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Vorwort zur deutschen Ausgabe

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Dieses Buch hat drei Teile, die jeweils einer der drei Arten von Ungleichheit gewidmet sind. Alle sind sie Facetten der Ungleichheit in der Welt, aber jede Art ist auch für sich genommen relevant. Im ersten Teil beschäftige ich mich mit der Einkommensungleichheit zwischen Menschen, die im selben Land leben. Dies ist offenkundig eine Art von Ungleichheit, mit der die meisten von uns auf Anhieb etwas anfangen können. Sodann gibt es die Ungleichheit zwischen den Durchschnittseinkommen verschiedener Länder. Auch diese ist leicht zu verstehen, wenn wir die Lebensstandards in reichen und armen Ländern vergleichen. Und drittens gibt es die Einkommensungleichheit zwischen allen Bewohnern der Erde. Diese wird als „globale Ungleichheit“ bezeichnet.

Die drei Teile des Buchs sind ähnlich aufgebaut. Am Anfang steht jeweils ein Essay, der den Leser in das Thema des Abschnitts einführt. Es folgt eine Reihe von Skizzen, in denen die Zusammenhänge verständlicher erklärt und mit dem alltäglichen Leben verknüpft werden. Zum Beispiel werden wir uns in diesen Skizzen ansehen, wie die Ungleichheit im europäischen Roman des 19. Jahrhunderts (Jane Austens Stolz und Vorurteil und Tolstois Anna Karenina) behandelt wurde. Wir stellen die Frage, wer wohl der reichste Mensch aller Zeiten gewesen sein mag, und untersuchen, wie groß die Ungleichheit in der Europäischen Union ist und ob sie dem Wachstum der Union natürliche Grenzen setzt. Weitere Themen sind die Ungleichheit im römischen Kaiserreich und unter dem Kommunismus, die Gefahr, die von der Einkommensungleichheit für die Einheit Chinas ausgeht usw. Jede Skizze kann für sich gelesen werden. Der Leser kann sich an die Ordnung des Buchs halten oder die Skizzen abhängig von seinen spezifischen Interessen auswählen. Es macht keinen großen Unterschied, welchen Zugang man wählt.

Obwohl sich die drei Möglichkeiten, die Ungleichheit zu betrachten, konzeptuell voneinander unterscheiden, und obwohl auch in diesem Buch oft auf diese Unterscheidung zurückgegriffen wird, müssen wir auch begreifen, dass sie zusammenhängen und dass diese drei Sphären nicht strikt voneinander getrennt werden können und sollen. Lassen sie mich diese wechselseitige Abhängigkeit der drei Arten von Ungleichheit anhand einiger Beispiele erläutern, die viele Menschen – insbesondere in Ländern wie Deutschland – heute beschäftigen.

Die globale Ungleichheit, das heißt die Ungleichheit zwischen den Einkommen aller Menschen auf der Erde, ist in jüngster Zeit zum ersten Mal seit wir sie messen können, das heißt seit der industriellen Revolution, geringer geworden. Der Grund für diese bemerkenswerte Entwicklung ist ein in der Geschichte beispielloser Anstieg der Einkommen von rund 1,3 Millionen Menschen in China. In den letzten Jahren hat ein kräftiges Wirtschaftswachstum auch in Indien, Vietnam und Indonesien Millionen Menschen aus der Armut befreit und zur Verringerung der globalen Einkommensungleichheit beigetragen. Wir können diese Entwicklung verstehen, indem wir uns vorstellen, dass die Ungleichheit geringer geworden ist, weil die Einkommen vieler sehr armer Menschen gewachsen sind, was ihnen den Aufstieg in die „globale Mittelschicht“ ermöglicht hat. Dieser Erfolg Asiens kann im Wesentlichen auf die Globalisierung zurückgeführt werden, das heißt auf den Freihandel und eine größere Bewegungsfreiheit für Kapital, Technologie und Ideen.

Aber diese positiven Entwicklungen (geringe globale Ungleichheit, Freizügigkeit von Kapital und Gütern) haben auch eine Schattenseite oder führen zu weniger ermutigenden Entwicklungen. Die Verringerung der Armut und Ungleichheit in der Welt infolge des Wachstums der armen und bevölkerungsreichen Länder Asiens ging mit einem geringeren Wachstum und zunehmender Ungleichheit in den reichen Ländern einher. Zudem wurde die Ungleichheit auch in den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern – in China, Indien, Vietnam usw. – größer. In einigen Fällen, so zum Beispiel in China, nahm die Ungleichheit um mehr als das Doppelte zu.

Die Verringerung der globalen Ungleichheit vergrößert also die Kluft zwischen den durchschnittlichen Wachstumsraten Asiens und der reichen Welt und erhöht sowohl in der reichen Welt als auch in Asien die Ungleichheit innerhalb der Länder. Daher ist es technisch durchaus möglich, dass die Ungleichheit in praktisch allen Ländern zunimmt, während die globale Ungleichheit geringer wird – und in der gegenwärtigen Globalisierungsphase ist das tatsächlich geschehen. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass diese beiden Resultate – abnehmende Ungleichheit in der Welt und zunehmende Ungleichheit in den einzelnen Ländern – das Ergebnis desselben Globalisierungsprozesses ist: Die Globalisierung ermöglicht den armen Ländern ein rascheres Wachstum als den reichen, vergrößert gleichzeitig jedoch die Einkommenskluft zwischen den Angehörigen ein und derselben Gesellschaft. Der zweite Effekt kann größeren Eindruck auf die Einwohner eines Landes machen, selbst wenn das erste Resultat für die Welt als ganze und für das Wohlergehen der Menschheit wichtiger sein dürfte.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Globalisierung, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Die Globalisierung führt definitionsgemäß zur leichteren und letzten Endes ungehinderten Bewegung von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Technologie und Ideen zwischen verschiedenen Weltregionen. Eine Welt ohne Grenzen ist das eigentliche Ziel der Globalisierung. Aber es gibt einen Produktionsfaktor, der sehr viel weniger mobil ist. Gemeint ist die Arbeit. Während fast 40 Prozent des globalen Finanzvermögens in den Ländern der Welt in ausländischer Hand sind, leben nicht einmal 4 Prozent der Weltbevölkerung an einem Ort außerhalb ihres Geburtslands. Bei diesem Aspekt der Globalisierung beobachten wir in jüngster Zeit eine Veränderung: Die Zahl der Migranten und Flüchtlinge ist deutlich gestiegen.

Wir müssen jedoch begreifen, dass der Migrationsdruck, den Europa in diesen Tagen spürt, das Ergebnis der gewaltigen Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der verschiedenen Länder (eine unserer drei Arten von Ungleichheit) und ein Produkt der Globalisierung selbst ist, hat sie doch den Bevölkerungen der armen Länder deutlich vor Augen geführt, wie groß diese Einkommensunterschiede sind, und gleichzeitig die Bewegung der Menschen von einem Land ins andere erleichtert und verbilligt. Da die Angleichung der sehr unterschiedlichen Einkommen selbst dann, wenn die armen Länder auch in Zukunft schneller wachsen als die reichen, mindestens fünf bis sechs Generationen dauern wird, ist der Migrationsdruck auf Europa kein einmaliges Phänomen: Er wird mindestens ein Jahrhundert anhalten. Er ist Teil der Struktur der heutigen Weltwirtschaft: Große Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder gehen mit einer erleichterten (wenn auch nicht unbedingt legalen) Bewegung von Land zu Land einher. Wenn wir verstehen, dass die Migration ein dauerhaftes Phänomen ist, können wir leichter Konzepte entwickeln, die dem Ideal einer grenzenlosen Welt entsprechen (welches ein impliziter Bestandteil der Globalisierung ist) und gleichzeitig auf die Sorgen der einheimischen Bevölkerung eingehen und die Migration politisch möglich machen.

Deutschland erlebt möglicherweise einen entscheidenden Moment in seiner Geschichte, in dem die Herausforderungen der Bewegungsfreiheit von Kapital und Arbeit in Europa durch zwei zusätzliche Herausforderungen ergänzt werden. Da ist zunächst die Herausforderung der ungehinderten weltweiten Kapitalbewegungen, die den deutschen Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, billiger zu produzieren, indem sie ausländische Arbeitskräfte (und damit keine deutschen Arbeitskräfte) beschäftigen, und den Bürgern die Möglichkeit gibt, die Bewegungsfreiheit des Kapitals zu nutzen, um keine Steuern zu zahlen. Sodann ist das Land mit der Herausforderung der Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU konfrontiert, die ein Ergebnis der großen Einkommensunterschiede ist. Die Globalisierung, die der Menschheit als ganzer nutzt, erzeugt auf diese Art erhebliche Spannungen innerhalb der einzelnen Gesellschaften.

Ich hoffe, dass der Leser das Buch und insbesondere die Skizzen interessant und unterhaltsam finden wird. Und ich hoffe, dieses Buch wird dem Leser dabei helfen, die Welt und die Zeit, in der wir leben, in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten: Wir leben weder in einem goldenen Zeitalter in einer „einzigen“ vernetzten Welt noch an einem düsteren Ort, der kurz davor steht, in einem weiteren dunklen Zeitalter der gesellschaftlichen und nationalen Spaltung zu versinken.

Branko Milanović

In New York, 23. September 2016

Haben und Nichthaben

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