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In meiner zweiten Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer fällt die Temperatur draußen kurzzeitig sogar auf minus achtzehn Grad ab. Für Kautokeino ist das im Januar nichts Besonderes, für Oslo ist das eine Kältewelle, wie Vidar mir klargemacht hat. Es soll in den nächsten beiden Tagen auch weiter so kalt bleiben. Im Wohnzimmer steht zwar ein Ofen, der mit Holzscheiten von einem riesigen Stapel im Hinterhof gefüttert werden kann, aber ich habe ihn über Nacht ausgehen lassen. In geheizten Räumen kann ich nur schlecht einschlafen.

Ich bleibe lange wach und wälze mich von einer Seite auf die andere. Als der Schlaf endlich kommt, bringt er wirre, erschöpfende Träume mit sich.

Ich finde mich am Osloer Hauptbahnhof wieder. Als ich hier vor ein paar Tagen angekommen bin, war die Haupthalle ein prall gefüllter Bienenstock. Mir liefen mehr Menschen vor den Füßen herum als ich seit Monaten zu Gesicht bekommen hatte. Doch jetzt ist der Ort wie ausgestorben. Meine Schritte hallen laut auf dem menschenleeren Bahnsteig wider. Es kommt mir vor, als sei ich im Bruchteil eines Atemzugs in ein Niemandsland gerutscht, ein Dazwischen, das nur ich ausfülle. Ich – und noch jemand oder etwas anderes. Ein leises, dumpfes Grollen ist zu vernehmen. Es ist kein gleichbleibendes Motorengeräusch, sondern schwillt kaum vernehmlich an und ab, begleitet von einem schwachen, aber dennoch spürbaren Beben, das sich über meine Beine bis in meinen Unterleib hinein fortpflanzt.

Nervös sehe ich mich um. Ich kann die Herkunft des Geräuschs nicht ausmachen. Wände und Decke des Bahnhofsgebäudes erdrücken mich mit einem Mal trotz ihrer Höhe. Ein schwerer Druck legt sich auf meinen Brustkorb. Mühsam ringe ich nach Luft. Ich muss raus hier, sofort! Ich brauche freien Himmel über mir. Ich haste den Gang an den Bezahltoiletten vorbei, laufe ins Freie und die breite Treppe auf den Platz vor dem Hauptbahnhof hinab. Auf den letzten Stufen stolpere ich und pralle schmerzhaft hart mit den Knien auf das Pflaster des Platzes. Zu meiner Rechten reckt sich der schlanke Turm des Kundenzentrums der Verkehrsbetriebe in einen Himmel, dessen Farbe das Grau von Gewehrkugeln angenommen hat. Ich komme wieder auf die Beine und drehe mich um meine eigene Achse, einmal, zweimal, wie um mit der Bewegung einen Zauber auszuüben, der das menschenleere Zentrum der Stadt wieder mit Leben erfüllt. Aber wohin ich auch schaue, sehe ich außer mir keine andere Person.

Das kaum vernehmbare Grollen, das die ganze Zeit über nicht aufgehört hat, schwillt plötzlich zu einem tiefen Knurren an. Ich fahre in die Richtung herum, aus der es ertönt, und mein Blick bleibt an der Statue des gewaltigen Bronzetigers hängen, der fast in der Mitte des Platzes steht.

Als ich vor ein paar Tagen an dem Monstrum vorbeigekommen bin, war es von Touristen umringt, die sich vor seinem aufgerissenen Maul fotografieren ließen. Zwei lehnten sich an die Statue, um Selfies von sich zu schießen, und ein dritter kletterte sogar mit Hilfe eines Kumpels für ein Foto auf ihren Rücken.

Diesmal ist der Platz um den Tiger leer. Die Abwesenheit aller anderen Menschen lässt ihn viel bedrohlicher wirken. Auf einmal sieht er nicht mehr wie eine Touristenattraktion aus, sondern wie ein Ungeheuer, ein riesiges Raubtier aus dunkelbrauner, matt glänzender Bronze.

Langsam dreht er mir den Kopf zu. Erst jetzt erkenne ich, dass es der Tiger ist, aus dessen Kehle das bedrohliche Knurren ertönt. Er reißt sein Maul auf, und das Geräusch schwillt zu einem ohrenbetäubenden Brüllen an, das mir die Haare zu Berge stehen lässt. Er setzt sich in Bewegung, ganz als sei er lebendig, ein vier Meter langer Muskelberg aus Bronze, der in gerader Linie wie die entfesselte Zugmaschine eines Trucks direkt auf mich zustürmt. Der Boden erzittert unter den weiten Sätzen seiner Pfoten.

Ich will fortrennen, aber ich komme nicht von der Stelle. Anstatt des Tigers bin ich es, die starr wie eine Statue steht, unfähig, mich zu bewegen. Das Ungeheuer erreicht mich. Eine bronzene Pranke fegt mich mit voller Wucht von den Füßen und stößt mir die Luft aus den Lungen. Ich komme hart mit dem Rücken auf dem Straßenpflaster auf, spüre aber seltsamerweise keinen Schmerz, nur eine taube, irrsinnige Panik, als der Kopf des gewaltigen Viehs über mir auftaucht und mein gesamtes Gesichtsfeld ausfüllt. Ich starre in die blinden Augen des bronzenen Schädels über mir, auf den gähnenden Rachen, mein eigener Panikschrei vermischt sich mit dem markerschütternden Brüllen, als der Kopf sich auf mich herabsenkt und die Reißzähne meine Wangenmuskeln durchbohren und die Knochen darunter splittern lassen.

Mit einem nassen, gurgelnden Ächzen fahre ich hoch, reiße die Arme unter der Bettdecke hervor und bewege sie wild in der Finsternis vor mir hin und her. Die Erleichterung, mich wieder rühren zu können, lässt mir Tränen in die Augen schießen. Ich falle zurück auf das Sofa und merke erst jetzt, dass ich so nassgeschwitzt bin, als ob ich direkt aus der Dusche kommen würde. Die surreale Traumerinnerung an Zähne aus Bronze, die mein Gesicht zerfetzen, weicht nur schleppend langsam der Realität. Selbst als ich längst aufgestanden bin und mir im Bad eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen habe, hält sie noch an und verschwindet erst während des Frühstücks, das ich alleine in der Küche für mich zubereite, während es draußen noch immer stockdunkel ist.

Vidar hat mir erzählt, dass die Sozialarbeiter der Arche ihre Begegnungsstätte ab dem späten Vormittag öffnen. Gegen 11.30 Uhr gehe ich ins Erdgeschoss hinab, um mit ihnen zu sprechen. Bei der Kälte haben sich nur wenige Besucher in dem Café eingefunden. An einem der vier Tische im Hauptraum sitzen zwei Männer, einer in etwa meinem Alter, der andere um die Fünfzig. Sie haben sich mit gesenkten Köpfen in ihre dampfenden Kaffeetassen vertieft und blicken nur kurz auf, als ich durch den Vordereingang eintrete. Obwohl sie sich zu kennen scheinen, reden sie nicht miteinander. Ein weiterer Gast ist eine junge Frau am Nebentisch, die in einer Dagbladet-Ausgabe blättert, dabei aber immer wieder das Display ihres Mobiltelefons im Auge hat. Es riecht schwach nach altem Schweiß und etwas stärker nach Kaffee. Im rückwärtigen Bereich führt ein breiter Durchgang, in dessen Mitte ein Billardtisch aufgestellt ist, zu weiteren Räumlichkeiten, wahrscheinlich Büros. Neben dem Durchgang befindet sich ein Tresen. Eine stämmige, blonde Frau Mitte Dreißig steht hinter ihm und schreibt etwas auf einem Notizblock. Als ich nähertrete, legt sie den Stift zur Seite und blickt auf.

»Was kann ich für dich tun?«

Ich werfe einen Blick auf die handgeschriebene Preisliste für Getränke und Kuchen, die an der Seitenwand des Kühlschranks hängt, bestelle einen Kaffee und schiebe ihr ein paar Münzen über den Tresen.

»Gehörst du zu den Mitarbeitern der Arche?«, will ich wissen.

Sie nickt, während sie mir den Kaffee eingießt. »Ja. Ich bin Katrine. Du bist zum ersten Mal hier?«

»Ich bin nicht bei euch im Betreuten Wohnen«, sage ich und deute mit dem Finger an die Decke. »Ich wohne über euch.«

»Ah.« Sie reicht mir die Kaffeetasse und legt ihre hohe Stirn in Falten. »Gibt es irgendein Problem? Waren wir letzten Freitag bei der Geburtstagsfeier zu laut?«

»Die sollen sich bloß nicht beschweren, verfickte Sch-Scheiße!«, ertönt eine raue Stimme in meinem Rücken. Ich wende mich um. Der eine der beiden Männer, die am Tisch neben dem Eingang sitzen, wirft ruckartig seinen Kopf zurück, so dass ihm sein langes Haar in dunklen Strähnen über die Schultern fällt. »Die ma-machen selber genug Krach! Sch-Scheiße! Fuck!« Wieder ruckt er mit seinem Kopf, als wolle er mit seinem Kinn auf mich zeigen.

Ein Grinsen breitet sich auf dem Gesicht des Älteren neben ihm aus. »Jo, sag ihr, wie’s aussieht!«, sagt er und schlürft laut aus seiner Tasse.

»Nicht hilfreich, André«, kommentiert ihn die Frau, die sich als Katrine vorgestellt hat, hinter dem Tresen.

»Ist doch wa-wahr!«, stottert der junge Mann erregt. »Der Typ über u-uns hat manchmal seine A-Anlage so scheißlaut an, als ob die hier im Ca-Café stehen würde, fuck! Scheiße!«

Ein erneuter Tick seines Kopfs schüttelt ihn.

»Leif, beruhig dich!«, sagt die Frau resolut. »Ich weiß, dass du dich kontrollieren kannst. Wenn dich die Musik so stört, rede ich mit dem Mieter über uns.«

»Du meinst Geir, nicht?«, sage ich. »Ich kann ihm ausrichten, was euer Besucher gesagt hat. Aber wegen des Lärms bei eurer Geburtstagsfeier bin ich nicht hier. Ich wollte mich erkundigen, ob ihr mir die Adressen von Einrichtungen nennen könnt, die im Raum Oslo Junkies saubere Nadeln und einen Ort zum Spritzen anbieten.«

Katrine sieht mich so prüfend an, als würde sie in meinem Gesicht nach Einstichen suchen. »Brauchst du so einen Platz für dich selbst?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, für … einen Freund.« Es klingt wie die älteste Ausrede der Welt, aber ich will ihr nicht erzählen, dass ich eine bestimmte Person suche.

Wenn die Mitarbeiterin der Arche mir nicht glaubt, lässt sie sich es jedenfalls nicht anmerken. »Ja, es gibt hier eine Spritzenraum«, sagt sie. »Eine Bekannte von mir arbeitet dort. Ich schreib dir die Adresse auf.«

Sie greift sich ihren Notizblock und hat gerade den Stift auf das Papier gesetzt, als weiter hinten eine Tür geht. Erregtes Stimmengewirr brandet auf, dann knallt die Tür wieder zu. »Katrine!«, ruft jemand. Eilige Schritte nähern sich. Ich blicke am Tresen vorbei in den Durchgang zu den hinteren Zimmern. Eine Frau, die gerade mal achtzehn zu sein scheint, kommt auf uns zugehastet. In ihren Augen steht Panik.

»Kannst du schnell kommen? Es ist was passiert«, sprudelt es aus ihr heraus, so dass sich die Worte schier überschlagen. Ihr Blick gleitet über die drei Besucher der Begegnungsstätte und mich, bevor er sich auf Katrine heftet. »Svein hat einen epileptischen Anfall«, höre ich sie eindringlich mit gesenkter Stimme sagen, in dem vergeblichen Versuch, so etwas wie Privatsphäre zwischen ihrer Kollegin und ihr herzustellen. Das Wort »Anfall« nimmt in meinem Verstand eine hässlich giftgrüne Farbe an, die wie ein Abgasschleier vor mir in der Luft hängt. Ich konzentriere mich angestrengt auf die nächsten Worte der jungen Frau, um das in mir aufkommende Schwindelgefühl zu unterdrücken.

»Ich hab schon den Rettungsdienst gerufen, aber du hast doch erst vor ein paar Monaten einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Kannst du nach ihm sehen? Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Vor allem ihn nicht allein lassen!«, erwidert Katrine scharf. Sie kommt um den Tresen herumgeeilt.

»Braucht ihr Hilfe?«, frage ich.

Die junge Frau öffnet den Mund, um etwas zu antworten, aber Katrine schüttelt bereits den Kopf. »Das wird nicht nötig sein.« Sie wendet sich an mich und die anderen Anwesenden. »Ich bin gleich wieder da.«

»Liegt er in einer stabilen Seitenlage?«, fragt sie die junge Frau im Gehen, während die beiden am Billardtisch vorbei und zu den rückwärtigen Büroräumen hasten. Die Antwort der jungen Frau ist zu leise, um sie zu verstehen, aber sie nickt eifrig.

»Das dr-dritte Mal in einer Woche«, sagt der junge Mann namens Leif hinter mir zu niemand bestimmtem im Raum. Er hört sich beinahe beeindruckt an.

»Die haben ihn im Krankenhaus bestimmt falsch eingestellt«, meint der Ältere namens André, der mit ihm am selben Tisch sitzt. »So oft hat er früher keine Anfälle gehabt.«

Leif grinst so breit, dass es aussieht, als würde es sein Gesicht in zwei Hälften teilen. »Vielleicht hat er sich wie-wieder eingepisst, so wie letztes Mal! Lie-Liegt am Boden in seiner eigenen Pi-Pisse! Scheiße!« Er lacht gurgelnd auf, ruckt mit dem Kopf und schickt seinen letzten Worten ein lautes »Fuck!« hinterher.

Die junge Frau am Nebentisch schmettert die vergilbte Dagbladet-Ausgabe auf die Tischplatte. »Du bist so ein dummes Arschloch!«, fährt sie ihn an.

Leif springt wie ein Schachtelteufel von seinem Platz auf. Hinter ihm fällt der Stuhl um und knallt laut mit der Lehne auf den Boden. »Wa-was hast du gesagt, Fo-Fotze?«, stößt er erregt hervor und baut sich vor der Frau auf, beide Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht ist puterrot vor Wut angelaufen. André kichert in sich hinein, bleibt aber weiterhin auf seinem Platz sitzen, ohne sich einzumischen, und starrt auf das Display seines Smartphones, als würde er die Auseinandersetzung der beiden auf YouTube verfolgen.

»Ich hab gesagt, du bist ein du-dummes A-Arschloch!«, äfft die Frau Leif verächtlich nach.

»He, Leif!«, rufe ich, bevor der Typ auf die Idee kommt, eine Prügelei mit der Frau anzufangen, und stelle meinen halb ausgetrunkenen Kaffee auf den Tresen zurück. »Bist du ein Nordlending?«

Sein Kopf fährt zu mir herum. »Hä?«, stößt er verwirrt hervor.

»Ich hab gefragt, ob du ein Nordländer bist. Du fluchst genauso viel wie der Zweig meiner Familie in Nordland.«

»Ich ha-hab Tourette, Scheiße!«, stößt Leif hervor und schafft es, sich tatsächlich beleidigt anzuhören. Alle drei sehen mich jetzt an, der ältere Mann, die junge Frau und Leif, dessen Oberkörper sich beim Ein- und Ausatmen erregt hebt und senkt.

»No shit, Sherlock«, gebe ich zurück. »Du solltest nach Nordnorwegen kommen. Da kannst du sogar einen Polizisten einen verfickten Pferdeschwanz nennen, ohne dass er dich wegen Beleidigung drankriegen kann.«

Leif glotzt mich ungläubig an. »Was? Ver-Verfickter Pferdeschwanz? Einen Bullen? Fuck! Wie-wieso?«

»Weil keiner so gut flucht wie Nordnorweger. Die haben die besten Schimpfwörter. Die sind sogar Kulturgut.«

»Kul-«

»Kulturgut. Heißt: Die sind so geschützt wie Dialekte im Schulunterricht. Ein Typ hat es vor ein paar Jahren gerichtlich erstritten, nicht dafür bestraft zu werden, als er einen Polizisten auf Nordnorwegisch beschimpft hat.«

»Sch-Scheiße«, murmelt Leif regelrecht ehrfürchtig. »Wa-was für Schimpfworte haben die noch in No-Nordland? Außer verfickter Pferdeschwanz?«

Ich deute auf den Billardtisch im Durchgang zu den hinteren Zimmern. »Spielst du Pool?«

Er nickt wortlos und mit misstrauischem Gesicht.

»Dann lass uns eine Runde spielen. Wenn du gewinnst, verrate ich dir meine drei Lieblingsschimpfworte auf Nordnorwegisch.«

»O-Okay«, grinst Leif. »Hab schon so gut w-wie gewonnen.« Er folgt mir, ohne der Frau oder dem älteren Mann einen weiteren Blick zu widmen.

Raubtierstadt

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