen, als das Gehäuse der Leica auf den nackten Stein trifft. Dann schleudert Mr. Mithothin die Kamera aus der Lichtung hinaus ins dunkle Unterholz. Schwer atmend wendet er sich wieder dem jungen Mann zu, dessen Blick von dem wütenden Gesicht vor sich hinab zu dem Jagdmesser in der Hand seines Gegenübers irrt. Plötzlich ist Jarl sich sicher, dass dieser Verrückte zustechen wird. Er kann deutlich vor sich sehen, wie sich die Klinge durch die Kleidung und in seinen Bauch bohrt, als würde sein Verstand der Zukunft um wenige Sekunden vorauseilen.

»Es … es … hören Sie, es tut mir leid!«, bricht es hilflos aus ihm heraus. »Ich wusste nicht, dass …«

»Keine Fotos von der Beute!«, schneidet ihm Mr. Mithothin hart das Wort ab.

Ein Lichtstrahl tanzt zwischen den Bäumen hinter ihnen herüber und richtet sich schließlich auf die beiden Männer. Vor Erleichterung beginnt Jarl zu zittern.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Die klare, hohe Stimme hallt aus Richtung der Lichtquelle über die Lichtung. Schon beim Klang der Worte weiß Jarl, wer das ist. Zwei Gestalten kommen über den Rand der Senke zu ihnen herabgestiegen. Eine von ihnen ist eine stämmige junge Frau, die eine Stabtaschenlampe hält. Die andere Gestalt folgt in ihren Spuren.

»Ihr habt den Wolf also tatsächlich aufgespürt«, sagt Ingrid Lohne verhalten. Ihr dunkelblondes Haar ist zu einem dicken Zopf geflochten. Schnee liegt auf der braunen Uschanka, deren Rand ihr beinahe über die Augenbrauen reicht.

»Jepp, das haben wir«, antwortet Jarl mit hohler, verwunderter Stimme, aus der immer noch die Panik herauszuhören ist, die ihn bis vor wenigen Sekunden gelähmt hat. Nach drei Tagen ohne eine andere Gesellschaft als seinen wortkargen, furchteinflößenden Gast hat es für ihn etwas Unwirkliches, so unvermittelt seiner Schwester gegenüberzustehen. Aus den Augenwinkeln bemerkt er, dass Mr. Mithothin sich wieder zu dem Kadaver am Boden umgedreht hat.

Jarl kommt Ingrid ein paar Schritte entgegen, froh über jeden Meter Abstand, den er zwischen sich und den Fremden in seinem Rücken bringen kann. »Wie … wie habt ihr uns gefunden? Was zum Teufel macht ihr hier?«

Ingrid deutet auf den Mann hinter sich, der mit mühsamen Schritten zu ihr aufholt. »Er da hat eine wichtige Nachricht für Vaters Jagdgast. Er will unbedingt persönlich mit ihm sprechen. Ich hab ihm gesagt, dass der Mann bestimmt verärgert sein wird, wenn wir euch stören und das Wild vertreiben. Aber er hat darauf bestanden. Also sind wir den Spuren eurer Schneescooter gefolgt und den Rest des Wegs zu Fuß –«

Sie bricht stirnrunzelnd ab. Jarl folgt ihrem Blick. Der Schein ihrer Stabtaschenlampe hat sich auf den riesigen Eibenbogen im Schnee und den blutigen Pfeil daneben gerichtet.

»Also deshalb haben wir keinen Schuss gehört«, sagt Ingrid. Sie holt tief Luft. »Heh, Sie!«, ruft sie empört. Sie stapft an Jarl vorbei und auf Mr. Mithothin zu, der sich nicht umgedreht hat und weiterhin nur auf das tote Tier vor sich im Schnee achtet. »Was Sie hier getan haben, ist verdammt noch mal illegal! Einen Wolf mit Pfeil und Bogen zu erlegen, das ist – das ist nicht nur verboten, das ist Tierquälerei!«

Mr. Mithothin dreht sich immer noch nicht zu ihr um.

»Lass es gut sein!«, zischt Jarl seine Schwester an. Er will nicht, dass sie diesen unheimlichen Kerl provoziert, er will nur noch, dass der Mann seine Beute einsammelt und so schnell wie möglich wieder von hier verschwindet.

»Ich rede mit Ihnen!«, herrscht Ingrid ihn an, ohne auf ihren Bruder zu achten. »Verdammt, ich hab gute Lust, Sie bei der Polizei anzuzeigen!«

»Das sollten Sie besser nicht tun«, ertönt die Stimme der zweiten Gestalt, die neben Jarl stehengeblieben ist. Der junge Mann kommt erst jetzt dazu, im Licht von Ingrids Stabtaschenlampe den Neuankömmlig genauer in Augenschein zu nehmen. Es ist ein Mann Ende Zwanzig, dessen Augen hinter einer Hornbrille mit schwarzem Rand auf seine Schwester gerichtet sind. Schneeflocken schmelzen in seinem dunklen, exakt gescheitelten Haar. Im Gegensatz zu den drei anderen trägt er keine Outdoorkleidung, sondern einen Wintermantel aus tiefblauem Tweed, dessen Kragen er hochgeschlagen hat.

Der Mann wirkt mit seiner modischen Erscheinung an diesem Ort so deplatziert, dass Jarl für einen winzigen Moment daran glaubt, sich die Gestalt im Dunkel nur einzubilden. Dann erinnert er sich an das Gespräch mit dem Londoner Anwaltskollegen seines Vaters, und auf einmal weiß er, wen er vor sich hat. Er hat mit ihm telefoniert.

Ingrid hat sich zu Frederik Harner umgedreht. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte«, wiederholt der britische Anwalt ungerührt, »Sie sollten das besser nicht tun. Meinen Klienten bei der Polizei anzeigen.«

»Und weshalb nicht?«, schnappt Ingrid herausfordernd.

»Miss Lohne«, erwidert Harner, ohne dass seine leise, aber deutlich zu verstehende Stimme an Schärfe zunimmt, »Mr. Mithothin ist niemand, den Sie sich zum Feind machen möchten. Aber wenn Sie ihn wegen Fehlverhaltens bei dieser Jagd anzeigen, dann passiert genau das. Mein Klient nimmt solche Dinge sehr ernst.« Er blinzelt sie durch die Gläser seiner Hornbrille an, und Jarl durchfährt ein Frösteln. Plötzlich wirkt der in dem dunklen Waldstück so völlig deplatzierte Mann mit seinem perfekt frisierten Haar und dem Harris-Tweed nicht weniger unheimlich als sein eigenartiger Klient.

»Wissen Sie was?«, fährt Ingrid auf. Das Weiße in ihren Augen schimmert. »Es ist mir verdammt egal, wie gut mein Vater und Sie miteinander bekannt sind. Ich lasse mir weder etwas vorschreiben, noch mich von Ihnen bedrohen. Ich …«

Sie bemerkt Jarls entsetzte Miene und fährt herum. Ihre Lippen bewegen sich, versuchen den angefangenen Satz zu beenden, aber ohne Erfolg. Ihr erschrockener Blick richtet sich auf den Mann, den ihr Bruder in den Wald ihres Vaters geführt hat.

Mr. Mithothin hat seinen mannshohen Eibenbogen aufgehoben und sich umgedreht. Im Schein von Ingrids Stabtaschenlampe glänzt sein Gesicht dunkel und nass von dem Blut des toten Wolfs, das er sich auf Stirn und Wangen geschmiert hat. Der Lichtstrahl zittert, weil Ingrids Hand bebt, was den Zügen des Mannes vor ihnen ein grässliches, fratzenhaftes Aussehen verleiht. Mit dem blutverschmierten Gesicht und der mittelalterlichen Waffe in seiner Hand erinnert Mr. Mithothin an einen Krieger, der sich über ein Schlachtfeld voller Leichen zu ihnen durchgeschlagen hat. Er achtet gar nicht auf die beiden Männer und die Frau im Schnee. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen sind auf etwas gerichtet, das nur er sehen kann.

»Herzlichen Glückwunsch zu der gelungenen Jagd«, sagt sein Anwalt mit ruhiger Stimme. Abwartend mustert er ihn.

Mr. Mithothins Blick fokussiert sich, als würde es ihm erst jetzt auffallen, dass der Mann sich direkt vor ihm befindet, anstatt in einer Londoner Kanzlei. »Warum sind Sie hier?«

»Sie waren telefonisch nicht erreichbar, daher habe ich sofort den nächsten Flug nach Norwegen genommen«, antwortet Frederik Harner. Er senkt seine Stimme, sodass Jarl nur mit Mühe verstehen kann, was er seinem Klienten sagt. »Sie erinnern sich bestimmt noch an die Angelegenheit mit dem Sanday-Hort vor gut zehn Jahren?«

Mr. Mithothin antwortet nicht, aber das Aufleuchten in seinem Blick ist Reaktion genug.

»Sie wollten sofort persönlich benachrichtigt werden, wenn sich eine neue Situation ergeben sollte. Jemand von damals ist wieder auf unserem Radar aufgetaucht.«

Mr. Mithothin zieht ein Mobiltelefon aus der Tasche seiner dicken Outdoor-Tarnjacke und schaltet es ein. »Wir kehren am besten so schnell wie möglich nach Oslo zurück. Erzählen Sie mir alles, was Sie in Erfahrung gebracht haben.«

»In Ordnung«, sagt Harner. Mit großen Storchenschritten folgt er Mr. Mithothin in der Schneespur, die zum Rand der Senke hinaufführt, wo die Ausrüstung der beiden Jäger liegt.

»He, Sie!«, schreit Ingrid ihm hinterher.

Mr. Mithothin dreht sich zu ihr um, als nähme er jetzt erst wahr, dass sie existiert.

Ingrid deutet auf den Wolfskadaver. »Was ist mit ihm? Sie haben ihn verdammt noch mal geschossen. Wollen Sie ihn nicht mitnehmen? Darum ging es Ihnen doch, oder etwa nicht? Ihn zu erlegen, damit Sie ein Foto von sich mit ihm machen und sein Fell an die Wand hängen können!«

»Ich bin kein Trophäenjäger«, entgegnet Mr. Mithothin kühl. »Machen Sie mit dem Kadaver, was Sie für richtig halten. Was ich von dem Wolf wollte, das habe ich bereits bekommen.«

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich wieder um und stapft zum Rand der Senke hinauf, gefolgt von seinem Anwalt.

Ingrid stößt Luft aus ihrem Mund, die einen Augenblick lang als kaum sichtbare Atemwolke vor ihrem Gesicht hängt. Sie klingt genervt, aber Jarl glaubt unter dem Ärger noch etwas anderes wahrnehmen zu können. Sie ist heilfroh, dass Mr. Mithothin, oder wie auch immer er tatsächlich heißt, den Grund und Boden ihrer Familie wieder verlassen wird.

»Wir müssen den Wolf für DNA-Proben mitnehmen«, sagt er leise an seine Schwester gerichtet. »Ich kann einen Schuss auf die Wunde abfeuern, dann fällt es nicht auf, dass er zuvor von einem Pfeil getroffen wurde. Er …« Jarl zögert und nickt in Richtung Kadaver. »Jedenfalls hat er nicht gelitten. Er war sofort tot.«

Ingrid erwidert nichts. Jarls Blick schweift an ihr vorbei in die Dunkelheit des Waldes jenseits der Lichtung, die mit jeder weiteren Minute näher an sie heranrückt.

Einer der neun Wölfe, die eine Gruppe von Bleistifttätern in einem Bürogebäude in Oslo als diesjährige Quote festgelegt hat, ist tot. Wo sich die anderen acht wohl gerade verbergen, hinter denen Hunderte von lizensierten und illegalen Jägern her sind? Wenn sie schlau sind, fliehen sie weit nach Osten über die schwedische Grenze. Norwegen ist kein gutes Land für Wölfe. Zu viele andere Raubtiere.

Raubtierstadt

Подняться наверх